Das Corona-Rätsel

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Dienstag, 03. März

Die WHO hat gerade ihren 43. Situationsbericht veröffentlicht.17 Weltweit gibt es 90.869 bestätigte Fälle, davon 10.565 außerhalb von China, 2.732 in Europa, davon 2.036 in Italien, 191 in Frankreich, 157 in Deutschland, 114 in Spanien, 39 in Großbritannien und 18 in Österreich.

In den letzten zwei Wochen haben sich fast 1.000 Menschen bei der erst seit wenigen Monaten flächendeckend angebotenen Hotline 1450 gemeldet. 100 hatten verdächtige Symptome, wurden aber alle negativ getestet. Der Internationale Währungsfonds rechnet wegen Corona mit weniger Wachstum in Österreich. Im Unternehmen eines schwer erkrankten Wiener Juristen werden drei Mitarbeiter positiv getestet. In der Lombardei und Venetien sind elf Gemeinden in Quarantäne, und Ryanair-Chef Michael O’Leary meint: »Wenn sich die Lage über Ostern beruhigt, werden sich die Menschen schnell auf Sommerreisen konzentrieren.«18

Am Vormittag diskutieren wir im zweiköpfigen Public-Health-Team die kommenden Veranstaltungen im Universitätslehrgang Public Health. Noch sind wir überzeugt, dass diese wie geplant stattfinden werden. Auch der für 24. bis 25. April geplante Primärversorgungskongress 2020, bei dem ich Kongressleiter bin, scheint mir nicht in Gefahr zu sein.

Mittwoch, 04. März

In ganz Italien werden Schulen und Universitäten zunächst bis zum 15. März geschlossen, und alle Sportveranstaltungen sollen vorerst ohne Publikum stattfinden. In China geht die Zahl der bestätigten Fälle weiter zurück.

Donnerstag, 05. März

In der Früh höre ich zum ersten Mal den NDR-Podcast mit dem Virologen der Charitè Berlin Christian Drosten und bin begeistert. In der bereits fünften Folge dieses Podcast redet Drosten mit Anja Martini über die Situation von niedergelassenen Ärzten. Er spricht mir aus der Seele, als er meint, dass sich die Hausärzte schlecht informiert fühlen und sehr unterschiedlich damit umgehen. Er hält die aktuelle Anzahl der infizierten Personen für vernachlässigbar und ist optimistisch, dass sich das Infektionsgeschehen eindämmen lässt. Er spricht sich deutlich gegen verstärkte Maßnahmen, wie einen Lockdown, aus und hat auch sonst einen aus meiner Sicht vernünftigen, pragmatischen Zugang. Obwohl mir eine gesamtgesellschaftliche Betrachtung viel zu kurz kommt, freue ich mich über die sachlichen Informationen. Drosten hat als Virologe keine Public-Health-Perspektive, aber in seinem Fachgebiet zählt er zu den Weltbesten. Im Public Health Forum empfehle ich den NDR-Podcast und schreibe:

»Die wichtigsten Ziele der Weltgesundheitsorganisation betreffen die Steigerung der gesunden Lebenserwartung (Health Life Expectancy, HLE) und die Minimierung des Verlustes an gesunden Lebensjahren (Disability-Adjusted Life Years, DALYs). Auch in der Europäischen Union und in Österreich stehen diese Ziele ganz oben, zumindest im Gesundheitsbereich.

Global gesehen, sind vor allem die hohe Säuglingssterblichkeit und die hohe Sterblichkeit in jungen Lebensjahren die Hauptursachen für eine reduzierte gesunde Lebenserwartung. 19 In reicheren Ländern wie Österreich sind es vor allem chronische Erkrankungen und Krebserkrankungen. 2017 waren weltweit fünf Infektionskrankheiten die wichtigsten Ursachen von DALYs (Lungenentzündung, Malaria, Durchfallerkrankungen, HIV/AIDS und Tuberkulose). In Österreich stehen chronische Erkrankungen und Krebserkrankungen an der Spitze. In Bezug auf Infektionskrankheiten sind es in Österreich vor allem die nosokomialen, in der Krankenversorgung erworbenen Infektionen, die uns Probleme bereiten. Die Plattform ›Kampf gegen Krankenhauskeime‹ (Österreichische Gesellschaft Krankenhaushygiene, Patientenanwaltschaften, Plattform Patientensicherheit) schätzt in ihrem Positionspapier, dass jährlich 4.500 bis 5.000 Personen daran versterben.

In ärmeren Ländern sterben viele junge Menschen an Infektionskrankheiten. In Österreich sterben vor allem ältere, multimorbide und immunschwache Menschen daran. In ärmeren Ländern sind Infektionskrankheiten hauptverantwortlich für den Verlust an gesunden Lebensjahren. In Österreich ist das nicht so. COVID-2019 betrifft vor allem ältere, multimorbide und immunschwache Menschen. SARS-CoV-2 ist, so wie das Infuenzavirus, nur eine von vielen Ursachen, die im höheren Alter zum Tod führen können. Die Maßnahmen zur ›Bekämpfung‹ der Ausbreitung von SARS-CoV-2 betreffen alle Altersgruppen. Die psychologischen, sozialen und ökonomischen Folgen dieser Maßnahmen betreffen die Gesundheit aller Altersgruppen. Weltweit. Dieser Aspekt wurde bis dato kaum thematisiert, meines Wissens gibt es auch keinen Versuch, diese Auswirkungen empirisch, im Sinne einer Gesundheitsfolgenabschätzung (Health Impact Assessment), abzuschätzen. Warum ist das so?

Dafür gibt es mehrere Erklärungen. Die Welt ist im Alarmzustand, und es gibt keine Alternative zu den von der WHO empfohlenen Maßnahmen. Die Auswirkungen von COVID-2019 sind noch immer so ungewiss, dass eine solche Abschätzung nur rückblickend erfolgen kann. Eine solche Abschätzung ist viel zu komplex, zu ungenau und unseriös. Alle diese Gründe sind plausibel. Trotzdem sollte bei keiner Therapie, keiner Intervention und auch bei keinem Public-Health-Notfallplan auf potentielle Nebenwirkungen und (Kollateral-)Schäden vergessen werden. Die richtige Balance zu finden ist derzeit eine beinahe unbewältigbare Herausforderung für internationale Gesundheitsorganisationen, nationale Gesundheitspolitiker und Krisenstäbe.

Österreich bewältigt diese Herausforderung bis dato hervorragend. Die Gesundheitspolitik wird exzellent beraten und trifft in Zeiten hoher Unsicherheit sehr ruhige und angemessene Entscheidungen. Auf ›Kriegsrhetorik‹ und Populismus wird vollkommen verzichtet. Alles deutet darauf hin, dass mit diesem umsichtigen Risikomanagement nicht nur die Versorgung von vulnerablen Gruppen gesichert werden kann, sondern auch die durch das Risikomanagement verbundenen negativen Gesundheitsfolgen möglichst gering bleiben.«

Siegfried Walch, Departmentleiter am Management Center Innsbruck kontaktiert mich aufgrund dieses Postings und schlägt vor, meine Lehrveranstaltung im März dem Thema COVID-19 zu widmen. Noch gehen wir beide von einer Präsenzveranstaltung aus, die er gerne via Live-Stream in das Internet stellen möchte.

Sonntag, 08. März

In Österreich liegt die Anzahl der positiv getesteten Fälle noch immer unter 100. Fast 500 Personen befinden sich in Heimquarantäne. Einige Schulen werden wegen positiver Fälle geschlossen. Gesundheitsminister Rudolf Anschober wird für seinen gelassenen Umgang mit der Krise gelobt, und er spricht von einer »schwierigen Situation, dass die Zahlen in Südkorea und Iran eine drastische Steigerung erfahren und auch in der Lombardei sehr ernst zu nehmende Zunahmen zu verzeichnen sind.«

Am Abend hole ich meinen Freund Hans vom Grazer Hauptbahnhof ab, und wir fahren wie jedes Jahr um diese Zeit nach Kroatien klettern. Eine Schlechtwetterfront hat unseren ursprünglichen Plan etwas durcheinandergewirbelt, aber die kommenden Tage schauen gut aus.

In Slowenien bekomme ich ein SMS von Brigitte Piso aus dem Kabinett des Gesundheitsministers: »Hab dir grad eine Mail geschickt.« Hans hat das Steuer übernommen, und so habe ich Zeit, meine E-Mails zu checken. »Lieber Martin, wie telefonisch vorangekündigt, darf ich Dich im Namen des Herrn Bundesministers Anschober dazu einladen, Mitglied des Beraterstabs ›Corona‹ zu werden.«

Ich schreibe eine kurze Bestätigung, und die nächsten drei Tage genießen wir Sonne, wasserzerfressenen Felsen mit Meerblick, sternenklare Nachthimmel, unsere Freiheit, Freundschaft und kroatisches Bier.

Es sind meine letzten Corona-freien Tage.

Mittwoch, 11. März

Am Vortag wurde ganz Italien zur Sperrzone erklärt, und die italienische Regierung hatte gerade beschlossen, dass zahlreiche Geschäfte und Restaurants geschlossen werden müssen. In Österreich wurden ebenfalls alle Veranstaltungen in geschlossenen Räumen ab 100 Personen und solche im Freien ab 500 Personen vorübergehend verboten. Die Bevölkerung wird gebeten, das soziale Leben für einige Wochen zu reduzieren, um die Ansteckungsgefahr für ältere Menschen zu verringern. In der Pressekonferenz am Vormittag wird bekannt gegeben, dass auch die Schulen geschlossen werden.

Die abendliche Rückfahrt von Šibenik nach Graz muss Hans alleine übernehmen. Er ist Zimmerer und Spezialist für Holzwürmer. Ich sitze mit dem Laptop auf dem Beifahrersitz und kümmere mich um das Virus. Unter Nutzung der Schwarmintelligenz des Public Health Forums erstelle ich während der Fahrt eine Kommunikationsstrategie, die auf vielen Ebenen, vertikal und horizontal, ansetzt, um einen möglichst hohen Anteil an Hochrisikopersonen zu erreichen. Außerdem lese ich alle E-Mails, die ich vom Gesundheitsministerium erhalten habe. Als Vorbereitung auf die Taskforce-Sitzung am 09. März wird auf ein Schreiben des Umweltwissenschaftlers Gerald Maier an Bundesminister Anschober verwiesen, in dem dieser eindringlich vor einem exponentiellen Wachstum warnt:

»Das Virus breitet sich in Österreich grob nach einer Funktion der Art f(x)=1,5^n aus: täglich gibt es das 1,5-Fache an Neuinfektionen, verglichen zum Vortag. Dabei ist es unwesentlich, ob dieser Faktor jetzt 1,15 oder 1,8 ist und ob der Anteil der Intensivpatienten 20% oder 5% ist: Die Geschichte bleibt dieselbe, nur verschiebt sie sich um eine Woche nach vorne oder nach hinten. Am Ende warten ein Kollaps des Gesundheitssystems und Chaos. Wir sind im Epidemieverlauf circa 10 bis 12 Tage hinter Italien. Wir wissen heute schon, wie viele Fälle wir in einer Woche oder zwei Wochen haben werden. Jeder, der morgen getestet wird, hat sich vor einer Woche angesteckt und das Wochenende über in der Skihütte, der Disko, der Ferienmesse oder beim Gottesdienst weitere Menschen angesteckt. Sie werden erst in einer weiteren Woche bei den Fallzahlen aufscheinen. Wenn wir Maßnahmen ergreifen, welche den heutigen Zahlen angepasst sind, werden wir das Rennen verlieren. Wir sind immer eine, eher zwei Wochen hinter dem Virus her!

 

1) Man darf sich von den derzeit niedrigen Zahlen nicht täuschen lassen: Die Gesetze der Mathematik und der Natur, der exponentiellen Ausbreitung werden uns in wenigen Tagen auf eine Rutschbahn führen, bei der es nur noch bergab geht. An deren Ende wartet aber kein Sandkasten, sondern Chaos, ein kollabiertes Gesundheitssystem, das auch keine Herzinfarkte oder Verkehrsunfälle mehr versorgen kann und viele Tausende Tote (durch Corona oder andere unversorgte Krankheiten). Die gesellschaftlichen Folgen sind nicht abschätzbar.

2) Genau deshalb haben die Chinesen bei Wuhan so energisch reagiert: Sie haben gerechnet!

Beim Lockdown von Wuhan am 23.1.2020 waren 0,05 Promille der Bevölkerung infiziert (ca. 570 Fälle). Die Fallzahl hat sich dennoch in sechs Wochen um das 160-Fache auf ca. 80.000 erhöht, bevor sie sich dank der drastischen Maßnahmen stabilisiert hat.

3) Umgerechnet auf Wien würde das bedeuten, dass ein Lockdown schon bei 93 Fällen stattfinden müsste. Legt man die Zahlen von Wuhan nach Einführung der drastischen Maßnahmen zugrunde, würden sich die Fallzahlen in Wien nach 6 Wochen bei circa 14.000 einpendeln, davon ca. 1000 bis 2000 Intensivpatienten. Das ist eigentlich schon nicht mehr schaffbar, aber ein Zuckerschlecken im Vergleich zu dem, was folgt, wenn man den Kopf in den Sand steckt.«

Dann folgt die Anleitung für die Benutzung einer beigefügten Excel-Tabelle, in der die Verläufe in China und Italien erfasst und weitergeschrieben werden, die es aber auch erlaubt, unterschiedliche Parameter einzugeben. Gerald Maier geht auch auf die Limitierungen seiner Berechnungen ein, fordert das Ministerium auf, einen »Reality Check« durchzuführen, und verweist auf ähnliche Berechnungen anderer Modelle. Am Ende der E-Mail wird noch ein umfangreiches Maßnahmenpaket angeführt.

Mich beeindruckt diese E-Mail sehr. Sie ist sehr eindringlich, aber auch sehr sachlich geschrieben. Nach Wochen der Gelassenheit verspüre ich nun selbst eine gewisse Anspannung. Zeitgleich stellt der Internist Franz Wiesbauer, der einen Master of Public Health an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health abgeschlossen hat, ein 6-minütiges Youtube-Video mit dem Titel »Die wahrscheinlich wichtigste Abbildung der Coronavirus-Epidemie« online,20 in dem er das Prinzip und die Notwendigkeit einer Abflachung der Kurve von erkrankten Personen exzellent erklärt. Seine Botschaft ist klar und deutlich. Ohne ein effektives Abbremsen des Infektionsgeschehens wird es auch in Österreich zu einer Überlastung der Krankenversorgung kommen. Während Franz Wiesbauer weiterhin regelmäßig exzellente kurze englischsprachige Videos auf YouTube stellt, gibt es von Gerald Maier keine einzige öffentliche Stellungnahme.

Am Abend studiere ich noch rasch die Methodik der COVID-19-Simulation der Technischen Universität Wien, die vom Gesundheitsministerium verschickt worden ist21, und schreibe eine E-Mail an den Simulationsforscher Niki Popper:

»Sehr geehrter Herr Popper, wir werden uns morgen beim Meeting der Beratungsgruppe treffen. Ich würde Ihnen gerne vorab ein paar Gedanken / Fragen zur Modellierung schicken. Die schweren Verläufe von COVID-2019 betreffen eine relativ genau beschreibbare Hochrisikogruppe (Studien aus China, Italien, Schweiz, …). Für eine Modellierung müssten wir höchstbetagte Personen (91 und älter), hochbetagte Personen (76 bis 90 Jahre) mit chronischen Erkrankungen, vor allem chronischen Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und/oder Diabetes und/oder Krebserkrankungen, ältere Menschen (61 bis 75 Jahre) mit chronischen Erkrankungen, vor allem chronischen Lungenerkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und/oder Diabetes und/oder Krebserkrankungen, immunsupprimierte Personen aller Altersgruppen und evtl. noch spezielle andere Personen mit erhöhtem Risiko in allen Altersgruppen quantifizieren. Geht das überhaupt?

Für mich eine der wichtigsten Kennzahlen ist die Anzahl der infizierten (serologisch bestätigten) Hochrisikopersonen. Wie viele der 250 aktuellen Fälle gehören zu dieser Gruppe? Wie hoch ist der Anteil der infizierten (serologisch bestätigten) Hochrisikopersonen, die in Österreich eine stationäre / intensivmedizinische Versorgung brauchen? Zeitlicher Verlauf und Vergleich mit Zahlen aus anderen EU-Ländern. Wie entwickelt sich die Anzahl der infizierten (serologisch bestätigten) Hochrisikopersonen im zeitlichen Verlauf? Exponentialfunktion? Anzahl der Tage für Verdoppelung? Ab welcher Anzahl der Tage zur Verdoppelung der Fälle bleibt die Prävalenz stabil? 14 Tage? Wie viele Hochrisikopersonen brauchen eine Beatmung, ECMO? Wie lange ist die durchschnittliche Verweildauer auf Intensiv? Ab welcher Anzahl der Tage zur Verdoppelung der Fälle bleibt der Zustrom von Fällen auf Intensivstationen stabil? 21 Tage? Wie wirken sich spezifische Maßnahmen zum ›Schutz‹ der Hochrisikopersonen aus? Zum Beispiel: Zirka 80.000 befinden sich in Langzeitpflegeeinrichtungen, zirka 400.000 PflegegeldbezieherInnen werden zu Hause versorgt, es gibt zirka 600.000 DiabetikerInnen in Österreich etc. Was sind die, evidenzbasiert oder basierend auf Erfahrungswissen, effektivsten Maßnahmen, um diese Hochrisikogruppen zu erreichen, zu informieren und Verhalten anzupassen?

Derzeit lesen alle in verschiedenen Glaskugeln. Umso wichtiger sind Modellierungen. Ich würde Sie bei dieser wichtigen Aufgabe gerne unterstützen. Was wir aber viel mehr nutzen sollten ist die Schwarmintelligenz von Studierenden, Lehrenden, Forschenden, national und international. Allein die Public Health Google Group in Österreich hat 400 ExpertInnen, die gezielt befragt werden könnten.«

40 Minuten später schreibt Niki Popper zurück, bedankt sich und schlägt eine Telekonferenz vor, um meine Punkte mit dem Simulationsteam zu besprechen.

Donnerstag, 12. März

Die WHO erklärt das globale Infektionsgeschehen offiziell zur Pandemie und veröffentlicht ihren 52. Situationsbericht.22 Weltweit gibt es 125.260 bestätigte Fälle, davon 44.279 außerhalb von China, 23.049 in Europa, davon 12.462 in Italien, 2.269 in Frankreich, 2.140 in Spanien, 1.567 in Deutschland und 302 in Österreich.

Nach einem arbeitsreichen Vormittag auf der Universität fahre ich am frühen Nachmittag mit einem Freund nach Wien, um an der vierten Sitzung des Beraterstabs der Corona-Taskforce teilzunehmen. Während der Fahrt erreicht uns das Gerücht, dass ein Lockdown für Wien geplant ist. Ich gehe also mit gemischten Gefühlen in Richtung Bundeskanzleramt. Weil ich wie immer zu früh bin, drehe ich eine Runde durch den Volksgarten und genieße die Sonne. Um halb fünf gehe ich durch die Sicherheitsschleusen und werde von einer netten Dame in den Vorraum eines großen Saals geführt. Es gibt Wasser, und ich sehe Gesichter, die ich nur aus dem Fernsehen kenne. Es ist ein bisschen wie im Film. Bekannte Politiker und Wissenschaftler haben sich um Stehtische versammelt und sind in Gespräche vertieft.

Brigitte Piso freut sich, mich zu sehen. Wir kennen uns vom Grazer Public-Health-Lehrgang, den sie 2007 abgeschlossen hat. Im Anschluss arbeitete sie am Ludwig-Boltzmann-Institut für Health Technology Assessment und war dort bis 2017 stellvertretende Institutsleiterin und Ressortleiterin für »Public Health und Versorgungsforschung«. Dann folgte die Tätigkeit als Geschäftsbereichsleiterin des Bundesinstitut für Qualität im Gesundheitswesen (BIQG) an der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG), und Anfang Februar 2020 wechselte sie in das Kabinett von Bundesminister Anschober. Sie ist eine der integersten und schlauesten Menschen, die ich im österreichischen Gesundheitssystem kennengelernt habe.

Pünktlich um 17 Uhr geht es los. Von den 14 Teilnehmern des Beraterstabs sind nur zwei Personen keine Mediziner. Wochen später werde ich in einem Addendum-Artikel diesen Abend folgendermaßen beschreiben:

»Am 12. März fand die vierte Sitzung der Corona­virus-Taskforce im Bundeskanzleramt statt. 26 Personen waren anwesend, darunter Bundeskanzler, Vizekanzler, Gesundheitsminister und Innenminister. Hände wurden keine geschüttelt, Masken getragen aber auch nicht. Die Stimmung war angespannt, die Bilder aus der Lombardei waren präsent. Aber auch die Zahlen aus Tirol waren besorgniserregend, und der Druck aus den skandinavischen Ländern, die schon eine Woche zuvor Tirol als Hotspot für eigene Infektionen identifiziert hatten, war spürbar. Die Sitzung wurde vom Bundeskanzler ausgezeichnet moderiert, alle Beiträge waren kompetent und sachlich. Beim Punkt Kommunikation war auch das Mittel der Angst kurz Thema. Die diesbezügliche Diskussion war für mich vollkommen adäquat, der Situation angepasst. Die Entscheidung, mittels eines Lockdowns Geschwindigkeit aus dem Infektionsgeschehen zu nehmen, wurde von allen Mitgliedern der Coronavirus-Taskforce unterstützt. Rückblickend hätte nichts besser gemacht werden können. Das Timing des Lockdowns war nahezu perfekt.«

Im Protokoll dieser Sitzung werde ich nicht unter den Teilnehmenden gelistet, aber wie folgt zitiert: »Sprenger schließt daran an, wonach es primär um den Schutz der verhältnismäßig kleineren, vulnerablen Gruppe gehe. Social distancing müsse rasch in die Köpfe der Bevölkerung. Dafür bedürfe es einer professionellen Kommunikationsstrategie, für die alle verfügbaren Kanäle zu nützen seien. Die entsprechenden Informationen müsse man ›in die hintersten Winkel bringen‹, dies unter Einbeziehung der Gemeinden. Diesbezüglich sei eine Informationskampagne in den nächsten Tagen entscheidend. Die Wachstumskurve müsse vor allem in der Risikogruppe flach gehalten werden.«

Ich sage in dieser Sitzung deutlich mehr, aber es wird nicht alles protokolliert. Nachdem ein Aufnahmegerät herumgereicht wird, sollte die gesamte Sitzung als Audio verfügbar sein. Primäres Ziel dieses Taskforce-Meetings ist es, eine Überforderung der Krankenhäuser und Intensivstationen zu verhindern. Das exponentielle Wachstum der Infektionen muss abgebremst werden. Die Modellierungen zeigen, dass dafür eine Reduktion der Kontaktzahl um 25% ausreichend ist.

Das Niveau der Sitzung ist sehr beeindruckend. Kurz und Anschober stellen sehr gute Fragen, sind wertschätzend und interessiert. Sachpolitik pur. Gerry Foitik vom Roten Kreuz präsentiert sich als professioneller und erfahrener Krisenmanager, und auch alle anderen Beiträge sind sehr konstruktiv.

Im Vordergrund steht eindeutig das gemeinsame Bemühen, die österreichische Bevölkerung vor unnötigem Schaden zu bewahren. Nach der Sitzung kommt Sebastian Kurz auf mich zu und meint: »Ich habe Ihre Botschaft verstanden, ich nehme sie ernst.« Ich übergebe die mit dem Public Health Forum erstellte Kommunikationsstrategie an Gerry Foitik und mache mich auf den Weg zum Bahnhof.