Die Toten vom Petritorwall

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Kapitel 4

Bredels Zugehfrau saß aufrecht in ihrem Bett und weinte.

„Bitte entschuldigen Sie!“ Sie schluchzte.

Gaby hörte einen leichten polnischen Akzent.

„Das ist alles zu viel für mich. Ich habe noch nie etwas so Schreckliches erlebt. Das viele Blut!“

Sie griff nach einem Taschentuch, das auf dem Nachttisch lag, und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Frau Pawlak“, begann Gaby vorsichtig, „wir müssen Ihnen einige Fragen stellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“

Die junge Frau nickte. „Fragen Sie! Ich will, dass sie den Kerl schnappen, der Herrn Bredel ermordet hat. Er war so ein guter Mensch. Wer tut so etwas bloß?“ Sie begann wieder zu schluchzen. Gaby sah Norbert an, dann wandte sie sich wieder der Zeugin zu.

„Frau Pawlak, besaß Herr Bredel ein Porzellanservice von Meißen?“

„Er hatte ein Service für sechs Personen. Die große Feldblume mit zwei Nebenblumen. Herr Bredel hat es seiner Frau zur Silberhochzeit geschenkt. Das hat er mir mal erzählt. Das Service steht in der Vitrine in der Küche.“

„Nein, Frau Pawlak, da steht es nicht. Die Vitrine in der Küche ist leer. Haben Sie eine Vorstellung, wo es sein könnte?“ Norberts Stimme war nun lauter geworden.

Aleksandra Pawlak starrte ihn verwundert an. Dann schüttelte sie den Kopf.

„Wo soll es denn sein? Es hat immer da gestanden.“

„Das würden wir gern von Ihnen wissen“, antwortete er.

Gaby drehte sich zu ihm um und sah ihn streng an.

„Oh, nein, so brauchen Sie mir nicht zu kommen!“

Auf Alexandra Pawlaks Stirn hatte sich eine tiefe Zornesfalte gebildet.

„Ich kenne die Vorurteile, die man gegenüber uns Polen hat. Kaum beim Polen, schon gestohlen. Ich habe das Service nicht genommen. Sie können gern sofort mein Haus durchsuchen.“

„Wir müssen diese Fragen stellen, Frau Pawlak.“

Gaby legte ihr beschwichtigend die Hand auf den linken Unterarm.

„Das ist Ermittlungsroutine. Sie dürfen es meinem Kollegen nicht verübeln.“

Die junge Frau nickte verständnisvoll, sah aber noch immer verärgert aus.

„Vielleicht war nach dem Mord jemand in seiner Wohnung.“

„Haben Sie eine Idee, wer das gewesen sein könnte?“

„Vielleicht sein jüngster Sohn, Michael. Herr Bredel und er standen sich nicht sehr nahe. Michael ist Künstler. Seinem Vater war das ein Dorn im Auge. Er hat ihm - wie sagt man? - den Geldhahn zugedreht. Er wollte ihn erst dann wieder unterstützen, wenn er etwas Anständiges gelernt hätte. Vielleicht hat er das Porzellan genommen, um es zu verkaufen. Er braucht ständig Geld.“

„Was ist Michael Bredel denn für ein Künstler?“

„Er ist Maler und Bildhauer. Die Skulptur im Bürgerpark ist von ihm. Das war der einzige öffentliche Auftrag, den er je bekommen hat. Nicht einmal zu ihrer Enthüllung ist Herr Bredel gekommen, obwohl sein Sohn ihn eingeladen hatte. Das hat Michael sehr verletzt. Er hatte gehofft, dass er durch den öffentlichen Auftrag endlich die Anerkennung seines Vaters bekommt. Damals hat er mir unendlich leid getan. Es war das einzige Mal, dass ich auf Herrn Bredel böse gewesen bin, und das habe ich ihm auch gesagt. Aber das hat ihn völlig kalt gelassen. Er sagte nur, das sei eine Familienangelegenheit und gehe mich nichts an. Sonst hat Michael nur kleine Sachen verkauft, ein paar Bilder hier und da. Von der Kunst allein kann er nicht leben, er hat nebenbei einen Job als Kurierfahrer.“

„Wo?“

„Ich glaube, bei DHL. Aber es kann auch UPS sein, ich bin nicht sicher.“

„Und seine Tochter? Wie war das Verhältnis von Wolfgang Bredel zu ihr?“

Frau Pawlak zögerte, bevor sie mit verächtlicher Miene antwortete.

„Sie war sein Augenstern. Alles drehte sich nur um Dorothea. Sie hat BWL studiert und mit Auszeichnung ihren Abschluss gemacht.“

„Sie mögen sie nicht besonders?“

Norberts Frage war eher eine Feststellung. Aleksandra Pawlak nickte.

„Sie ist hochmütig und eiskalt. Sie nimmt sich alles, was sie will, ohne Rücksicht. Ich bin froh, dass ich nicht so viel mit ihr zu tun habe.“

„Seit wann waren Sie in Bredels Diensten?“

„Ich habe seit vier Jahren für ihn geputzt. Er hat mich sehr gut bezahlt. Fünfzehn Euro pro Stunde! So viel hat mir noch nie jemand gezahlt.“

Norbert sah sie prüfend an.

„Mussten Sie dafür irgendetwas Besonderes tun?“

Aleksandra Pawlak schnappte empört nach Luft.

„Falls Sie damit sagen wollen, ob ich ihm sexuell zu Diensten sein musste, frage ich mich, was für eine schmutzige Phantasie Sie haben! Der Mann war bereits über Achtzig, als ich bei ihm anfing, ich war Anfang Dreißig. Und ich bin verheiratet und habe mit meinem Mann zwei Kinder. Ich bin doch keine Anna Nicole Smith!“

In der Klatschpresse kannte sie sich immerhin gut aus. Gaby war beeindruckt. Norbert sah die junge Frau freundlich an.

„Wie meine Kollegin schon sagte, Frau Pawlak, wir müssen diese Fragen stellen. Natürlich ist mir klar, dass Sie nichts mit Herrn Bredel hatten, aber wenn ich Ihnen diese Frage nicht stellen würde, wäre das ein Versäumnis. Ich wollte Ihnen wirklich nicht zu nahe treten. Es muss doch auch in Ihrem Interesse sein, dass wir Sie als Verdächtige ausschließen können.“

Wieder nickte Aleksandra Pawlak verständnisvoll. Und wieder begann sie zu weinen.

„Wissen Sie, ich hatte noch nie mit der Polizei zu tun. Ich weiß nicht, was jetzt aus mir wird. Ich muss mir einen neuen Job suchen, wahrscheinlich sogar zwei, denn niemand wird mich so gut bezahlen wie Herr Bredel. Mein Mann und ich haben gerade ein Haus gekauft. Wir brauchen jeden Cent. Verstehen Sie, dass ich Angst habe?“

Sie tupfte sich erneut die Augen trocken. Gaby legte ihr in Hand auf den Arm. „Die Reinigungsfirma, die bei uns saubermacht, sucht gerade nach neuen Kräften. Vielleicht können Sie sich dort bewerben.“

Aleksandra Pawlak nickte.

„Ich werde es versuchen. Ich brauche ganz schnell etwas Neues.“

Zwei Tage zuvor

Mit klopfendem Herzen saß er in seinem Wagen. Die Jacke, die er vor der Wohnungstür seines Opfers deponiert hatte, verdeckte nun die Blutspuren auf seinem T-Shirt. Er würde beides irgendwo entsorgen müssen. Bloß nicht bei sich zu Hause! Heutzutage konnte man mit der DNA-Analyse sofort herausfinden, woher das Blut stammte. Er würde sich zu Hause umziehen, Jacke und T-Shirt in eine Plastiktüte packen und dann in den Wald fahren und es vergraben. Er startete den Wagen und machte sich auf die anderthalbstündige Fahrt von Braunschweig nach Magdeburg. Dabei passte er auf, nicht die vorgegebene Geschwindigkeit zu überschreiten, um nicht in eine Radarfalle zu geraten. Zu oft hatte er das in Fernsehkrimis gesehen, dass Mörder durch Geschwindigkeitsmessungen überführt wurden. Ihm würde das nicht passieren. Niemals sollten sie darauf kommen, dass er diesem verfluchten Schwein das Licht ausgeblasen hatte. Er fühlte, wie ihn eine Welle der Genugtuung durchströmte. Jetzt bloß nicht zu euphorisch werden und doch noch einen Fehler machen, ermahnte er sich.

Vor sich sah er die Silhouette der Landeshauptstadt. Es würde nun nicht mehr lange dauern, bis er zu Hause war. Noch einmal ließ er im Geiste den Vormittag Revue passieren. Bis zum Schluss hatte er gezweifelt. Er hatte immer ein anständiger Mensch sein wollen, trotz der schlimmen Dinge, die ihm seine Kindheit und die gesamte Jugend vermiest hatten. Doch dann war ihm an seinem Arbeitsplatz im Verteilungszentrum in Osterweddingen das Paket mit dem Namen und der Adresse von Wolfgang Bredel in die Hände gefallen. Da war alles wieder hochgekommen. Die ständige Angst, dass es wieder passieren würde. Er hatte sich nie sicher fühlen können. Einmal hatte er versucht, sich seiner Mutter anzuvertrauen, doch alles, was er als Antwort erhalten hatte, war eine heftige Ohrfeige gewesen. Er solle nie wieder solch einen Dreck erzählen, hatte sie zu ihm gesagt. Sie hatte ihm gedroht, dass er nicht mehr ihr Sohn wäre, wenn er noch einmal etwas so Schreckliches über seinen Vater erzählen würde. Sein Vater, der es doch nur gut meinte. Sein Vater, der sich in der LPG krummlegte, um die Familie zu ernähren. Danach hatte er geschwiegen. Und es ertragen. Irgendwann war er ins Heim gekommen. Er hatte sich gefreut, seinem Peiniger endlich entkommen zu sein, doch auf Heldenburg war es weitergegangen und viel schlimmer als zuvor. Mit achtzehn war er entlassen worden. Seine Eltern sah er lange nicht wieder. Bis eines Tages seine Mutter vor der Tür stand. Er hatte nie ergründen können, wie sie ihn ausfindig gemacht hatte. Sie hatte einen Brief seines Vaters in der Hand gehalten und ihm überreicht. Er hatte ihn genommen und die Tür schließen wollen. Doch sie hatte ihren Fuß dazwischengestellt. Dein Vater ist tot, hatte sie gesagt. Es war ihm gleichgültig gewesen. Der Brief lag lange Zeit ungeöffnet in seiner Nachttischschublade. Erst Jahre später hatte er ihn gelesen. Es war ein langer Brief. Sein Vater hatte ihn um Verzeihung gebeten. Und er hatte ihm den Grund für sein Verhalten genannt. Es änderte nichts. Sein Leben war zerstört. Und dann hatte er vor zwei Tagen dieses Paket in den Händen gehalten. Wolfgang Bredel. Er konnte nicht anders. Er musste handeln. Und er hatte gehandelt.

Sonntag, 24. Dezember 1944, Heiligabend

Feierlich saßen die Arbeitskräfte von Fritz Heckner in der Gutsküche. Der Volksempfänger spielte Stille Nacht und alle sangen andächtig mit. Kurt Bremer lächelte glücklich in sich hinein. Er beobachtete August Joost, den Großknecht, mit seinen sechs zum Teil schon erwachsenen Kindern. Emmi, seine Jüngste, war gerade vierzehn geworden. Sein Sohn Heinrich sah ihn an. Dann legte er seinen Kopf an die Schulter seines Vaters und Bremer strich ihm liebevoll übers Haar. Seit der Rückkehr zu seiner Familie war er nicht mehr so glücklich gewesen. Wie gut sie es doch getroffen hatten! Am Vormittag hatte es eine Weihnachtsfeier mit der Herrschaft und ihren Kindern gegeben. Jede Familie hatte einen frischen Laib Brot erhalten, das Ida Heckner selbst gebacken hatte, und jeder Mann eine Flasche Bier. Die jüngeren Kinder hatten ein Spielzeug bekommen, die Jugendlichen freuten sich über die Bücher, die Ida Heckner liebevoll ausgesucht hatte. Die Gutsherrin hatte die Sachen auf dem Schwarzmarkt in Strehlen erstanden, denn in den Geschäften konnte man schon lange nur noch das Notwendigste kaufen. Ida Heckner kannte jedes der Kinder, die sie größtenteils hatte aufwachsen sehen, und wusste um ihre Interessen. Heinrich hatte ein kleines Spielzeugauto bekommen. Es war das erste Mal, dass Kurts Sohn ein Weihnachtsgeschenk erhalten hatte, das nicht für den täglich Gebrauch gedacht war, sondern einfach nur Freude machte. Er sah, wie der Junge schützend das Auto mit den Händen umschloss, während er mit heller Stimme die Weihnachtslieder sang. Er kannte alle Texte. Hedwig hatte oft mit ihm gesungen. Das hatte ein bisschen die Sorgen vertrieben, als der Vater an der Front war.

 

Als Kurt einen Blick zur Küchentür warf, sah er, dass diese sich bewegte. Jemand schien die Landarbeiter und ihre Familien zu beobachten. Heinrich hatte es offenbar ebenfalls bemerkt und sah seinen Vater an. Als Kurt Bremer erneut zur Tür blickte, war sie geschlossen. Vielleicht hatten sie einfach zu laut gesungen, und jemand hatte sie zugemacht. Im nächsten Moment hatte er den Vorfall schon wieder vergessen. Gustl Joosts Frau Elfriede hatte gemeinsam mit zwei anderen Landarbeiterfrauen das Weihnachtsessen zubereitet. Fritz Heckner hatte eine eigene Fasanenjagd, und so konnte der ganze Hof zu Heiligabend mit dem Geflügel versorgt werden. Elfriede Joost hatte einen großen Topf Rotkohl gekocht, dazu Kartoffeln und Sauce. Kurt Bremer aß, wie er noch nie in seinem Leben gegessen hatte, und sein Sohn tat es ihm gleich.

„Dir wird gleich der Bauch platzen, wenn du noch mehr futterst.“

Lachend wuschelte er Heinrich durchs Haar.

„Ach, Vati, lass mich doch!“

Plötzlich stand er auf und rannte zur Tür, während er sich würgend den Mund zuhielt. Kurt Bremer konnte aus dem Fenster der Gutsküche erkennen, wie sein Sohn in Richtung Plumpsklo rannte. Schade um das schöne Essen, dachte er bei sich. Mittlerweile war die Stimmung in der Küche auf dem Höhepunkt. Man hatte von getragenen Weihnachtsliedern zu fröhlichen Wanderliedern gewechselt. Einer der Landarbeiter besaß eine Fiedel und begleitete den Chor mit kratzenden, schrägen Tönen. Plötzlich hörten sie draußen einen lauten, langanhaltenden Schrei. Heinrich! dachte Bremer und stürzte hinaus zum Plumpsklo. Er fand seinen Sohn verzweifelt schluchzend und zusammengekauert vor der hölzernen Tür des Örtchens. Kurt Bremer umschlang ihn mit seinen Armen und hielt ihn fest, doch der Junge konnte sich lange nicht beruhigen.

„Mein Auto, mein Auto!“ schluchzte er immer wieder.

„Was ist passiert?“

Langsam beruhigte sich der Junge.

„Es ist mir ins Plumpsklo gefallen.“ Traurig senkte er den Kopf.

„Wie kann denn so etwas passieren?“

„Es ist mir aus der Hosentasche gerutscht.“

Irgendetwas schien den Jungen zu bedrücken, denn er sah seinem Vater nicht in die Augen.

„Du hättest besser aufpassen müssen“, erwiderte Bremer strenger, als er eigentlich wollte, „nun hast du eben keines mehr. Die Herrschaft wird dir sicher kein neues kaufen.“

Heinrich nickte, den Kopf noch immer gesenkt.

„Na komm, lass uns wieder in die Küche gehen! Du holst dir ja den Tod in dieser Kälte.“

Er legte den Arm um Heinrichs Schultern und dirigierte ihn zurück zur Gutsküche. Aus den Augenwinkeln sah er Rüdiger hämisch grinsend an der Haustür lehnen. Er blieb stehen und sah ihn ernst an, woraufhin der Sohn des Gutsherren sich umdrehte und im Herrenhaus verschwand. Kurt Bremer begriff, dass sein Sohn ihm nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Sonntag, 13. Mai 2018

Gaby und ihr Kollege Max Kaltofen schlugen fast gleichzeitig die Türen des Dienstfahrzeugs zu, mit dem sie zum Petritorwall gefahren waren. Der Todeszeitpunkt von Wolfgang Bredel war inzwischen auf Himmelfahrt zwischen elf und dreizehn Uhr festgelegt worden. Sie klingelte im Erdgeschoss von Haus Nummer Dreizehn. Durch die Gegensprechanlage hörten sie die heisere Stimme einer älteren Frau.

„Kriminalpolizei Braunschweig, mein Name ist Hauptkommissarin Gaby Brandt. Wir möchten Sie zu Ihrem Nachbarn Herrn Bredel befragen. Würden Sie bitte die Tür öffnen?“

Sie hörten ein Summen und drückten gegen die schwere, geschnitzte Tür aus Nussbaumholz, die sich daraufhin öffnete. Sie stiegen einige Stufen hinauf, um zu der Etagenwohnung im Erdgeschoss zu gelangen. In der Wohnungstür stand eine ältere Frau, Gaby schätzte ihr Alter auf Anfang bis Mitte Siebzig. Sie hatte große Lockenwickler in den Haaren und trug einen weißen Morgenmantel aus Frottee.

„Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung“, begann sie, „das ist mein Kollege Kommissar Max Kaltofen. Gestatten Sie, dass wir einen Moment hereinkom-men?“

Wortlos ging die Frau beiseite und ließ die Ermittler eintreten. Sie führte sie in das geräumige Wohnzimmer, das von der Einteilung dem Wolfgang Bredels ähnelte. Auch die Einrichtung unterschied sich kaum von der des Opfers. Überall standen antike Möbel und Kinkerlitzchen herum. Das Zimmer war rechteckig und hatte an der Seite zur Straße drei hohe, oben gebogene Fenster. An den Rahmen befestigte Scheibengardinen verhinderten allzu neugierige Blicke von außen. Die Fensterbänke waren völlig mit großen und kleinen Blumentöpfen bedeckt, in denen eine Vielzahl verschiedener Pflanzen wucherte. Gaby fragte sich, wozu die Frau bei diesem Urwald noch Scheibengardinen benötigte. Die Bewohnerin bemerkte ihren Blick.

„Die Gardinen verhindern, dass die Scheiben durch die Pflanzen blind werden“, erklärte sie, „ich persönlich finde es nicht besonders schön, aber neues Fensterglas ist teuer.“

Sie bot den Ermittlern Platz an und verschwand dann. Als sie zurückkam, hatte sie sich ein schlichtes Kostüm angezogen und trug Feinstrümpfe. Die Lockenwickler waren aus ihrem Haar verschwunden, und sie hatte sich frisiert. Dann ging sie in die geräumige Wohnküche und kehrte kurze Zeit später mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kanne mit duftendem Kaffee stand, sowie eine Schale mit selbst gebackenen Keksen. Max bekam große Augen.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die Frau, nachdem sie beiden Kaffee eingeschenkt und sich ebenfalls gesetzt hatte.

„Frau Wally Albrecht, richtig?“, fragte Max.

Die Frau nickte. „Ja, das ist korrekt. Bitte greifen Sie doch zu! Ich habe die Plätzchen gerade aus dem Backofen geholt. Sie müssten noch warm sein. Ich bekomme nicht sehr oft Besuch. Und heute ist mein Geburtstag. Der sechsundachtzigste.“

Gaby sah sie verwundert an. Sie hatte sie deutlich jünger geschätzt. Wally Albrecht fuhr fort.

„Als mein Mann noch lebte, sind wir zu meinem Geburtstag immer verreist. Letztes Jahr ist er verstorben. Krebs, Sie verstehen? War nichts mehr zu machen. Mein Sohn lebt weit weg in Amerika. Er hat zwei Kinder, Jim und Molly. Ich habe die Kleine erst viermal gesehen. Sie ist inzwischen auch schon sechzehn. Jürgen nennt sich jetzt John. Er schickt mir immer Fotos von den Kindern. Ja, so ist das manchmal im Leben. Zum Glück hat mein Mann mich gut versorgt, und meine Rente habe ich auch noch. Ich gehöre also nicht zu den Rentnerinnen, die der Altersarmut anheimgefallen sind. Entschuldigen Sie, ich quatsche schon wieder zu viel. Wolfgang hat mir das schon so oft gesagt. Nun ist er auch nicht mehr da.“ Wally Albrecht nahm ihre Kaffeetasse und trank einen Schluck.

„Wie gut kannten Sie Wolfgang Bredel?“

Gaby griff ebenfalls nach ihrer Tasse und nippte daran. Der Kaffee war heiß und duftete köstlich.

„Wir kannten uns schon ewig. Wir sind damals gemeinsam aus Niederschlesien vertrieben worden und haben uns dann in Bad Kösen wiedergetroffen. Bevor nichts mehr ging, sind unsere Familien aus der Ostzone geflohen. Und schließlich sind wir alle in Braunschweig gelandet. Wolfgang und ich haben uns niemals für länger aus den Augen verloren.“

„Waren Sie mal ein Paar?“

„Aber nein, was denken Sie denn? Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Auch wenn er ein Jahr älter war als ich. Ich glaube, es passiert sehr selten, dass daraus eine Beziehung wird.“

„Was war Wolfgang Bredel für ein Mensch?“

Gaby hatte sich einen Keks genommen und es bereitete ihr Mühe, mit vollem Mund ihre Frage auszusprechen.

„Na ja, er war sehr charmant und vor allem bei den Mädchen des Dorfes äußerst beliebt. Aber er war auch ein kleiner Frechdachs. Er hat es geliebt, die Kinder von den Landarbeitern zu ärgern.

Als wir dann irgendwann alle in Braunschweig gelandet waren, hat er bald das Busunternehmen gegründet. Bredel Busreisen, falls Ihnen das was sagt. Ich habe dort als seine rechte Hand gearbeitet, als Sekretärin, Prokuristin und sonst noch alles mögliche. Ich war sein Mädchen für alles. Er hat mich gut dafür bezahlt. Und als vor über zwanzig Jahren die Firma verkauft wurde, war ich im Rentenalter. Das hat perfekt gepasst. Mein Mann und ich hatten noch viele schöne Jahre, bevor er krank wurde. Die letzten zwei Jahre habe ich ihn gepflegt. Ich sage so etwas nicht gern, aber sein Tod war auch für mich eine Erlösung.“

Sie nahm wieder einen Schluck Kaffee und steckte sich einen Keks in den Mund. „Ein altes Geheimrezept meiner Mutter“, erklärte sie kauend, „sie konnte unglaublich gut backen.“

„Ja, sie sind wirklich köstlich“, bestätigte Max.

Gaby hatte heimlich mitgezählt, wie viele er schon gegessen hatte. Es waren fünf.

„Können Sie sich vorstellen, wer Wolfgang Bredel ermordet haben könnte?“ fragte sie, nachdem sie erneut an ihrem Kaffee genippt hatte.

Die alte Dame dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete.

„Ich kenne eine Reihe von Leuten, die Wolfgang tot sehen wollten. Früher jedenfalls. Vor allem seine Angestellten. Die meisten haben ihn wirklich gehasst. Er war kein netter Chef, außer natürlich zu mir. Er hat sich nicht getraut, mit mir so umzuspringen. Aber mit den anderen schon. Vor allem die Busfahrer. Wolfgang war bei ihnen stockgeizig. Er hat gerade so viel bezahlt, wie er musste. Er sei kein Wohlfahrtsverband, hat er immer gesagt. Ich habe ihm ein paar Mal versucht, ins Gewissen zu reden. Hab ihn an seine Eltern erinnert, die ihre Arbeiter immer anständig behandelt haben. Aber da hat er nicht mit sich reden lassen. Zum Glück war seine Tochter noch zu jung, um den Laden zu übernehmen, als er verkauft wurde. Das hätte alles noch schlimmer gemacht. Wirklich, ich mochte Wolfgang gern, er war ein Primakerl. Aber als Chef war er ein Ekel.

Nachdem das Unternehmen verkauft worden war, sind die meisten dort geblieben. Ich habe einige von ihnen hin und wieder in der Stadt getroffen. Ich habe sie noch nie so glücklich gesehen.“

„Könnten Sie uns eine Mitarbeiterliste erstellen?“, fragte Max.

Wally Albrecht sah ihn groß an.

„Wie soll ich mich denn nach Jahrzehnten noch an alle erinnern? Wir hatten insgesamt zwanzig Angestellte und dreißig Fahrer, die Aushilfen nicht mitgerechnet. Aber wie die alle hießen, weiß ich nicht mehr. Ich glaube auch nicht, dass es einer von denen war.“

„Haben Sie einen Verdacht?“

„Ich will hier über niemanden etwas Schlechtes sagen, aber Sie sollten lieber in seinem direkten Umfeld nach dem Mörder suchen.“

„Frau Albrecht, können Sie uns einen Namen nennen?“

Gabys Frage klang ungeduldiger, als sie es gemeint hatte. Wally Albrecht beugte sich zu ihr, als befürchtete sie, dass ihr jemand Unbekanntes zuhören könnte. Sie senkte die Stimme, als sie sprach.

„Der Michael, Wolfgangs jüngster Sohn. Der hat ein echtes Motiv, wenn Sie mich fragen.“

„Wieso?“

„Michael hat nicht das aus sich gemacht, was sein Vater sich erträumt hat. Er ist Künstler. Maler und Bildhauer. Wolfgang wollte ihn enterben, weil er sich partout geweigert hat, einen anständigen Beruf zu ergreifen. Und außerdem…“

Wally Albrecht zögerte.

„Außerdem was?“

Gaby versuchte, ihre Ungeduld in Schach zu halten. Die alte Dame sah sich im Zimmer um, bevor sie weitersprach. Dann legte sie die Hand vor den Mund.

 

„Michael ist schwul“, flüsterte sie, wobei sie das letzte Wort langgezogen aussprach.

„Ich verstehe.“

Gaby Brandt und Max Kaltofen hatten wie aus einem Munde geantwortet.

„Hat der Sohn seinem Vater seine Veranlagung offenbart, oder hat Bredel anders davon erfahren?“, fragte sie weiter.

Wally Albrecht zögerte keine Sekunde mit der Antwort.

„Michael hätte seinem Vater niemals anvertraut, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt. Er hatte immer Angst vor Wolfgang. Ich kenne alle drei Kinder von klein auf. Johannes und Dorothea waren immer hart im Nehmen, so wie ihr Vater. Aber Michael war der Sensible. Er hat schon als Kind, aber auch später die Nähe zu seiner Mutter Ilse gesucht. Wolfgang hat ihr oft vorgeworfen, den Jungen zu verhätscheln. Als dann klar war, dass Michael homosexuell ist, hat Wolfgang ihr Jahrzehnte nach ihrem Tod die Schuld daran gegeben, weil sie ihn angeblich verweichlicht hatte. Dabei ist er als Kind von seiner Mutter genauso verwöhnt worden. Wolfgang war ein echtes Weichei, wie man heute sagt. Und wehe, er bekam nicht, was er wollte! Seine Eltern waren sicher die nettesten Menschen, die ich jemals kennen gelernt habe, aber bei der Erziehung ihres einzigen Kindes haben sie aus heutiger Sicht fatale Fehler gemacht. Er war das langersehnte Wunschkind. Die Mutter war schon über dreißig, als er geboren wurde, und der Vater war achtunddreißig. Heute ist so etwas ja normal, aber vor dem Zweiten Weltkrieg bekam man seine Kinder wesentlich früher. Der Vater war vor dem Krieg ein sehr wohlhabender Mann, und auch während des Krieges ging es den Eltern nicht schlecht. Wir haben in unserer Gegend bis zur Vertreibung nichts vom Krieg mitbekommen, außer dass hin und wieder Wehrmachtssoldaten unsere technischen Geräte geklaut haben. Früher nannte man das requirieren. Und wer auf einem Bauernhof oder gar einem Gut wohnte, hatte meist reichlich zu essen.“

„Können Sie sagen, wie Wolfgang Bredel von der Veranlagung seines Sohnes erfahren hat?“

„Na, und ob ich das kann!“

Die Antwort war prompt gekommen.

„Irgendwann hat Wolfgang an meiner Wohnungstür geklingelt. Er war außer sich vor Wut. Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis er in der Lage war, zu sagen, was ihn so rasend machte.“

„Und?“

Wally Albrecht holte tief Luft, bevor sie weitererzählte.

„Ich kann mich noch genau erinnern, was seine Worte waren.“

Sie sah die beiden Ermittler an.

„Er sagte: Mein Sohn ist ein perverses Schwein. Das hat er gesagt. Ich habe ihn gefragt, wie er das meint. Und dann hat er gesagt: Ich war heute bei dem neuen Herrenausstatter in der Fußgängerzone. Ich brauche einen neuen Anzug. Es war kein Verkäufer zu sehen, also bin ich zum Tresen gegangen, um einen Blick in den Raum dahinter zu werfen. Er war von einem Vorhang verdeckt, aber durch einen Spalt konnte ich erkennen, wie der Ladeninhaber sich leidenschaftlich mit einem Mann geküsst hat. Es war mein Sohn Michael, diese perverse Drecksau! So hat er sich ausgedrückt. Ich habe ihm erklärt, dass Homosexualität heutzutage keine Schande mehr sei, aber er hat mich gar nicht verstanden. Er sagte nur, zu Adolfs Zeiten wäre die Sau vergast worden. Er hat geschworen, seinen Sohn sofort zu enterben und den Kontakt zu ihm abzubrechen. Der ist für mich gestorben, hat er gesagt.“

„Wie lange ist das her?“

Max Kaltofen kaute bereits an seinem achten Keks.

„Oh, das ist gar nicht so lange her“, antwortete Wally Albrecht, „höchstens drei oder vier Wochen.“

„Und hat Wolfgang Bredel seine Drohung wahr gemacht?“

„Dazu ist er nicht mehr gekommen. Der Notartermin wäre nächste Woche gewesen.“

Gaby warf Max Kaltofen einen Blick zu, bevor sie ein letztes Mal das Wort ergriff.

„Vielen Dank, Frau Albrecht, Sie haben uns sehr geholfen.“

Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Patchworktasche und überreichte sie der alten Dame.

„Sie können mich jederzeit anrufen, falls Ihnen noch etwas einfällt. Mich oder Kommissar Kaltofen oder auch Hauptkommissar Norbert Wenger. Er leitet die Ermittlungen.“

Sie sah die alte Dame neugierig an.

„Sie haben einen interessanten Vornamen. Ist das eine Abkürzung?“

Wally Albrecht starrte sie an.

„Nein“, sagte sie dann kurz angebunden, „so habe ich immer geheißen. Wally. Das ist keine Abkürzung.“

Gaby und Max erhoben sich und gingen zur Tür. Sie bedankten sich für die Bewirtung und wünschten Wally Albrecht einen schönen Sonntag. Als sie wieder im Auto saßen, rief sie Norbert Wenger an und bat um die Adresse von Michael Bredel. Zwanzig Minuten später standen sie vor seiner Wohnungstür.

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