Politische Ideengeschichte

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Politische Ideengeschichte
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vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich

Ralph Weber

Martin Beckstein

Politische Ideengeschichte

Interpretationsansätze in der Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Ralph Weber ist Oberassistent am Universitären Forschungsschwerpunkt Asien und Europa an der Universität Zürich und Lehrbeauftragter für Politische Ideengeschichte und Politische Theorie an der Universität St. Gallen.

Dr. Martin Beckstein ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politische Philosophie der Universität Zürich sowie am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen der Universität St. Gallen.

Mit 10 Abbildungen, 10 Grafiken und 11 Tabellen

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografisch e Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Diego Rivera, Der Steinmetz (1944). Privatsammlung. © Banco de México

Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust, México D.F./2014 ProLitteris, Zurich. Foto: The Bridgeman Art Library.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

UTB-Band-Nr. 4174

ISBN: 978-3-8252-4174-2

eISBN: 978-3-8463-4174-2

Inhalt

Verzeichnis der Reflexionsboxen

Verzeichnis der Grafiken

Vorwort

Einleitung: Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte

Wozu politische Ideengeschichte?

Wozu Interpretationsansätze?

Politik – Ideen – Geschichte

Mediale Ressourcen der politischen Ideengeschichte

Vielfalt der Ansätze – Eine Typologie

Auswahl der Texte

Kapitel 1: Der analytische Ansatz: Am Beispiel des Federalist Paper Nr. 10

1. Zur Theorie des analytischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: James Madisons Federalist Paper Nr. 10

3. Vom Wortlaut zum Aussagegehalt: Die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10

3.1 Untersuchungsziel und Hauptaussagen des Texts

3.2 Begriffsklärungen

3.3 Rekonstruktion der Argumente

4. Möglichkeiten und Grenzen des analytischen Ansatzes

Kapitel 2: Der biografische Ansatz: Am Beispiel von Platons Der Staatsmann

1. Zur Theorie des biografischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Platons Leben und Werk

3. Der Text als Ausdruck des Lebens des Autors: Platons zweite Sizilienreise und die Gesetze in Der Staatsmann

3.1 Identifizierung und Textdatierung von Der Staatsmann

3.2 Zusammenfassung des Dialogs

3.3 Identifizierung des interpretationsbedürftigen Texts

3.4 Interpretation: Platons neuer Realismus

4. Möglichkeiten und Grenzen des biografischen Ansatzes

Kapitel 3: Der werkimmanente Ansatz: Am Beispiel von Olympe de Gouges’ Drei Urnen

1. Zur Theorie des werkimmanenten Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: De Gouges und ihr Text Die drei Urnen

3. Vom Werkbezug zur Textbedeutung: Die drei Urnen im Licht des Werks

3.1 Textaneignung und Interpretationsbedürftigkeit

3.2 Autoridentifizierung und Werkaneignung

3.3 Werkimmanente Interpretation durch Herstellung von Bezügen

4. Möglichkeiten und Grenzen des werkimmanenten Ansatzes

Kapitel 4: Der esoterische Ansatz: Am Beispiel von Verfolgung und die Kunst des Schreibens

1. Zur Theorie des esoterischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Leo Strauss’ Verfolgung und die Kunst des Schreibens

3. Vom Text zum Subtext: Die versteckte Lehre von Verfolgung und die Kunst des Schreibens

3.1 Der Text im Wortsinn

3.2 Hinweise auf die Existenz einer esoterischen Lehre

3.3 Adressaten und Inhalt der esoterischen Botschaft

4. Möglichkeiten und Grenzen des esoterischen Ansatzes

Kapitel 5: Der kontextuelle Ansatz: Am Beispiel des Epos des mexikanischen Volks

1. Zur Theorie des kontextuellen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Diego Riveras Epos des mexikanischen Volks

3. Über den Kontext zu den Wirkabsichten des Texts: Das Epos des mexikanischen Volkes ein Plädoyer für aztekischen Sozialismus?

3.1 Der Kontext: Der politische Diskurs im postrevolutionären Mexiko der 1920er und 1930er Jahre

3.2 Der Text: Das Epos des mexikanischen Volks

3.3 Der Sprechakt: Das Plädoyer für einen aztekischen Sozialismus?

4. Möglichkeiten und Grenzen des kontextuellen Ansatzes

Kapitel 6: Der hermeneutische Ansatz: Am Beispiel von Huang Zongxi und seinem Mingyi daifang lu

 

1. Zur Theorie des hermeneutischen Ansatzes

1.1 Gadamer

1.2 Ricoeur

1.3 Angewandte Hermeneutik?

2. Das Anwendungsbeispiel: Huang Zongxi und sein Mingyi daifang lu

2.1 Zu Huangs ideengeschichtlicher Bedeutung

2.2 Vorverständnisse des Mingyi daifang lu vor der Lektüre

3. Hermeneutische Lektüren: Kap. 1 – Über den Herrscher

3.1 Strukturelle Erklärung

3.2 Interpretation

3.3 Hermeneutische Distanz: verfremdende und vermittelnde Sprache

4. Möglichkeiten und Grenzen des hermeneutischen Ansatzes

Kapitel 7: Der rezeptionstheoretische Ansatz: Am Beispiel der Deutungen von Der Fürst

1. Zur Theorie des rezeptionstheoretischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Machiavellis Der Fürst

3. Über die Leser zur Bedeutung des Texts: Die Rezeption von Machiavellis Der Fürst vor der Publikation (1513–1532)

3.1 Machiavelli als ‚erster Leser‘ von Der Fürst

3.2 Distanzierungsbestrebungen von Machiavelli und anderen Lesern

3.3 Vier Veröffentlichungsversuche

3.4 Die Funktionswandlung von Der Fürst durch die Frühstrezipienten

4. Möglichkeiten und Grenzen des rezeptionstheoretischen Ansatzes

Kapitel 8: Der begriffsgeschichtliche Ansatz: Am Beispiel des Vertrags in Die Würdenträgereide des Arnuwanda

1. Textinterpretation und darüber hinausführende Ansätze

2. Die Begriffsgeschichte als Ideengeschichte?

3. Zur Anwendung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes

3.1 Forschungsinteressen

3.2 Der Begriff als Zugriff

3.3 Textverständnis der Begriffsgeschichte

4. Zur hethitischen Begriffsgeschichte des Vertrags

4.1 Zur altorientalischen Vorgeschichte

4.2 Frühes hethitisches Vertragsdenken

4.3 Die mittelhethitische Blütezeit: Die Instruktionen und Eidesleistungen

5. Die Würdenträgereide des Arnuwanda (CTH 260)

Epilog

Von prinzipienbasierter zu zweckorientierter Methodenauswahl

Vom beliebigen zum philosophischen Eklektizismus

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Reflexionsboxen


Sexistische Sprache
Überzeitliche Ideen
Aussagegehalt und Autorintention
Die Tücken der Chronologie
Nochmals – der Siebte Brief und der biografische Ansatz
Werkimmanenter Ansatz und Intertextualität
Ko-Autorschaft und Werkimmanenz
Die Bedeutung des Autors im werkimmanenten Ansatz
Werkimmanenter Ansatz oder Entwicklungsansatz
Strauss und die Politik
Selbstanwendung eines Interpretationsansatzes
Welche Quellen dürfen beim esoterischen Ansatz miteinbezogen werden?
Wirkabsichten des Autors und des Texts
Sind Kunstwerke relevante Quellen der politischen Ideengeschichte?
Adressierte und tatsächliche Leser
Übersetzung, wessen Horizont und wessen Welt?
Der Autor als erster Leser
Nutzen eines differenzierten vorbestimmten Begriffs

Verzeichnis der Grafiken

Infografik: Der analytische Ansatz

Grafik: Grobstruktur des Federalist Paper Nr. 10

Infografik: Der biografische Ansatz

Infografik: Der werkimmanente Ansatz

Infografik: Der esoterische Ansatz

Infografik: Der kontextuelle Ansatz

Infografik: Der hermeneutische Ansatz

Infografik: Der rezeptionstheoretische Ansatz

Grafik: Systematischer Überblick der Frühstrezeptionen von Der Fürst

Infografik: Der begriffsgeschichtliche Ansatz

Vorwort

Dieses Buch legt das Augenmerk auf Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte. Es geht in entscheidender Weise über eine theoretische Behandlung des Gegenstands hinaus, indem es grundlegende Interpretationsansätze in der Praxis thematisiert. Der gedankliche Ausgangspunkt war für uns die Situation, in der man einen Text konkret vor sich hat: Wie soll man nun lesen? Worauf muss der Fokus gelegt werden und was darf man getrost ausblenden? Wie kann von der Lektüre eines Texts zum Verständnis von dessen Bedeutung vorgedrungen werden? Diesen letzten, konsequenten Schritt zu wagen, hat uns Motivation über die Jahre hinweg gegeben, an denen wir kontinuierlich – freilich mit unterschiedlicher Intensität – an diesem gemeinsamen Projekt gearbeitet haben. Dass den Schritt zu wagen sich lohnte, davon sind wir heute umso mehr überzeugt, zumal wir entgegen anfänglichen Erwartungen rasch selbst vor allem zu einem wurden: zu Lernenden, voneinander, gegeneinander, miteinander, immer wieder am Gegenstand und letztlich an der Weite des noch zu Ergründenden selbst. Den Leserinnen und Lesern unserer Ergebnisse hoffen wir ein nützliches anwendungsorientiertes Lehrbuch über Interpretationsansätze der politischen Ideengeschichte vorzulegen, oder zumindest ein didaktisch angeleitetes Lesebuch. Im besten Fall ist es beides.

Die Anwendungsbeispiele nicht nur auf Klassikertexte und unsere eigenen Spezialisierungen zu beschränken, sondern mitunter neues Terrain zu erschließen, war uns ein besonderes Anliegen. Dieses Wagnis galt es natürlich mit einem nüchternen Eingeständnis eigener Grenzen einzugehen. Damit unsere Grenzen Leserinnen und Lesern nicht zum Nachteil gereichen, baten wir Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung und haben tatkräftige und vielfältige Hilfeleistungen erfahren. An dieser Stelle möchten wir uns deshalb bei Rebecca Anders, Max Gander, Andrea Jud, Prof. Jared Miller, Fernando Noriega Díaz, Dr. Marta Pallavidini und Reto Zöllner bedanken. Prof. Thomas Fröhlich, Prof. Roland Kley und Prof. Urs Marti haben unser Projekt darüber hinaus in intensiven Gesprächen, mit Fragen und kritischen Einwänden, und auf je eigene Weise gefördert. Für die Erlaubnis, Teile eines bereits veröffentlichten Texts abdrucken zu dürfen, möchten wir uns beim Verlag Barbara Budrich sowie der Zeitschrift für Politische Theorie bedanken. Prof. Gerfrid G.W. Müller, Prof. Silvin Košak und Prof. Joachim Marzahn waren bei der Beschaffung des abgedruckten Bildmaterials zur hethitischen Keilschrifttafel überaus hilfsbereit. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich ist freundlicherweise für die Kosten rund um die Bildrechte an den Gemälden von Rivera, Orozco und Siqueiros aufgekommen. Nicht zuletzt möchten wir auch Kai Pätzke vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danken, der uns in angenehmer und effektiver Weise durch den Prozess der Drucklegung begleitet hat.

 

Einleitung Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte

Weshalb lohnt sich die Beschäftigung mit Interpretationsansätzen in der Disziplin der politischen Ideengeschichte? Und noch grundlegender, weshalb ist es überhaupt lohnenswert, sich mit politischer Ideengeschichte zu befassen? Weshalb legen wir Aristoteles, Jean-Jacques Rousseau und Mary Wollstonecraft nicht einfach ad acta und beschränken uns in der wissenschaftlichen Forschung auf das gegenwärtige politische Denken? Natürlich steht es jedem frei, sich privat für jahrhundertealte Texte zu interessieren, weil sie „da“ sind, so wie Edmund Hillary sich bekanntlich für den Mount Everest interessierte, „weil er da ist“. Aber es ist nicht ersichtlich, weshalb intellektuelle Erkundungslust von öffentlicher Hand zu subventionieren ist; und weshalb ein allgemeines Interesse darin bestehen sollte, die Texte von politischen Denkerinnen und Denkern vergangener Zeiten nicht nur einmalig auszuwerten, sondern immer wieder zu interpretieren. Auch wäre der gesellschaftliche Nutzen der Disziplin eher gering einzuschätzen, wenn es allein darum ginge herauszufinden, ob heutige Gedanken zur Politik schon früher gedacht wurden, wer der Erste war, der etwas gedacht hat, und inwiefern das gegenwärtige politische Denken durch frühere Reflexionen geprägt wurde. Die akademische Beschäftigung mit Texten der politischen Ideengeschichte ist kein Selbstzweck und gleiches gilt in noch stärkerem Maße für die Auseinandersetzung mit Interpretationsansätzen, doch für beides lassen sich gute Gründe anführen.

Wozu politische Ideengeschichte?

Die Beschäftigung mit Texten der politischen Ideengeschichte ist nicht zuletzt deshalb lohnenswert, weil es zu klären hilft, was Politik ist, was wir politisch tun können und was wir politisch tun sollten. Die Disziplin der politischen Ideengeschichte kann uns bei der Klärung dieser Fragen schon deshalb helfen, weil die Texte der politischen Ideengeschichte, die uns überliefert sind, eine Vielzahl von theoretischen Werkzeugen enthalten; sie artikulieren Annahmen, entwickeln Konzepte, konstruieren Argumente und liefern Antworten. Wenn wir uns mit gegenwärtigen Problemen auseinandersetzen, können wir auf dieses Sammelsurium von theoretischen Werkzeugen zurückgreifen und sie uns zunutze zu machen versuchen. Einige dieser Werkzeuge erweisen sich vielleicht als geeignet, Antworten auf heute dringliche Fragen zu finden; andere mögen uns helfen, die entscheidenden Fragen überhaupt zu stellen oder an unsere Zwecke angepasste Werkzeuge nachzubauen; und selbst Werkzeuge, die sich als dysfunktional erweisen, können uns immerhin lehren, welche Fragen wir nicht zu stellen brauchen oder welche Antworten wir verwerfen müssen.

Neben dem Zweck der Bergung von potenziell nützlichen politiktheoretischen Werkzeugen hilft die Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte uns zur Klärung, was politisch der Fall, möglich und wünschenswert ist, indem sie unser historisches Bewusstsein schärft. Indem wir untersuchen, wie frühere Denkerinnen und Denker gedacht haben, können wir besser verstehen, wie wir denken. Vielleicht finden wir heraus, dass wir einige ihrer Ansichten teilen und können uns durch das Studium ihrer Texte ein klareres Bild davon verschaffen, was diese Ansichten bedeuten und implizieren. Andere ihrer Ansichten werden uns fremd erscheinen, so dass uns die Eigenartigkeit und Fragwürdigkeit der von ihnen wie der von uns für selbstverständlich gehaltenen Ansichten vor Augen geführt wird.

Wozu Interpretationsansätze?

Was spricht nun aber für die Auseinandersetzung mit Interpretationsansätzen? Sind methodische Reflexionen wirklich nötig oder hilfreich für die Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte? Oder drohen wir uns dadurch in metatheoretischen Scheindebatten zu verlieren, die den potenziellen Nutzen des ideengeschichtlichen Studiums schmälern anstatt realisieren helfen. Es mangelt nicht an Stimmen, die den Nutzen von methodischer Reflexion über die Praxis der ideengeschichtlichen Forschung bestreiten.1 Zudem wird in Lehrbüchern und Überblickswerken, wie Busen und Weiß kürzlich festgestellt haben, in der Regel von nennenswerten Bemerkungen zur Methodik abgesehen.2 Dabei ist der Verzicht auf eine Methode gerade keine Option in der politischen Ideengeschichte. Die Frage ist nicht, ob man einen Interpretationsansatz praktiziert, sondern welchen; wie plausibel der verwendete Ansatz ist und wie konsistent man ihn anzuwenden versteht. Um theoretische Werkzeuge aus ideengeschichtlichen Texten zu bergen und über die Vergangenheit unsere eigene Situation zu reflektieren, können wir unterschiedliche Analysestrategien verfolgen. Jede Analysestrategie basiert auf unterschiedlichen Annahmen, eröffnet spezifische Möglichkeiten und impliziert spezifische Grenzen. Manche Analysestrategien eignen sich zum Beispiel zu ergründen, was Autoren gedacht haben oder was ihre Texte aussagen; andere erschließen, was ihre Texte mitteilen wollten, und wieder andere, welche Bedeutung die Texte vermittelt haben. Ein kritisches Bewusstsein über die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte zu erlangen ist nicht zuletzt deshalb nützlich, weil ein solches Bewusstsein vonnöten ist, um die Möglichkeiten des Machbaren auszureizen und um die Grenzen des Machbaren nicht zu ignorieren.

Dieses Lehrbuch setzt sich zum Ziel, die Möglichkeiten und Grenzen grundlegender Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte theoretisch zu bestimmen und praktisch zu illustrieren. Wir teilen nicht die Vermutung, dass ein Ansatz allgemein richtig ist und alle anderen inadäquat. Vielmehr gehen wir davon aus, dass Möglichkeiten auf Chancen zur Erkenntnisgewinnung hinweisen und Grenzen auf etwas, das mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht zu überschreiten gehofft werden darf. Insofern ein Ansatz derartige Möglichkeiten hat – und nur so weit – ist er notwendigerweise adäquat.

Bevor wir zur theoretischen Darstellung und praktischen Anwendung der Interpretationsansätze übergehen, gilt es noch vorab zu klären, womit sich die Disziplin befasst und woran Interpreten überhaupt ansetzen, wenn sie Texte der politischen Ideengeschichte erforschen.

Politik – Ideen – Geschichte

Die Disziplin der politischen Ideengeschichte studiert die Geschichte der politischen Ideen. Was meint das genau? Fachvertreterinnen und Fachvertreter geben auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten. Grund dafür ist zunächst der Terminus der „Ideen“, der in seiner Bedeutung eine Bandbreite von einer mit metaphysischem Anspruch ausgestatteten Idee bis zu einem bloßen Gedanken aufweisen kann. Grob vereinfacht ausgedrückt hat sich die politische Ideengeschichte seit ihren Anfängen als selbstständige Disziplin immer weiter von einem starken Ideenbegriff verabschiedet. Ging man zunächst davon aus, dass über die Jahrhunderte hinweg dieselben Ideen gleichsam zeit- und ortsunabhängig verhandelt worden sind (in der deutschsprachigen Tradition paradigmatisch bei Meinecke, in der amerikanischen Tradition bei Strauss und bei Lovejoy), so werden diese – insoweit heute überhaupt noch von Ideen gesprochen wird – heuristisch oder im Sinn von „Motiven“ verstanden. Aller Unkenrufe zum Trotz ist es aber keineswegs so, dass stärkere Ideenbegriffe gar nicht mehr vertreten würden. Dies zeigt sich zum einen in systematischen Untersuchungen, die mehrere Schriften und Autoren versammeln und sie auf ein Problem hin analysieren oder die Entwicklung einer sich formierenden und ausdifferenzierenden Idee historisch nachzeichnen.3 Vielleicht wäre es aus dieser Perspektive betrachtet angemessener zu sagen, dass sich im Zuge einer disziplinären Weiterentwicklung eine Reihe weiterer Verständnisse neben dasjenige einer metaphysischen Idee gestellt haben, womit die Bezeichnung politische Ideengeschichte für viele zunehmend befremdender, in heutiger Zeit für einige gar schlicht anachronistisch geworden ist.

Es erstaunt daher nicht, dass derzeit mehrere Bezeichnungen eine weitgehend deckungsgleiche Verwendung finden, so etwa „Geschichte des politischen Denkens“, „Geschichte der politischen Philosophie“, oder „Geschichte der politischen Theorie“. John Gunnell hat dementsprechend kürzlich festgestellt:

Ob man von der Geschichte der politischen Philosophie, von der Geschichte der politischen Theorie oder von der Geschichte des politischen Denkens spricht, der Verweis zielt für gewöhnlich auf eine grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit.4

Die Bedeutungen dieser Bezeichnungen sind natürlich nicht vollends deckungsgleich. Jede Bezeichnung trägt eigene Konnotationen: „politisches Denken“ mag eine besondere Breite anzeigen, „politische Philosophie“ der Kanonisierung von „Klassikern“ Tribut zollen und „politische Theorie“ eine systematische Vorgehensweise mit besonderem Anspruch auf Gegenwartsrelevanz verbinden.5 Auch die Bezeichnung „politische Ideengeschichte“ trägt, wie wir gesehen haben, eine solche besondere Konnotation. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Bezeichnungen und Konnotationen den unterschiedlichen Gewichtungen, Fokussierungen, Interessen und Zielen geschuldet sind, mit denen die „grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit“ im Rahmen der Fachdisziplinen der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft betrieben werden.

Wir sprechen in diesem Band durchgängig von „politischer Ideengeschichte“, ohne aber damit einer bestimmten Konnotation den Vorzug geben zu wollen. Vielmehr gebrauchen wir die Bezeichnung, die historisch der Disziplin ihren Namen gegeben hat, weil sie noch am Besten geeignet scheint, um das überlappende Feld der „grundsätzlich gleiche[n] fachlichen Tätigkeit“ abzustecken. Im Grunde rekurrieren wir auf eine geläufige Begebenheit. In Bibliotheken werden in der Regel Bücher in einem gemeinsamen Regal, z.B. unter der Rubrik „Einführungen in die politische Ideengeschichte“, versammelt, von denen manche einen systematischen Fokus auf Argumente, andere einen historischen Fokus auf klassische Autoren und Werke und noch andere den Fokus auf Diskurse legen. Aus der Perspektive, die diesem Band zugrunde gelegt ist, stehen diese drei Bücher mit Fug und Recht im selben Regal; sie könnten aber auch ohne Weiteres in drei verschiedenen Regalen auf Leserschaft warten, je eines z. B. im Fachbereich der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie. Immerhin stützt man sich trotz der Kontroverse, ob es um „Ideen“, „Theorien“, „Denken“ oder „Denker“ geht, unisono auf die Termini „Geschichte“ und „Politik“.

Das heißt nicht, dass es nicht auch zu den Termini der „Geschichte“ und „Politik“ viel Kontroverses zu berichten oder gar ganze Ideengeschichten zu schreiben gäbe.6 Beide Termini verhalten sich zur Disziplin in einem zirkulären Verhältnis, insofern neue Verständnisse von „Geschichte“ neue Wege, politische Ideengeschichte zu schreiben, ermöglichen und neue Verständnisse von „Politik“ (oder auch „des Politischen“7) den Gegenstandsbereich möglicher Objekte der Reflexion erweitern oder auch einengen. Wenn beispielsweise Karl Löwith seine Ausführungen in Weltgeschichte und Heilsgeschehen mit der Gegenwart beginnen lässt und sich sukzessive in die Vergangenheit vorarbeitet, dann begründet er dies zum einen didaktisch; zum andern ist das Vorgehen aber auch Ausdruck einer grundsätzlichen Neubestimmung des Historischen selbst.8 Oder wenn ein feministisches Politikverständnis, welches die Privatsphäre für politisch erklärt, neu artikuliert wird und Verbreitung findet, dann lassen sich neue politische Ideengeschichten schreiben. Sie fordern uns dann beispielsweise zur Berücksichtigung von Forschungen auf, die zuvor eher in der Sozialgeschichte (also außerhalb der politischen Ideengeschichte) verortet waren.

Mediale Ressourcen der politischen Ideengeschichte

Um theoretische Werkzeuge zu bergen und in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns selbst besser zu verstehen, untersucht man in der politischen Ideengeschichte in der Regel Texte. Texte können aber recht unterschiedlicher Art sein. Welche Textarten zählen also zu den relevanten medialen Ressourcen des ideengeschichtlichen Studiums? Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist man immer mehr von einer restriktiven Antwort auf diese Frage abgekommen. Heute gilt es, Texte unterschiedlicher Formate und soziokultureller Herkunft zu berücksichtigen.

Vom engen zum weiten Textbegriff

Texte sind der Gegenstand der ideengeschichtlichen Reflexion, und zunächst finden wir diese in der Form von Büchern. Wir gehen in die Bibliothek, steuern das entsprechende Regal an und nehmen Aristoteles’ Politik oder Das kommunistische Manifest zur Hand. Texte der politischen Ideengeschichte finden sich in Monografien; dazu kommen Sammelbände, Zeitschriften und Zeitungen, in denen politische Denkerinnen und Denker ihre Artikel und Interviews veröffentlichen und viele weitere Textformate, die wir beim Gang in die Bibliothek leicht vergessen: Hannah Arendt hat ihr politisches Denken zu Teilen über Radiovorträge vermittelt, Michel Foucault und Noam Chomsky ihre philosophischen Differenzen in Fernsehsendungen verhandelt. Wichtige Einblicke in das politische Denken der Renaissance sind uns mit Gemälden gegeben. Claude Lefort sieht die aussagekräftigsten Texte für den ideengeschichtlichen Übergang vom Absolutismus zur modernen Demokratie gar in monarchischen Begräbniszeremonien.9 Auch die neuen Medien stellen Foren etwa in Form von Blogs bereit, in denen politiktheoretische Reflexion einen zunehmend bedeutsamen Platz findet. Und wenngleich es nahe liegt, sich die unterschiedlichen Textformate entlang einer Achse vorzustellen, dessen einer Pol einen (alten) engen und dessen anderer Pol einen (neuen) weiten Textbegriff kennzeichnet, so ist zu bedenken, dass selbst die Klassiker des politischen Denkens weit über diese Achse verstreut sind. Aristoteles’ Politik basiert auf Vorlesungen und hat in der Form eines Buchs erst im Mittelalter, vermittelt über arabische Kommentatoren, Eingang in unsere Regale gefunden. Das kommunistische Manifest war ursprünglich eine Flugschrift.

Von der Hoch- zur Populärkultur

Während in der Disziplin schon immer auf ideengeschichtliche Texte unterschiedlichsten Formats als Reflexionsgegenstand zurückgegriffen wurde, so besteht eine genuine Neuerung hinsichtlich der Einbeziehung von Texten unterschiedlicher soziokultureller Herkunft. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde der Blick von Texten der sogenannten ‚Hochkultur‘ systematisch auf die ‚Populärkultur‘ ausgedehnt. Texte der politischen Ideengeschichte werden seither nicht mehr nur bei akademischen und politischen Eliten vermutet, sondern auch im Alltagsleben gesucht. Die Gründe hierfür sind dreierlei: Erstens sind bedeutende politische Ideen nicht selten aus den Niederungen des politischen Tagesgeschäfts hervorgegangen, ehe sie philosophisch geschärft und modifiziert in Texten der Hochkultur artikuliert werden konnten.10 Zweitens kann nie mit Sicherheit vorausgesagt werden, aus welchem gesellschaftlichen Kreisen ein Text von herausragender ideengeschichtlicher Bedeutung und Qualität hervorgeht. Die Autorschaft des anonymen Online-Pamphlets Der kommende Aufstand, das für große Aufregung sorgte, wurde zunächst bei einer Gruppe Nonkonformisten aus dem Dorf Tarnac vermutet, woraufhin die französische Polizei im Jahr 2008 einen Klarinettisten, eine Krankenschwester und einen Gemüsehändler festnahm, auch wenn sie deren Urheberschaft schließlich nicht nachweisen konnte.

Schließlich ist ein dritter Grund, dass ideengeschichtliche Texte nicht auf einen Ort auf einer Achse soziokultureller Textwertigkeit festgeschrieben sein müssen, weil Hochkultur und Populärkultur in einem dynamischen Verhältnis stehen. Kulturelle Wertigkeit impliziert Bewertung, und diese kann sich gerade mit historischem Abstand deutlich verändern. Hochkultur kann Populärkultur werden, und umgekehrt, wie Machiavellis Der Fürst für beiderlei Dynamiken belegen mag. Ist die Schrift doch sicherlich keine repräsentative Quelle des frühneuzeitlichen Gelehrtentums, wird sie seit Langem zum Grundkanon politischer Ideengeschichte gezählt; im 20. Jahrhundert hat sie den Status von Ratgeberliteratur wiedergewonnen (unter Titeln wie Machiavelli für Frauen, Machiavelli für Manager, oder Machiavelli für Streithammel), wenngleich in etwas vulgärer Form.

Vielfalt der Ansätze – Eine Typologie

Politische Ideengeschichte ist also vornehmlich eine Textwissenschaft, wobei je nach engem oder weitem Textbegriff und soziokultureller Herkunft verschiedene Objekte Gegenstand der Untersuchung und Reflexion sein können. Ausgangspunkt ist die Identifizierung eines als interpretationsbedürftig wahrgenommenen Textmaterials. Die Herausforderung für die Ausdifferenzierung von Interpretationsansätzen besteht darin, die Analyseschritte aufzuzeigen, mithilfe derer ein als interpretationsbedürftig wahrgenommenes Textmaterial ausgelegt wird. Welche Analyseschritte für die Interpretation zielführend sind, hängt natürlich von dem genauen Leitinteresse ab, ob also wie zuvor erwähnt das Denken des Autors oder die Aussage seiner Texte erschlossen werden soll, oder die in den Texten angelegte Mitteilung an eine Leserschaft, oder aber die Bedeutung, die die Texte ihrer Leserschaft vermittelt haben. Die unterschiedlichen Leitinteressen suggerieren ihrerseits aber wiederum spezifische Verständnisse dessen, als was ein Text im Allgemeinen überhaupt zu verstehen ist. Die nachfolgende Typologie versucht daher Klarheit in das Dickicht der vielfältigen Interpretationsansätze zu bringen, indem die Interpretationsansätze anhand des angesetzten Textverständnisses geordnet werden.