Dear Sister 1 - Schattenerwachen

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Ich ließ meine Finger langsam unter sein T-Shirt gleiten und streichelte über seinen warmen und durchtrainierten Bauch. Er war seit Schulbeginn Mitglied in der Schulfußballmannschaft und dazu auch noch ihr bester Torwart. Obwohl ich Schulveranstaltungen normalerweise aus dem Weg ging, hatte ich bisher keines seiner Spiele verpasst. Ich feuerte ihn nicht wie die anderen Mädchen an, sondern saß still auf einer Bank und beobachtete ihn einfach das ganze Spiel über. Ich mochte den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht und die Bewegungen, mit denen er sich warm hielt. Es machte mich glücklich, ihn einfach nur in seinem Element zu sehen und zu wissen, dass er nur mir gehörte.

Ich presste mich dicht gegen ihn, sodass seine Hand gar nicht anders konnte, als auf meiner Brust zu landen. Erst schien er unbeholfen, doch dann schob er mir langsam den Träger meines Kleides über die Schulter. Ich wollte mehr. Am liebsten hätte ich mir das Kleid selbst über den Kopf gestreift, aber das wäre nicht sehr stilvoll gewesen. Es war seine Aufgabe und ich würde mich gedulden, bis er soweit war. Dafür war es auch meine Aufgabe, ihn zu entkleiden und so zog ich ihm sein T-Shirt über den Kopf. Es war schließlich nicht verboten, den Anfang zu machen. Mein Mut schien auch ihn zu beflügeln, denn seine Hände suchten auf meinem Rücken nach dem Reißverschluss meines Kleides. Er fand ihn schnell und zog ihn langsam und verführerisch nach unten. Wie von selbst glitt ich aus dem Kleid. Es war eine Erleichterung, denn mir war schon jetzt unglaublich heiß.

Wahrscheinlich klebten mir meine Haare schon wieder am Kopf fest wie Spaghetti und womöglich stank ich unter den Achseln nach Schweiß. Ich hätte eben doch duschen sollen. Am Anfang hatte ich immer gewollt, dass alles perfekt war, aber mittlerweile nutze ich jede Möglichkeit, die sich mir bot.

Ich versuchte nicht daran zu denken, aber als seine Hände an meinen Armen entlangglitten, erfasste mich erneut Panik. Was, wenn er etwas riechen würde? Vielleicht würde ja etwas Parfum helfen, um mich sicherer zu fühlen. Schnell wand ich mich aus seiner Umarmung.

„Ich bin gleich wieder da“, flüsterte ich und rannte förmlich ins Bad. Dort griff ich automatisch nach meinem Parfum, doch ich hielt in der Bewegung inne, als mein Blick auf Elizas Parfümflaschensammlung fiel. Während ich seit meinem zwölften Geburtstag immer wieder denselben Duft benutzte, der sowohl fruchtig als auch seifig roch, hatte Eliza über die Jahre ein ganzes Meer an Fläschchen angesammelt. Sie mochte schwere Düfte, angereichert mit weißem Moschus, Opium oder Sandelholz. Ihr Geschmack schien mir für diesen Anlass passender als mein eigener klein Mädchenduft. Schnell stellte ich meinen rosa Flakon zurück in das Regal und griff stattdessen nach einem Fläschchen aus rotem Glas mit goldenem Verschluss. Ich sprühte mir den Duft sowohl auf den Hals als auch auf mein Dekolleté und verteilte schließlich auch noch ein paar kleine Spritzer unter den Armen und auf meinen Handgelenken. Es roch nach geballter Weiblichkeit und Sex. Aufgeregt riss ich die Badezimmertür auf und stürmte zurück zu Lucas ins Schlafzimmer. Er saß auf meinem Bett und hielt ein zerknittertes Stück Papier in den Händen: Elizas Brief. Vorwurfsvoll blickte er auf.

„Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie dir geschrieben hat?“

„Ich dachte, es sei nicht wichtig“, stotterte ich und ließ mich neben ihm auf das Bett sinken.

Erbost fuhr er zu mir herum. „Nicht wichtig? Sie ist deine Schwester, verdammt.“

Er fluchte sonst nie und erhob auch nie die Stimme. So war er nur, wenn es um Eliza ging. Dahin waren die Stimmung und meine Pläne für heute Abend und schon wieder hatte meine Schwester Schuld daran.

„Sie wird früher oder später schon wieder zurückkommen.“

„Es geht ihr nicht gut“, erwiderte Lucas ernst und dabei lagen tiefe Sorgenfalten auf seiner Stirn.

„Sie ist in Amerika. Wahrscheinlich ist sie wie immer pleite, aber sie kommt zurecht. Das tut sie immer.“

„Dieses Mal ist es anders. Das spüre ich.“

Ich stieß wütend Luft durch meine Zähne. „Sie ist abgehauen. Sie interessiert sich einen Scheiß für uns. Du solltest nicht einmal an sie denken.“

Er schüttelte vehement den Kopf. „Aber du solltest an sie denken. Ich kann nicht verstehen, dass du dich nicht um sie sorgst. Es kommt mir fast so vor, als wärst du froh, dass sie weg ist und würdest gar nicht wollen, dass sie zurückkommt.“

Ich fühlte mich ertappt. Vielleicht war es so. Und wenn schon, Eliza war meist eine schreckliche Schwester gewesen. Gerade dafür, dass sie auch noch die Ältere von uns beiden war. Sie hätte mir ein Vorbild sein sollen. Sie hätte auf mich aufpassen sollen. Stattdessen hatte sie mir häufig nur Probleme gemacht. Alles in meinem Leben drehte sich immer nur um sie. Selbst jetzt, wo sie weg war oder gerade weil sie weg war.

Ich streichelte Lucas versöhnlich über den nackten Oberarm. „Vielleicht hast du recht. Ich hätte mir mehr Gedanken darüber machen sollen. Es tut mir leid.“

Ich wollte ihn gerade auf die Wange küssen, da drehte er seinen Kopf weg.

„Ich gehe jetzt lieber wieder rüber“, sagte er hart und griff nach seinem T-Shirt, welches hinter mir auf dem Bett lag. Ich hielt ihn an seinem Unterarm fest.

„Bitte geh nicht!“, bat ich ihn, während ich in Unterwäsche vor ihm saß. Das durfte er mir nicht antun. Heute sollte doch die Nacht der Nächte sein. Unsere Nacht. Er zögerte einen Moment, dann sah er mir entschuldigend in die Augen und ich wusste, dass ich verloren hatte. Also ließ ich ihn sein T-Shirt nehmen und blickte stattdessen zu Boden, um die Tränen in meinen Augen zu verbergen.

„Mir tut es auch leid“, sagte Lucas und küsste mich auf den Kopf, so wie meine Eltern zuvor. Dann ging er. Ich saß wie erstarrt da, bis ich die Tür ins Schloss fallen hörte. Dann ließ ich endlich meinen Tränen freien Lauf und schmiss mich laut schluchzend auf das zerwühlte Laken. Dass nun mein ganzes Bett nach Lucas roch, machte es nicht besser. Ich hasste meine Schwester. Obwohl sie nicht da war, zerstörte sie mein Leben. Sie war wie ein Fluch, der ständig über mir schwebte. Immer, wenn es gerade gut lief, schlug sie zu.

3. Winter

Es kam zwar selten vor, dass ich mit meiner Einschätzung falsch lag, aber wenn, dann war ich meistens ganz glücklich darüber. Denn letztendlich war ich froh, dass ich mit meiner generell negativen Einstellung nicht immer ins Schwarze traf. So war es auch mit der Wette zwischen Dairine und mir gewesen. Der Ausflug nach London fand statt. Gerade jetzt kam er mir mehr als recht. Nach dem verpatzten Freitagabend mit Lucas hatten wir uns das ganze Wochenende nicht gesehen, was fast an ein Wunder grenzte, wenn man bedachte, dass wir nebeneinander wohnten. Doch ich konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen, nachdem er mich nur mit Unterwäsche bekleidet hatte sitzen lassen. Deshalb hatte ich mich auch die ganze Zeit im Haus verbarrikadiert. Mum merkte zwar, dass es mir nicht gut ging, aber sie schob es darauf, dass ich Eliza wohl sehr vermisste - so wie sie alle. Von wegen! Wenn es nach mir ging, konnte sie ruhig noch ein paar Jahre oder auch für immer in Amerika bleiben. Ich war mir ziemlich sicher, dass nicht der geringste Grund bestand, sich Sorgen um sie zu machen, auch wenn der Brief und Elizas Andeutungen zugegebenermaßen seltsam gewesen waren.

Aber Eliza ging es eigentlich immer gut, egal wo sie war, daran hatte ich keinen Zweifel.

Am Donnerstagmorgen fuhren wir erst mit dem Bus nach Dublin, um von dort aus mit der Fähre nach Liverpool überzusetzen. Danach ging es weiter mit dem Zug. Wir erreichten London und die Jugendherberge erst am späten Vormittag. Während der Großteil von uns am liebsten sofort in die Oxfordstreet zum Shoppen aufgebrochen wäre, hatte sich Mrs. Kelly ein straffes Kulturprogramm überlegt. Sie schleifte uns erst zum British Museum, danach in die National Gallery, wobei Carson nichts Besseres zu tun hatte, als ständig hinter ihrem Rücken Grimassen zu schneiden und sich dabei auch noch fotografieren zu lassen. Das hatte zur Folge, dass Mrs. Kelly permanent den Faden verlor und anfing zu stottern wie eine Erstklässlerin. Sie konnte einem nur leidtun. Nach einer letzten Führung durch den Buckingham Palace gab sie endlich auf und fuhr mit uns zurück in die Jugendherberge. Nachdem wir unser weniges Gepäck ausgepackt hatten, stürmten die anderen wie eine Horde wildgewordener Tiere aus dem Gebäude. Es herrschte die typische Klassenfahrtstimmung: eine Mischung aus Aufregung, pubertären Hormonen und zu geringem Selbstwertgefühl. Während die meisten meiner Mitschüler die Angewohnheit hatten, in einer großen Gruppe besonders laut und prahlend zu sein oder bei jedem zweiten Satz loszukichern, hielt ich mich noch mehr zurück als sonst. Ich mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen und tat alles, um es zu vermeiden.

„Wollen wir uns von den anderen absetzen?“, fragte Dairine, als hätte sie soeben meine Gedanken gelesen. Erleichtert nickte ich. Während unsere Mitschüler die Oxfordstreet entlangstürmten, bogen wir in eine der weniger besuchten Seitenstraßen ab. Dairine hielt vor einem kleinen Café mit Plastikstühlen und einer ehemals weißen, jetzt eher grauen Markise. Der Himmel sah nach Regen aus.

„Kaffee?“

„Warum nicht?“, zuckte ich desinteressiert mit den Schultern. Wir waren die einzigen Besucher in dem Café, sodass ich freie Platzwahl hatte. Deshalb setzte ich mich mitten unter die Markise, um so vor dem Regen geschützt zu sein. Dairine kam zwei Minuten später mit zwei dampfenden Pappbechern zurück. Sie drückte mir einen davon in die Hand.

„Wolltest du Milch oder Zucker?“

Der Kaffee war schwarz, genau so, wie ich ihn mochte. „Nein, schwarz ist perfekt.“

 

Dairine prostete mir mit ihrem ebenfalls schwarzen Kaffee zu. „Auf unsere schwarzen Seelen.“

Obwohl wir uns nun schon seit einigen Jahren kannten, fiel mir diese Gemeinsamkeit erst jetzt auf.

„Ich hoffe, du hast meinen Cocktail nicht vergessen“, erinnerte sie mich neckend.

„Würde ich nie wagen. Weißt du schon, in welchen Club du gehen willst? Die anderen wollen sicher auch irgendwohin.“

„Willst du dich ihnen denn anschließen?“, fragte Dairine und ich hörte schon an ihrer Tonlage, dass sie davon nur wenig begeistert wäre und überrascht war, dass ich überhaupt auf die Ideen zu kommen schien.

„Sehe ich aus, als wollte ich mich blamieren?“

Sie begann zu lachen. „Wie gut, dass wir uns gefunden haben. Ohne dich würde ich es mit den ganzen Chaoten nicht aushalten.“ So viel Zuneigung war für sie genauso ungewöhnlich wie für mich. Zwar wussten wir beide, wie froh wir waren, dass es die andere gab, aber wir sagten es uns sonst nie.

Ich lächelte sie schweigend an.

„Auf jeden Fall keine Großraumdisco“, griff Dairine das Thema wieder auf, bevor das Schweigen peinlich werden konnte.

„Eher ein kleiner Club, etwas abseits“, stimmte ich ihr zu.

„Wir verstehen uns“, grinste sie. „Wenn du mir jetzt noch erlaubst, dir ein bisschen Farbe ins Gesicht zu bringen, würde ich dich fast mal mit nach Colorado nehmen.“ Das war wohl schon fast als Kompliment zu werten.

Dairine arbeitete nach der Schule in einem Supermarkt in Wexford. Sie sparte ihren ganzen Verdienst, um sich damit so oft wie möglich einen Flug in ihre Heimat leisten zu können. Dort besuchte sie dann immer ihre richtigen Freunde, wie sie sagte. Sie hatte ihr Leben und ich meins, das war auch gut so.

Dairine hatte über ihr Handy einen kleinen Club in einer Parallelstraße des Picadilly Circus gefunden. Er nannte sich Black Rabbit und galt als Geheimtipp für Liebhaber der ruhigen Töne. Wir brachen um elf Uhr von der Jugendherberge auf. Wir hatten extra gewartet, bis die anderen alle verschwunden waren, um uns nicht einmal die Bahn mit ihnen teilen zu müssen. Sie waren wie üblich laut gewesen und bereits jetzt völlig betrunken. Mrs. Kelly zeigte sich nicht ein einziges Mal. Wir hatten den schweren Verdacht, dass sie sich vor uns versteckte, um keine Probleme zu bekommen.

Von der Haltestelle der U-Bahn aus waren es laut Dairines Handy noch fünfzehn Minuten bis zu der Bar. Sie führte uns von einer Seitenstraße zur nächsten, bis uns der Club nur zufällig anhand eines schwarzen Schildes mit weißer Schrift auffiel. Einst hatten die Buchstaben mal geleuchtet, doch heute flackerte nur noch abb von Rabbit schwach vor sich hin. Das Schild führte in einen düsteren Kellereingang.

„Und das ist echt ein Geheimtipp?“, fragte ich skeptisch. Der Schuppen erschien mir eher wie der Marktplatz für krumme Geschäfte jeglicher Art.

Dairine zuckte mit den Schultern. „Stand so im Internet.“

„Mir ist das hier nicht ganz geheuer. Lass uns wieder gehen.“

„Wir waren doch noch nicht einmal drinnen. Lass uns wenigstens mal reinschauen, wenn es uns nicht gefällt, können wir immer noch abhauen.“

„Wenn wir überhaupt reinkommen. Die müssen nur einmal nach unseren Ausweisen fragen und schon hat es sich sowieso erledigt“, gab ich ängstlich zu bedenken.

Dairine grinste mich frech an. „Du benimmst dich ja schon wie Mrs. Kelly. Vielleicht hättest du dich lieber mit ihr unter dem Bett verstecken sollen.“

„Haha“, maulte ich genervt. „Für mich sieht das jedenfalls wie der perfekte Ort für einen Mörder aus, um sein nächstes Opfer auszuwählen.“

„Jetzt übertreib nicht“, wies mich Dairine zurecht, nahm meinen Arm und zog mich die dunkle Treppe hinunter zu der grauen Stahltür. Sie war nur angelehnt und aus dem Inneren drang die Melodie eines langsamen Gitarrensongs.

Bevor ich die Flucht hätte ergreifen können, drückte Dairine die Tür auf und trat hinein. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Kein Türsteher weit und breit! Ich fühlte mich wie ein verängstigtes Dorfmädchen, während Dairine zielstrebig hinter dem schweren Samtvorhang hervortrat. Es gab etwa ein Dutzend kleiner runder Tische und eine Bank, die rund um die Bar verlief. Dort saßen vielleicht vier Personen, die sich still miteinander oder dem Barkeeper unterhielten. Auf der kleinen Bühne stand ein Mann in schwarzer Lederkleidung und langen braunen Haaren und spielte auf seiner Gitarre, während er der Welt von seinem grausamen Schicksal vorsang. Es lebe das Selbstmitleid!

Ich musste jedoch zugeben, dass die Stimmung ganz angenehm war. Kein lautes Geschrei, kein Gekicher, keine Bässe, die einem das Trommelfell wegsprengten und keine aufdringlichen Flirtversuche betrunkener Halbwüchsiger. Wir wählten einen Tisch, von dem aus wir die Bühne gut betrachten konnten. Kaum dass wir saßen, kam auch schon eine Bedienung mit kurzem schwarzem Stoppelhaar.

„Was darf es für euch sein, Mädels?“

„Sie schuldet mir einen Cocktail“, erwiderte Dairine und deutete dabei auf mich, ungehindert dessen, dass wir nie im Leben als einundzwanzig durchgingen.

„Was für einer soll es denn sein?“, fragte die Bardame jedoch ungerührt. Offenbar nahm man das Gesetz hier nicht allzu genau.

Ich kannte mich nicht aus und sah deshalb Hilfe suchend zu Dairine, doch sie blickte wie gebannt auf die Bühne.

„Was kannst du uns denn empfehlen?“

„Die Grinsekatze ist unsere Spezialität.“

„Dann nehmen wir den zweimal.“

Die Grinsekatze war ein schwarzes Getränk, das in tiefen Gläsern serviert wurde, bei denen die Oberfläche der Flüssigkeit mit blauen Flammen bedeckt war. Der Drink sah nicht nur gefährlich aus, sondern war es auch. Ich wollte lieber gar nicht wissen, woraus er bestand. Skeptisch pustete ich die Flammen aus und nahm den ersten Schluck. Erstaunlicherweise schmeckte es viel besser, als ich gedacht hatte. Irgendwie nach Lakritz.

Wir unterhielten uns ein wenig, bis der Gitarrist seine Show beendete und einen Platz an der Bar einnahm. Mittlerweile hatte sich der Laden etwas gefüllt und die nächsten Künstler betraten die Bühne. Dieses Mal war es eine richtige Band.

„Ich finde den Gitarristen echt scharf. Hast du etwas dagegen, wenn ich mich kurz zu ihm an die Bar setze? Nur Nummern austauschen und so.“ Sie sah mich bittend an. Eigentlich war es mir nicht recht, dass sie mich alleine an unserem Tisch zurücklassen wollte, aber ich wollte auch keine Spaßbremse sein und eigentlich fühlte ich mich seit der Grinsekatze auch seltsam gelöst.

„Geh ruhig“, antwortete ich deshalb und wendete meinen Blick bereits von ihr ab. Ich sah der Band weiter beim Aufbau ihrer Instrumente zu.

Als mein Glas leer war, bestellte ich mir noch ein zweites. Es schmeckte nicht nach Alkohol und würde daher schon nicht zu stark sein. Die Band begann zu spielen. Es war eine schnelle und laute Musik, die ich normalerweise verabscheut hätte. Aber heute drang der Rhythmus geradezu in meinen Körper ein und ließ mich im Takt mitwippen. Offenbar handelte es sich bei der Band um eine Art Hauptakt, denn plötzlich war der Club so voll, dass ich von meinem Platz aus nichts mehr sehen konnte, weder die Band noch Dairine an der Bar. Ich stand auf, um nach ihr zu sehen. Erst da bemerkte ich, wie zittrige meine Beine waren. Sie fühlten sich an wie Gummi und ich konnte mich kaum darauf halten, ohne zu schwanken. Vorsichtig drängte ich mich durch die Menge und war froh, als ich die Bar endlich erreicht hatte. Um mich herum schien sich alles zu drehen und ich musste mich richtiggehend konzentrieren, um scharf sehen zu können. Es war wie eine endlose Karussellfahrt. Dairine stand nicht mehr an der Bar. Nur der Gitarrist war noch da und blickte neugierig in meine Richtung. Ich klammerte mich an den Tresen, während ich auf ihn zuwankte.

„Hey, alles okay bei dir? Du siehst nicht gut aus“, erkundigte er sich freundlich. Ich starrte ihm ins Gesicht und versuchte zu erkennen, was er für eine Augenfarbe hatte, aber alles verschwamm vor meinen Augen zu einem einzigen beigefarbenen Strudel.

„Wo ist meine Freundin?“, stieß ich hervor. Was war denn nur los mit mir?

„Kurz auf die Toilette. Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser?“

Ohne ihm zu antworteten, tastete ich mich an der Wand entlang in die Richtung, in der ich die Toiletten vermutete. Ich stieß die erste Tür auf und kippte förmlich in das Innere. Vor mir breiteten sich schwarz-weiße Fliesen aus, die mich an ein Schachbrett erinnerten. War ich hier richtig?

Ein lauter Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken.

„Verfolgst du mich etwa?! Ich habe dir bereits gesagt, dass es mir leidtut.“

„Das reicht nicht“, zischte eine männliche Stimme voller Wut.

„Was erwartest du von mir? Soll ich Selbstmord begehen?!“, erwiderte die Frau ungerührt. Ihre Stimme kam mir so vertraut vor. Die Art, wie sie sprach, vermittelte das Gefühl, als wäre ihr der andere gleichgültig und nicht einmal würdig, dass sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Hochnäsig und arrogant. Ich kannte nur eine Person, die in der Lage war, ihrem Gegenüber derart das Gefühl zu geben, nichts wert zu sein.

Ich tastete mich vorsichtig vorwärts, um die beiden Personen sehen zu können.

„Selbst das wäre nicht genug.“

„Was willst du dann von mir, verdammt noch mal?“, schrie die Frau aufgebracht und ich hörte, wie sie mit der Hand auf ihn einschlug.

„Von dir? Rein gar nichts. Du bist nicht mehr wert als der Dreck unter deinen Fingernägeln. Aber ich werde dir nehmen, was du mir genommen hast.“

Die beiden standen zwischen Tür und Angel einer Toilettenkabine. Die Frau darin und der Mann davor, sodass mir die Sicht auf die Frau verdeckt wurde. Der Mann trug eine abgewetzte Lederjacke und dazu Jeans. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Haare. Sie waren fast weiß. Er versperrte der Frau den Weg, doch als er mich bemerkte, wich er erschrocken zurück. Offenbar hatte er nicht mit Zuschauern gerechnet. Die Frau nutzte die Gelegenheit, um aus der Kabine zu fliehen, doch sobald sie mich sah, erstarrte sie ebenfalls.

Es war Eliza.

Mir wurde heiß und kalt zugleich und ich sah wie der Boden immer näher kam. Ich spürte den Aufprall, schnappte nach Luft und dann wurde alles schwarz.

Das Erste, was ich sah, als ich wieder zu mir kam, war ein Strudel aus bunten Farben, bis ich erkannte, dass es Dairines verschiedenfarbige Haarsträhnen waren. Sie kniete neben mir auf dem Boden und sah besorgt auf mich herunter. Neben ihr standen der Gitarrist und die Kellnerin, die ein Glas Wasser in der Hand hielt.

„Sie soll sich mal langsam aufsetzen“, schlug der Musiker vor, so, als wäre ich gar nicht da.

Dairines Hand lag beruhigend auf meiner Schulter. „Meinst du, du kannst dich aufsetzen?“

Ich nickte und ließ mir von ihr in eine aufrechte Position helfen. Mein Kopf pochte und sobald ich die Augen schloss, fing sich alles erneut an zu drehen. Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Ich war ohnmächtig geworden, nachdem ich … ELIZA! Ich war schlagartig hellwach. Ich hatte meine Schwester gesehen!

Ungeachtet meiner Kopfschmerzen sah ich mich hektisch in alle Richtungen nach ihr um.

„Was ist denn los?“, fragte Dairine erschrocken, während die anderen beiden mich anstarrten, als hätte ich den Verstand verloren.

„Ich hab Eliza gesehen“, stieß ich aus. Dairine wusste natürlich wie alle anderen Menschen in Wexford und der Umgebung von dem Verschwinden meiner Schwester, aber ich sprach sonst nie mit ihr darüber, auch sonst sprach ich nur mit Lucas über meine Schwester und das ungern. Sie runzelte nun zweifelnd die Stirn. „Bist du dir sicher?“

„Als wir reingekommen sind, warst du allein“, fügte der Gitarrist hinzu und musterte mich skeptisch.

„Sie war nicht alleine. Ein Mann mit hellblonden Haaren war bei ihr“, erinnerte ich mich und sah verzweifelt zu der Kellnerin, in der Hoffnung, sie würde sich an ihn erinnern. Die Haare des Typen waren so auffällig gewesen, dass sie ihn einfach gesehen haben musste. Doch sie schüttelte auch nur verständnislos den Kopf.

„Manchmal, wenn man jemanden sehr vermisst, dann träumt man …“, setzte Dairine vorsichtig an, doch ich unterbrach sie abrupt. „Ich vermisse Eliza nicht und ich habe mir das auch nicht eingebildet!“

Die Kellnerin reichte mir das Glas Wasser und wandte sich an Dairine: „Am besten bringst du deine Freundin nach Hause.“

 

Dairine nickte und blickte entschuldigend den Gitarristen an, der sich nun aufrichtete. „Du hast ja meine Nummer“, zwinkerte er ihr zu, bevor er zusammen mit der Kellnerin die Toilette verließ.

Ich trank hastig das Wasser leer. Auf der einen Seite ärgerte ich mich über Dairine, weil sie mir nicht glaubte, aber auf der anderen Seite verstand ich sie. Ich an ihrer Stelle hätte mir auch nicht geglaubt, zudem hatte ich ihr den Abend mit dem Gitarristen versaut. Doch Dairine schien nicht sauer auf mich zu sein, denn sie half mir wortlos auf die Beine und schob mich danach aus dem vollen Club. Sobald die kühle Nachtluft mein Gesicht berührte, hatte ich schon selbst Zweifel daran, was ich gesehen hatte. An allem war nur die verdammte Grinsekatze schuld!

Dairine erzählte niemandem von meinem Zusammenbruch und erwähnte ihn am nächsten Tag auch nicht mehr mir gegenüber. Trotzdem ging mir der Vorfall nicht mehr aus dem Kopf und ich versuchte mich während der Heimfahrt mit dem Bus krampfhaft daran zu erinnern, was ich gesehen und gehört hatte. Der Mann mit den hellblonden Haaren war in Elizas Alter gewesen und passte eindeutig in ihr Beuteschema, da er mit einem Wort zu beschreiben war: rebellisch.

Doch sie hatten eindeutig einen Streit gehabt. Eliza hatte irgendetwas getan, wofür der Mann sich an ihr rächen wollte. Das war nichts Ungewöhnliches. Eliza machte sich ständig Feinde. Aber was machte sie überhaupt in London? Ihr Brief kam doch aus Amerika. Das passte einfach nicht zusammen.

Der Bus fuhr gerade in den Hauptbahnhof von Wexford ein, als Dairine mich grinsend anstieß und aus dem Fenster deutete. Verwirrt sah ich an ihr vorbei durch die Scheibe und vergaß sofort alle Gedanken. Ich hatte erwartet, dass meine Eltern mich abholen würden, aber stattdessen stand dort Lucas mit einer großen Sonnenblume in der Hand. Mein Herz machte einen großen Satz in meiner Brust.

Ich hörte meine Mitschülerinnen aufgeregt tuscheln. Sie hatten ihn mittlerweile alle bemerkt und ich wettete, jede von ihnen hätte nur zu gern mit mir getauscht. Aber Lucas war nur meinetwegen da. Eine Woge der Zuneigung überkam mich, sodass ich die Erste war, die aus dem Bus stürmte. Lucas brauchte nichts zu sagen, ich wollte nicht über unseren sinnlosen Streit sprechen. Stattdessen schmiss ich mich stürmisch in seine geöffneten Arme und lachte aus vollem Hals. Er küsste mich erst aufs Haar und als ich den Kopf hob auch auf meinen Mund, ungeachtet der vielen neidischen Blicke. Lucas schien davon gar nichts mitzubekommen und ich genoss seinen Kuss umso mehr. Er gehörte zu mir und daran würde niemand etwas ändern können.

Mit einem zufriedenen Lächeln nahm ich ihm die Sonnenblume aus der Hand, während er meinen Koffer aus dem Gepäckfach des Buses hob. Händchen haltend gingen wir zu dem alten Pick-up seiner Eltern. Ganz Gentleman hielt er mir die Tür auf. Grinsend machte ich einen Knicks, bevor ich einstieg.

Lucas lief um das Auto herum und nahm hinter dem Steuer Platz, bevor er den knatternden Motor startete. Wir fuhren vom Parkplatz, während ich lächelnd zwischen Lucas und der Sonnenblume hin und her sah. Lucas bemerkte meinen Blick und erwiderte: „Rosen fand ich zu langweilig für dich!“

Er kannte mich manchmal besser als ich mich selbst. Er war eben nicht nur mein fester Freund, sondern auch mein bester Freund. Ich liebte ihn für diese kleinen Aufmerksamkeiten. „Die Sonnenblume ist perfekt!“

Lucas grinste zufrieden, während wir von der viel befahrenen Hauptstraße auf den kleinen Trampelpfad, der mitten durch die Wiesen und Felder führte, in Richtung Slade’s Castle abbogen. „Wie war‘s in London?“

Sofort dachte ich erneut an Eliza. Wenn ich Lucas von meinem Erlebnis erzählte, würde er mir vermutlich glauben. Alleine schon deshalb, weil er wollte, dass Eliza zurückkam. Doch mir war meine Zeit mit ihm zu wertvoll, um über meine ältere Schwester zu sprechen. „Ganz okay“, erwiderte ich deshalb nur nichtssagend. „Mit dir wäre es schöner gewesen“, fügte ich schnell lächelnd hinzu. Lucas begann zu lachen und meinte: „Wir können ja bald mal zusammen hinfahren, wenn deine Eltern es erlauben.“

Ich grinste ihn an. „Solange du bei mir bist, erlauben sie mir alles. Du weißt doch, dass sie dich vergöttern.“

Zufrieden sah ich, wie Lucas‘ Wangen erröteten. „Ich würde auch nie etwas tun, das dich in Gefahr bringen könnte.“

So war mein Lucas: fürsorglich und verantwortungsvoll. Manchmal zog ich ihn deshalb damit auf, dass er spießig sei, aber eigentlich liebte ich ihn dafür nur noch mehr. Einer von uns musste schließlich der Vernünftige sein.