Stillerthal

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Matthis legte die kurze Strecke bis zum Hof zurück und grüßte sie.

«Hayda Lele!», sagte er, zog aufatmend die Kiepe vom Rücken und streckte sich.

Lele schaute versonnen auf.

«Hayda Matthis», antwortete sie und lächelte. «Brot und Käse stehen in der Stube, du brauchst dich nur bedienen. Ich habe auch Hornblattsalat gemacht, der wächst jetzt frisch.»

Matthis nickte und wollte gerade gehen, als sein Blick auf den Gegenstand fiel, der neben ihr auf der Bank lag. Es war ein aus Stoffstreifen kunstvoll gedrehtes Stück Tau, dessen beide Enden in zwei Schlaufen ausliefen, gerade groß genug, um eine Hand hindurchzuführen.

«Was ist das?», fragt er.

«Das ist ein Pandrum. Die Frauen in meinem Land verwenden es für die Geburt. Schon lange vor der eigentlichen Geburt wählen wir uns unseren Geburtsbaum. Wenn es soweit ist, suchen wir ihn auf, um das Kind zu gebären. Dafür werfen wir das Pandrum über einen Ast und hängen uns daran. So bleiben wir auch im größten Schmerz aufrecht.»

Matthis schwieg kurz, dann sagte er:

«Hier im Tal bekommen die Frauen die Kinder im Liegen.»

Lele nickte.

«Das habe ich gehört.»

«Ich kann die Heilerin bitten zu kommen.»

«Die Frau, die Annin empfohlen hat, ihren Bauch mit Urin einzureiben, damit es ein Junge wird? Nein danke!»

Matthis schwieg wieder.

«Du willst das Kind alleine zur Welt bringen?», fragte er zögernd.

Lele nickte und lächelte ihn zuversichtlich an.

«So will es die Tradition. Es ist die Hürde, die jede Frau nehmen muss, um den Schritt von der Ruwen zur Maruwen zu machen. Generationen von Frauen vor mir sind diesen Schritt gegangen. Ich werde ihn auch gehen.»

Matthis betrachtete sie einen Moment, dann nickte er.

«Dann gehe ich mir mal was zu essen holen.»

Kurz bevor er durch die Tür trat, drehte er sich noch einmal um.

«Hast du dir deinen Geburtsbaum schon gewählt?»

Lele zögerte kurz, schließlich sagte sie:

«Du kennst ihn. Es ist die Birke auf der kleinen Lichtung im Wald.»

Matthis nickte.

«Eine gute Wahl!», brummte er und verschwand im Haus.

Sein Gespür hatte ihn nicht getrogen. Als er am nächsten Tag in den frühen Morgenstunden aufstand, um auf die Alm zu gehen, hörte er Lele im Schlaf stöhnen. Ihre Zeit war gekommen. Matthis zögerte kurz, dann machte er sich auf den Weg hinauf zur Alm. Die Kühe duldeten keinen Aufschub. Aber er machte sich Sorgen. Lele hatte sich zuversichtlich gegeben, aber wahrscheinlich wusste sie wie er, dass es eine schwere Geburt werden würde. Ihr Körper hatte viel durchgemacht in diesem letzten Jahr – zu viel, um gut mit der Anstrengung der Geburt fertig zu werden. Und das aufrechte Gebären mit Hilfe des Pandrums würde für ihren linken Arm eine Tortur sein.

Als er von seinem Melkgang zurückkam, fand er das Haus wie erwartet verlassen vor. Auf dem Herd stand ein Topf Suppe und auf dem Tisch standen Teller und Löffel bereit. Er goss sich den Teller voll und setzte sich, um zu essen. Er hatte den Teller zur Hälfte leer, als er den ersten Schrei hörte. Danach war wieder Stille. Ruhig aß Matthis seinen Teller leer, stellte das Geschirr in den Ausguss und richtete eine Schüssel Salzwasser, um die Käselaibe abzuwischen. Dann ging er zum Felsenkeller der Käserei, in dem er seinen Käse lagerte. Der zweite Schrei begleitete ihn, als er den Keller betrat, der dritte begrüßte ihn, als er aus der kühlen Dunkelheit wieder ans Licht trat. Bald kamen die Schreie häufiger, sie begleiteten ihn über den Tag. Auf die Wiesen, wo er Disteln rupfte, auf die Felder, wo er Kompost aufbrachte, in den Gemüsegarten, wo er Unkraut jätete. Sie begleiteten ihn hinauf auf die Alm, als er am Nachmittag das zweite Mal zum Melken ging.

Erst als er zurückkam und keine Schreie mehr vernahm, suchte er Lele. Er fand sie am Fuße der Birke. Das hochgebundene Kleid und die Beine waren verkotet und blutverschmiert, die rotglibberige Nachgeburt schimmerte im Gras. Das Neugeborene lag neben ihr und wimmerte leise. Vorsichtig nahm Matthis das Kind auf und betrachtete es. Es war ein Mädchen. Es sah noch etwas bläulich und zerdrückt aus, ansonsten wirkte es gesund. Er wickelte das Kind in eines der Tücher, die Lele vorsorglich mitgebracht hatte. Dann inspizierte er die Nachgeburt. Er nickte, als er sah, dass sie vollständig war. Mit einem Stück Bruchholz grub er ein Loch am Fuße Birke, legte die Nachgeburt hinein und bedeckte sie mit Erde. Jetzt erst wandte er sich Lele zu.

«Maruwen!», sagte er anerkennend.

Er half ihr, die Hände aus den Schlaufen zu lösen, und stützte sie, als sie taumelte. Schließlich band er sich das Neugeborene auf den Rücken und führte Lele langsam zum Hof zurück.


Matthis hatte Lele geholfen sich zu waschen und ein frisches Hemd anzuziehen. Jetzt lag sie in ihrem Alkoven, noch immer überwältigt von dem Sturzbach der Gefühle, die der Tag gebracht hatte. Niemand hatte sie vorbereitet auf die Dimension des Geburtsschmerzes. Zu Hause hätten erfahrene Marimi sie Techniken gelehrt, den Schmerz wegzuatmen. Hier musste sie alleine mit den Wehen, die wie Messerstiche ihren Unterleib zerschnitten, fertig werden. Mit der Angst, das Kind könnte steckenbleiben und sie beide könnten einen qualvollen Tod erleiden. Die Wut, mit der sie ihre letzten Kräfte in die Presswehen fließen ließ, und der Stolz, als sie das Kind zur Welt gebracht hatte. Maruwen! Der respektvolle Ton, in dem Matthis dies gesagt hatte, klang noch in ihr nach.

Nachdenklich sah sie Matthis zu, der das Neugeborene auf den Küchentisch gelegt hatte und untersuchte. Beruhigend und leise redete er auf das kleine Wesen ein, während er es mit geübten Händen drehte und wendete. Lächelnd wandte er sich an Lele.

«Glückwunsch, Lele! Du hast eine kerngesunde Tochter zur Welt gebracht.»

«Du machst das gut», sagte sie. «Wo hast du das gelernt? Bei deiner Mutter?»

Matthis schüttelte den Kopf.

«Fast alles, was ich weiß, habe ich von den Kühen gelernt. Seit ich sieben oder acht war, war ich alleine für sie verantwortlich. Manchmal kam es vor, dass eine Jungkuh ihr Kalb nicht annahm oder nicht genug Milch hatte oder starb. Ich habe dann die Kälber großgezogen. Hab sie gefüttert und umsorgt. Dabei habe ich gelernt, wie sie denken. Sie sind so hilflos, wenn sie klein sind. Alles ist bedrohlich. Wenn der Magen wehtut, weil sie Hunger haben, wenn der Bauch wehtut, weil sie Koliken haben, wenn sie ängstlich sind, weil sie alleine sind. Dann muss man da sein, mit ihnen sprechen, ihnen das Gefühl geben, alles wird gut.»

Er nahm einen Lappen und massierte mit sanften, aber zügigen Bewegungen die Käseschmiere ein. Das Neugeborene protestierte lauthals gegen die Behandlung. Matthis ließ sich nicht beirren. Schließlich gab er etwas Salbe auf den frischen Nabel, dann windelte er das Kind und wickelte es in ein weiches Wolltuch ein. Er reichte es Lele.

«Du musste es jetzt anlegen, das regt den Milchfluss an.»

Lele band ihr Hemd auf und legte das Neugeborene an. Sofort verstummte das Geschrei und die Kleine begann zu saugen.

Matthis nickte zufrieden. Er wusch Leles verschmutztes Kleid und die dreckigen Tücher aus und hängte sie zum Trocknen an das Holzgestänge über dem Herd. Dann wandte er sich wieder Lele zu. Er deutete auf das Kind.

«Es braucht einen Namen.»

Lele nickte. Sie schaute auf das kleine Mädchen an ihrer Brust. Die fast weiße Haut, der helle Flaum auf dem Kopf, die kleinen, zu Fäusten geballten Hände. Noch etwas, auf das sie niemand vorbereitet hatte: dass das größte Glück mit dem größten Schmerz zusammenfallen konnte. Nun war es entlassen, dieses Geschöpf, das sie mehr liebte als sich selbst. Entlassen in sein eigenes Leben. In welches Schicksal, das wusste nur Aoum. Zart strich sie über die weichen Wangen.

«Aeolin», flüsterte sie mit rauer Stimme. «Stern, der im Dunkel leuchtet.» Sie lauschte dem Klang des Namens, nickte. «Aeolin», sagte sie laut, wie um sich des Versprechens, das der Name ihres Kindes enthielt, zu versichern. Sie wandte den Kopf, damit Matthis die Tränen nicht sah.

Ein Waldbauernhof war kein Ort, an dem man lange im Bett liegen konnte. Lele wusste das. So stand sie trotz den dumpfen Schmerzen im Unterleib und dem fast tauben linken Arm, der brannte, als würde er in Flammen stehen, am nächsten Morgen kurz nach Matthis auf, kochte die Frühsuppe, ließ die Hühner aus dem Stall und fütterte sie, jätete Unkraut im Gemüsegarten und brachte reifen Dung auf. Am Nachmittag suchte sie die frisch gelegten Eier, erntete Gemüse für das Abendmahl und kochte. Wenn die Kleine schrie, nahm sie sie hoch, band ihr Kleid auf und legte sie an.

Eigentlich war alles gut. Sie hatte Schmerzen und war noch schwach, zeigte aber keine Anzeichen einer Infektion. Aeolin war gesund und hatte einen kräftigen Zug. Dennoch fühlte sich Lele unruhig und getrieben. Als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. In der Nacht lag sie wach und konnte nicht schlafen. Ruhelos lauschte sie dem leisen Schnorcheln der ruhig schlafenden Aeolin und Matthis’ entspannten, flachen Atemzügen aus dem Nachbaralkoven.

In der Zeit zwischen Mitternacht und Morgen hatte sie ein seltsames Erlebnis. Eine Art Wachtraum. Sie ging einen finsteren, engen Gang entlang. Der Gang lag totenstill und verlassen, dennoch hatte sie Todesangst. Immer wieder sah sie sich um und lauschte, aber außer ihren eigenen schweren Atemzügen war nichts zu hören. Und dann war der Gang zu Ende, verschlossen durch eine schwere Holztür. Nur eine kleine Holzklappe, die als Durchreiche gedacht war, stand offen. Zwei schwarze, mandelförmige Augen blickten hindurch, so als suchten sie etwas. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurden. Der dunkle, forschende Blick fiel auf sie selbst, Lele. Ein schwarzes Augenpaar senkte sich in ihr dunkelblaues Paar Augen. «Komm», sagten sie.

 

Lele schälte sich vorsichtig unter ihrer Decke hervor. Sie schritt durch die Stube und trat ans Fenster. Der fast volle Mond beschien das Land und verwandelte es in ein Gemälde aus Schwarz und Weiß. Suchend ließ sie ihren Blick über die Wirtschaftsgebäude, den Gemüsegarten und die fahl im Mondlicht schimmernden Weiden und Getreidefelder schweifen. Sie entdeckte sie an der Mündung des Wegs, der zur Alm hoch führte. Die in dunkle Schleier gekleidete Gestalt hob sich schwarz von der hellgrauen Wiese ab. In gespannter Erwartung blickte sie zu ihr hinüber. Nun schien sie zu bemerken, dass sie gesehen wurde. Sie hob kurz winkend den Arm, dann verschwand sie im Dunkel der Bäume.

Lele wankte. Sie krallte sich am Fensterbrett fest, um nicht zu fallen. Die Erkenntnis, dass sie die Gestalt kannte, kam über sie wie ein Donnerschlag. Der dunkle Schleier, der sich über ihre Flucht gelegt und den sie so bereitwillig akzeptiert hatte, riss und gab die Erinnerung frei.

Wie durch ein Wunder war sie dem unfassbaren Morden entkommen. Schwer verletzt, aber am Leben. Sie hatte die verborgene Tür zu den Fluchtgängen geöffnet und die unterirdische Welt betreten. Sie sah sich durch die fast vergessenen Flure hetzen bis dorthin, wo die Holztüre mit der Klappe den Gang verschloss. Anders als in ihrem Wachtraum öffnete sich die Tür und eine in dunkle Schleier gekleidete Gestalt winkte sie zu sich. Sie folgte ihr durch lichtlose, in den Fels gehauene Gänge, bis sie weit oben in den Bergen wieder ins Tageslicht traten. Sie sah sich selbst, wie sie dem Sterben nah auf dem schmalen Pfad im Gebirge lag. Sie krümmte sich vor Schmerzen, hatte viel Blut verloren und war am Verdursten. Wie durch Nebel sah sie die Gestalt auf sich zukommen. Sie strich mit der Hand über den verletzten Arm, flößte ihr ein süßes und warmes Getränk ein. Ein anderes Mal waren es die Augen, die sich in der Dunkelheit über sie beugten, sie weckten und zum Weitergehen ermunterten und sie so vor dem Erfrieren retteten. An vielen Stellen war der Alte Pass kaum mehr zu erkennen. Doch immer wenn sie nicht mehr weiter wusste, wenn sie sich verirrt hatte, zeigte sich in der Ferne die verschleierte Gestalt und führte sie auf den Weg zurück.

Lele zog ihre Schuhe an, schlang sich ihr Tuch um die Schultern und ging nach draußen. Ohne zu zögern trat sie in die mondschattige Dunkelheit der Bäume und folgte dem Pfad, der in Serpentinen den Bergwald hinauf zur Matthisalm führte. Schwer atmend und erschöpft trat sie schließlich aus dem niederen Gehölz am Rande der Baumgrenze hinaus auf die Alm.

Hier oben beleuchtete der Mond ungehindert die weiten Hochweiden. Das kleine Almgebäude und die dunklen Leiber der schlafenden Kühe zeichneten sich deutlich gegen die hellen Wiesen ab. Suchend blickte sie sich um. Endlich sah sie die Gestalt; sie stand oben bei den beiden Wächterbäumen. Dort, wo Matthis sie entdeckt hatte, dort, wo sie ihr verlorenes Amulett wiedergefunden hatte. Leles Herz klopfte. Von der Anstrengung des Aufstiegs und vor Aufregung. Würde sie ihren Retter, ihre Retterin kennenlernen? Eilig stieg sie das letzte Stück bergan.

Ihre Hoffnung auf ein Kennenlernen wurde enttäuscht. Kurz bevor sie die beiden Bäume erreichte, hob ihr verschleierter Führer den Arm, deutete ein kurzes Winken an, dann war er im schwarzen Schatten zwischen den beiden Bäume verschwunden. Eine Antwort auf die Frage, warum sie hier hoch geführt worden war, fand sie dennoch. Als sie sich atemlos am Fuße der beiden Bäume auf die Knie niederließ und durch den schmalen Spalt zwischen den beiden Bäumen blickte, durch den ihr Führer verschwunden war, enthüllte sich ihr das «Wahre Tor». Im letzten Licht des untergehenden Mondes sah sie den unscheinbaren Riss, der die undurchdringlich wirkende Felswand teilte. Plötzlich fiel er ihr wieder ein, der alte Vers aus dem Buch des Zweiten Zuges. «Den Stolzen zeigt sich der Himmel, den Demütigen zeigt sich der Weg.» Nur wer kniend hier durchsah, fand die verborgene Passage zum Alten Pass. Die Bäume waren in der Tat Wächter, aber sie bewachten nicht das Tal, sondern den Alten Pass. Sie waren das Tor, durch das man gehen musste, um den Weg über die Berge zu finden.

Und noch etwas anderes fand sie. Einen neugeborenen Knaben. Das Kind lag nackt und schlafend zwischen den Wurzeln der beiden Bäume, in einem Nest aus Farnkraut. Mit seiner dunklen Haut und dem schwarzen Haarflaum sah es fast selbst wie ein Teil des Baumes aus. Selige Ruhe lag auf seinem Gesicht, als gäbe es nichts zu fürchten auf der Welt. Um den Hals des Kindes hing eine silberfarbene Kette mit einem muschelförmigen Amulett. Lele stockte der Atem, als sie den Anhänger sah. Unwillkürlich fasste sie an den eigenen Anhänger, den sie schon verloren geglaubt und dann wiedergefunden hatte. Vorsichtig nahm sie ihn vom Hals und hielt ihn neben den Anhänger des Kindes. Die fein ziselierten Arabesken beider Anhänger griffen ineinander, als hätten sie schon immer zueinander gehört. Aus zwei Muscheln war ein Zweidrittelkreis entstanden, der den oberen Teil eines Baumes darstellte. Die gewundenen und verzweigten Äste waren verziert mit schlankem Blattwerk, aber nur eine Seite des Baumes trug volles Laub und Frucht. Stumm starrte sie auf das Geschmeide in ihrer Hand, dann küsste sie es und führte es an Stirn und Herz.

Schließlich beugte sie sich hinab und nahm das Kind vorsichtig auf. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, ein kurzes Seufzen, dann fiel es wieder in tiefen Schlaf. So gut es ging, band sich Lele das Kind mit ihrem Tuch auf den Rücken und machte sich auf den Heimweg.

Matthis stand mit der weinenden Aeolin auf dem Arm im frühen Dämmerlicht vor dem Haus und schaute ihr entgegen. Seine Haltung zeigte eine Mischung aus Ärger und Besorgnis. Lele eilte zu ihm.

«Was …», begann er mit zorniger Stimme, führte seine Frage aber nicht zu Ende. Verwirrt starrte er auf das Kind, das ihm Lele in den Arm drückte. Lele band sich das Kleid auf, nahm die schreiende Aeolin und legte sie an. Sofort kehrte Stille ein.

Matthis schaute ratlos zwischen ihr und dem Kind auf seinem Arm hin und her.

«Was ist passiert?», fragte er schließlich.

«Ich habe ihn gefunden», sagte sie, noch atemlos von dem Marsch. «Oben bei den Wächterbäumen. Ich hatte … eine Vision», fuhr sie vorsichtig fort, um nicht zu viel preiszugeben. «Das drängende Gefühl, etwas verloren zu haben, das ich dort oben finden würde. Ich musste hoch!»

Nachdenklich schaute er sie an, nickte schließlich. Er betrachtete das Kind in seinen Armen.

«Bei den Bäumen hast du ihn gefunden. Ein kleiner Tannenschössling also.»

«Er kann doch hier bleiben?», fragte Lele. Matthis war der Herr über den Hof, die Entscheidung lag bei ihm. Matthis zögerte einen Moment, dann nickte er.

«Der Matthishof wird ihn schon ernähren können.»

Vorsichtig legte er das Kind auf die Bank neben Lele und holte sich Stock und Kiepe.

«Ich muss zu den Kühen, bin schon spät dran», brummte er und eilte davon.

Sie nannten den Knaben Tann, nach dem Ort, an dem Lele ihn gefunden hatte. Von ihrem unbekannten Führer erzählte Lele nichts. Matthis fragte auch nicht nach. Er schien akzeptiert zu haben, dass seine Gefährtin ein Geheimnis umgab. Das Amulett ließ Lele ebenfalls unerwähnt. Noch am selben Morgen, als Matthis oben bei den Kühen war, trennte sie eine Naht ihres Kopfkissens auf, wickelte die beiden Amulettteile in ein Stück Stoff, versteckte sie zwischen den Federn und schloss die Naht. Erst danach atmete sie auf. Das Vorgefallene hatte eine Ahnung in ihr wachgerufen, die jedoch noch zu vage war, um darüber zu sprechen. Besser war es, die Dinge erst einmal auf sich beruhen zu lassen. Aber sie nahm sich vor, wachsam zu bleiben.


Zwei Vogeleier und drei schöne Kekkerschwanzfedern – Vince war mit seiner Ausbeute zufrieden. Gut gelaunt stapfte er den Weg zum Matthishof hoch. Der Vater hatte ihn geschickt. Klara, ihre beste Milchkuh, sollte kalben, aber es ging nicht vorwärts. Entweder sie muhte oder sie stand apathisch im Koben. Matthis’ Künste waren gefragt.

Vince fand es schade, dass er nicht mehr Kuhbub auf dem Matthishof sein konnte.

«Tut mir leid, Vince, aber wenn das Kind da ist, sind wir zu dritt, da wird die Stube zu klein für einen Kuhbuben», hatte Matthis gesagt.

«Ich kann im Stall schlafen», hatte er vorgeschlagen.

Matthis hatte gelacht und ihm das Haar verstrubbelt.

«Vince, du hast gelernt, was du lernen solltest. Kümmere dich lieber um die Kühe deines Vaters, die können eine liebevolle Hand gebrauchen.»

Damit hatte er recht. Sein Vater war oft ungeduldig und hart mit den Kühen. Vince war stolz, dass Matthis überzeugt war, dass er es besser konnte, und hatte sich gefügt. Trotzdem war er froh, mal wieder auf den Hof hochzukommen – und noch dazu auf Anweisung des Vaters!

Eigentlich hatte er vorgehabt sich anzuschleichen, aber das ging nicht. Die fremde Frau saß vor dem Wohnhaus. Sie hatte ihn schon gesehen und nickte ihm zu. Sie hatte das Kleid aufgebunden und an jeder Brust lag ein Baby. Vince blieb verunsichert stehen.

«Komm ruhig, du störst nicht», sagte die Frau.

Vince näherte sich. Er starrte auf die beiden Säuglinge.

«Zwei?», fragte er verblüfft.

Lele nickte.

«Zwillinge», erklärte sie.

«Aber …», stotterte Vince, «die sind ja ganz verschieden!»

Verwirrt starrte er auf den braunen und den weißen Kopf.

«Ja, das kommt vor. Suchst du Matthis?»

Vince betrachtete noch immer fassungslos die beiden ungleichen Neugeborenen. Fast hätte er vergessen, warum er gekommen war. «Ja!», nickte er. «Vater schickt mich. Klara hat Probleme mit dem Kalben. Sie quält sich schon seit Tagen, aber nichts passiert.»

Die Frau nickte.

«Das ist schlimm. Matthis ist noch oben auf der Alm, aber sobald er runterkommt, schicke ich ihn zu euch. Vielleicht liegt das Kälbchen falsch.»

Vince starrte sie an. Seit wann verstand sie etwas von Kühen? Wie immer fühlte er sich unwohl in ihrer Nähe, hatte das Gefühl, ungenügend zu sein. Daher nickte er nur vage.

«Willst du was trinken oder essen? Geh nur rein in die Stube und bediene dich, du weißt ja, wo alles steht.»

Vince schüttelte den Kopf.

«Ich muss gleich zurück, Vater erwartet mich. Haday!»

Damit machte er kehrt und eilte ins Dorf zurück. Die Leute würden staunen, was er zu erzählen hatte!

Vinces Vater stand vor dem Hackklotz, in der einen Hand das Beil, in der anderen ein aufgeregt flatterndes Huhn.

«Und?», fragte er barsch.

«Matthis kommt, sobald er von der Alm zurück ist», beeilte sich Vince zu sagen. Er fürchtete seinen Vater, wenn dieser schlecht gelaunt war, und das war er gerade.

«Ich hoffe, er trödelt nicht», brummte Vindis. «Noch ein halber Tag und sie krepiert uns!»

Vince verbiss sich die Bemerkung, dass er ja schon früher nach Matthis hätte rufen können. Stattdessen zeigte er auf das flatternde Huhn in seines Vaters Hand. «Es mag nicht, wenn es so mit dem Kopf nach unten hängt. Kannst du es nicht anders halten?»

Vindis warf einen kurzen Blick auf das Huhn.

«Wenn es dir nicht gefällt, dann mach es das nächste Mal selbst», knurrte er, klatschte das Huhn auf den Hackklotz und hieb ihm mit wuchtigem Schlag den Kopf ab. Amüsiert schaute er zu, wie das kopflose Huhn blutspritzend über den Hof flatterte, bevor es tot zu Boden fiel.

Vince versuchte nicht hinzusehen.

«Ich habe Neuigkeiten!», platzte es schließlich aus ihm heraus.

«Du? Was könntest du für Neuigkeiten haben?»

«Matthis ist Vater geworden!»

«Was soll daran neu sein?», baffte Vindis. «Bei dem Bauch war klar, dass Matthis’ Frau demnächst werfen würde.»

«Es sind aber zwei!», verkündete Vince.

«Was?»

«Es sind zwei! Zwillinge. Und sie sehen ganz unterschiedlich aus. Das eine weiß wie eine Made und das andere dunkel wie ein Erdkäfer!»

Vindis starrte ihn an.

«Ist das wahr?»

«Natürlich ist es wahr», entrüstete sich Vince. «Ich hab sie mit meinen eigenen Augen gesehen.»

Vindis schüttelte den Kopf.

«Die Weiber auf dem Matthishof haben noch nie was getaugt. Hexen allesamt. Du gehst mir da nicht mehr hoch!»

 

Dann warf er das Beil neben den Hackklotz und zeigte auf den toten Hühnerkörper.

«Hier, das machst du», befahl er Vince. «Ausnehmen und rupfen. Ich muss noch was im Dorf erledigen!»

Damit eilte er in Richtung Dorf davon.

Vince sah ihm nach. Natürlich würde sein Vater an jeder Hoftür klopfen und überall von den Neuigkeiten auf dem Matthishof berichten. Seinen Neuigkeiten! Wie gemein, dachte er. Und auf den Matthishof durfte er auch nicht mehr. Wütend kickte er mit dem Fuß gegen den Hackklotz. Dann nahm er den Hühnerkopf auf und trug ihn zu der Grube, wo sie die Schlachtabfälle entsorgten, anschließend machte er sich daran, das Huhn zu rupfen.

Matthis wunderte sich nicht, als in den ersten Masuren nach der Geburt gehäuft Besucher auf den Matthishof kamen. Jeder im Dorf schien plötzlich Bedarf an seiner Eutersalbe zu haben – und natürlich wollte jeder einen Blick auf die beiden ungleichen Zwillinge werfen. So war es immer, so würde es immer sein. Er war nur um Leles willen froh, als Lundis’ neuer Ochse und die Frage, wie sein Hof und die kleine Dorfmühle, die er betrieb, genug abwerfen konnte, dass es für ein Doppelgespann reichte, die Zwillingsgeburt als Hauptgesprächsthema ablöste.

Dennoch waren Matthis’ Tage voller Wunder. Wenn er morgens aufstand, trat er als Erstes an den alten Weidenkorb, den Lele als Bett für Aeolin und Tann gerichtet hatte, und schaute nach den Kindern. Andächtig stand er da und betrachtete die beiden, die eng aneinander geschmiegt in ihrem Bettchen lagen und schliefen. Dabei fühlte er eine wohlige Wärme, die seinen gesamten Körper erfüllte. Seltsam, dachte er. Nichts hatte sich geändert. Die zeitaufwendigen Gänge hoch zur Alm, die viele Arbeit in der Käserei, die Mühsal auf den steinigen Äckern. Und doch war alles anders. Matthis war immer gerne Bauer gewesen, hatte nie mit seinem Schicksal gehadert. Aber etwas hatte immer gefehlt. Nun nicht mehr.

Er strich vorsichtig mit seinem schwieligen Finger über Aeolins zarte Wange. Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens, unmerklich fast. Matthis merkte, wie er zurücklächelte. Dann wandte er sich dem Herd zu, gab Holz auf die fast erkalteten Kohlen und fachte Feuer an. Erst als die Scheite brannten, band er sich den Gürtel um und machte sich auf den Weg zur Alm.


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