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From the series: Großstadtballaden #1
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Kummer

Während des Sommers hatte sich Dora zunehmend viele Gedanken über die Zukunft ihres Kindes gemacht. Sie beschloss, dass es nicht weitergehen konnte wie bisher, womit sie in erster Linie Annas intensive Beziehung zum Eisbärenmädchen Masha meinte.

Feodora verstand sehr gut, dass ihre Tochter ein Stofftier brauchte, vor allem, weil sie häufig allein war. Sie verstand auch, dass Anuschka ihre Misha weniger als Spielzeug und mehr als beste Freundin betrachtete. Ihr entging aber auch nicht, dass ihre Kleine diese Beziehung zu ernst nahm.

Da diese spezielle Freundschaft bis zu dem unliebsamen Ereignis an der Fontanka keinen negativen Einfluss auf Anna gehabt hatte, hatte Feodora sie gewähren lassen, mehr noch als das, sie hatte es begrüßt, dass ihre Tochter stets mit jemandem sprechen konnte, selbst wenn dieser Jemand nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Watte, Kunststoffkügelchen, Plüsch, zwei schwarzen Plastikaugen und zwei Holzknöpfen bestand.

Aber jetzt kam Anna in ein Alter, dem nicht mehr jedes Verhalten verziehen oder als süß abgetan wurde, weder von Erwachsenen noch von den anderen Kindern. Es musste sich also etwas verändern, weil Dora befürchtete, dass Anuschka ein schweres nächstes Schuljahr haben würde, sollte sie Masha weiterhin überallhin mitnehmen.

Um diese Angelegenheit zu besprechen, unternahmen die drei Smirnowa-Damen ein Picknick. Einen Tag vor Schulbeginn mieteten sie ein Ruderboot und paddelten damit über einen nahegelegenen See im Bezirk Kolpinski Rajon.

Hierfür hatten sie zu Hause Erdnussbutter-Marmelade-Brote geschmiert, wie sie es aus amerikanischen Filmen kannten, Eistee aus abgekühltem Schwarztee und Zitronenscheiben vorbereitet sowie Äpfel und Bananen in handliche Stücke geschnitten und in Tupperware verpackt, um später gemütlich auf dem Wasser schlemmen zu können.

In diesem Sommer hatte Dora begonnen, sich wieder mehr um ihr Kind zu kümmern. Ihre Arbeitszeiten waren auf ein akzeptables Niveau gesunken. Sie musste nur mehr an drei Abenden pro Woche unbezahlte Abenddienste leisten. Der Grund dafür war die neunzehnjährige Jelisaweta, eine neue, seit August bei Medwedew & Partner beschäftigte Bürokraft, die eingestellt werden musste, weil eine der älteren Sekretärinnen in Rente gegangen war.

Jetzt war es Jelisaweta, die sich um die abendlichen, wenig fordernden, langwierigen und deshalb anstrengenden Routinetätigkeiten kümmern musste. Aber ihr machten sie nichts aus, genauso wenig wie die gehässigen Blicke der anderen weiblichen Angestellten, die ihrem guten Aussehen, ihren tiefen Ausschnitten und ihren kurzen Röcken galten.

Trotz ihrer schlechten Bildung und ihrer Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen war Jelisaweta gewillt, Erfolg zu haben. Und sie wusste, wie sie Erfolg haben würde, nämlich durch harte Arbeit und das geschickte Einsetzen ihrer femininen Reize. Sie hoffte zumindest, dass ihre straffe Haut und ihr üppiger Busen mehr Einfluss auf die Kanzleiführung haben würden als das Keifen der alten Büroschachteln, mit denen sie nicht einmal versuchte, befreundet zu sein. Jelisaweta wusste genau, was für ein Hühnerstall das Sekretariat dieser Unternehmung war, und davon wollte sie kein Teil werden.

Feodora war die einzige der älteren Bürodamen, die nichts an der Neuen auszusetzen hatte, mit ihr manchmal sogar plauschte oder ihr zeigte, wie ihre Arbeit zu erledigen sei. Immerhin war es Jelisaweta, der sie ihre freien Abende zu verdanken hatte. Und um die Zuneigung des Hühnerstalls nicht zu verlieren, machte sie hinter Jelisawetas Rücken beim gehässigen Gackern der Bürodamen mit. Freundschaft schön und gut, aber genauso wie die Neue hatte Dora auch nicht um ihre Pläne vergessen, Erfolg zu haben – was sie mehr denn je wollte, jetzt, da sie sich nicht sicher sein konnte, was aus ihrer leidgeplagten Anuschka werden würde.

Von unstillbaren Schuldgefühlen und Liebe gescheucht, versuchte Mama Dora sooft es irgend möglich war Anna etwas Gutes zu tun, vor allem indem sie etwas mit ihr unternahm. Herrgott, betete sie manchmal in Richtung Himmel, es kann doch nicht normal sein, dass ein sieben Jahre altes Mädchen sein Stofftier überallhin mitnimmt, ihm eine Stimme verleiht und selbst kaum spricht. Ihrer Kleinen die Schuld dafür zuzuschieben, das ging schwer, denn Anna hatte doch niemanden außer ihrer Mama und Misha Masha, mit dem sie reden konnte.

Zwar nahm Feodora ihr Kind mittlerweile immer mit, wenn sie eine ihrer beiden alten Bekannten aus Derevnya besuchte, die auch in St. Petersburg wohnten – die junge Näherin Shveya oder die Anwaltsgattin Zhena –, oder wenn sie Besorgungen am Gemüsemarkt unternahm, in Pekars Bäckerei oder Rybaks Fischerei, aber auch da sprach Anna kaum ein Wort. Stattdessen wurde sie schüchtern, versteckte sich hinter Mamas Rock oder erkundete, von ihrem Bärchen an der Hand geführt, die Räumlichkeiten.

Dennoch hoffte Dora, dass sie Anna, die sie zweifelsfrei im Alleingang verkorkst hatte, durch ihre Aufmerksamkeit wieder ein wenig aufpäppeln konnte. Deshalb betete sie regelmäßig für sich und ihre Anuschka, denn nur Gott konnte ihr verzeihen und einen neuen Weg für ihr Kind ebnen.

Nur der liebe Herr wusste und bestimmte, was passieren würde. Er lenkte die alleinerziehende Mutter, gab ihr Kraft und somit musste auch alles einen Grund haben, was bisher passiert war, auch Annas abnormales Verhalten – Amen.

»Liebling, wir müssen über etwas reden. Du weißt, dass du dabei bist, ein großes Mädchen zu werden, richtig?«, fragte Dora, während die beiden mit ihrem Ruderboot über das Wasser des kleinen Stadtsees mit dem Spitznamen Pfütze trieben.

»Es ist an der Zeit, dass du dein Stofftier nicht mehr in die Schule mitnimmst, weißt du?«

Anna sah ihre Mutter nicht an, sondern zu Masha, die sie über den Bootsrand blicken und mit verstellter Stimme »Nein!« sagen ließ.

»Anna, das war keine Bitte. Du musst aufhören, sie mitzunehmen. Und du musst aufhören, dein Spielzeug wie einen Menschen zu behandeln, sonst werden dich die anderen Kinder auslachen und nicht mit dir spielen wollen.«

»Das ist mir doch egal«, schrie Anna jetzt mit ihrer eigenen Stimme und ungewohnt bestimmt. »Ich mag die anderen Kinder nicht und dich mag ich auch nicht! Misha Masha bleibt bei mir!« Sie drehte den Kopf ihres Plüschtieres zu sich, als ob Masha sie ansehen würde, und dann wieder zum Wasser hin.

Erst wusste Feodora nicht, was sie erwidern sollte. Ihre Anuschka hatte ihr noch nie zuvor gesagt, dass sie sie nicht mochte. Diese Worte schmerzten das mütterliche Herz, das schneller schlug und Doras Atmung aus dem Takt brachte. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief ein- und ausatmete und ein Stück weiterpaddelte. Dann unternahm sie einen neuen Versuch.

»Anna, es ist nicht nett zu sagen, dass du deine Mama nicht liebhast. Ich liebe dich und ich will nur das Beste für dich.« Ohne eine Antwort zu erhalten, begann sie die Jause aus ihrem Rucksack zu packen. »Aber vielleicht hast du ja recht. Wieso eigentlich kann ein Kind sein Spielzeug nicht mit in die Schule nehmen?«, überlegte Feodora laut, mit dem Ziel, Anna zu beschwichtigen. »Hier, nimm und iss das Brot. Vielleicht fällt uns dann ein, wie wir Misha Masha bei dir behalten können. Du musst nämlich wissen, dass die Schule ein gefährlicher Ort für kleine Bärenmädchen ist.«

Anna bekam große Augen: »Ja, wieso?«

»Ach, das wusstest du nicht? Nun ja, Stoffbären können, wenn sie in einer Schule gesehen werden, hm, nun ja, sie können konfisziert und im Zimmer der Direktorin eingesperrt werden, wie jeder weiß. Dort gibt es so etwas wie ein Gefängnis, nur nicht für Menschen, sondern für Bärchen.«

»Wirklich? Aber wieso?«, fragte das Kind, vom Wahrheitsgehalt dieser Geschichte überzeugt.

»Ach, Anuschka, das ist doch ganz klar. Weil die Schule kein Ort für Bären oder andere Tiere ist. Oder hast du schon mal ein Tier in deiner Klasse gesehen?« Just fiel Dora ein, dass das sehr wohl möglich gewesen sein konnte, also fügte sie hinzu: »Außerdem haben viele Lehrer und Kinder Angst vor Bären. Immerhin sind das wilde Tiere und können Tollwut übertragen. Masha ist natürlich nicht so eine Art von Bär, aber das können die anderen doch nicht wissen!«

Mama Dora hoffte, dass sie mit dieser improvisierten Lüge davonkam und war erleichtert, als sie ein traurig verständiges »Oh« vernahm.

»Und was soll ich jetzt tun, Mama?«

»Na, wenn du sie schon mitnehmen musst, dann musst du mir versprechen, dass du sie unbedingt in deinem Tornister lassen wirst. Okay? Wir wollen doch nicht, dass deine Misha entführt und eingesperrt wird. Oder?«

»Nein! Nicht entführen!« Anna drückte ihr Bärchen fest an sich.

»Siehst du. Dann ist es ja gut, dass wir diese Angelegenheit besprochen haben.«

»Ja«, stimmte das Kind zu und war wieder fröhlich.

»Gut, jetzt iss dein Brot.«

*

Obwohl Anna vorsichtiger war, Masha fortan nicht mehr aus ihrem Tornister holte und nur noch flüsternd mit ihr kommunizierte, bewahrheitete sich Feodoras Befürchtung, dass ihr Kleines keine einfache Kindheit haben würde. Das Verstecken ihres Stofftieres vermochte nicht zu kaschieren, dass Anna anders als die restlichen Kinder war.

Sie war zwar nicht die einzige, die schüchtern war, aber sie hatte etwas unbestimmbar Besonderes an sich. Sie war verträumt und häufig geistesabwesend, ängstlich und naiv. Am liebsten sprach sie mit niemanden und wenn ihr jemand etwas erzählte, glaubte sie in der Regel alles.

Wie es unter Kindern üblich war, wurde jede Andersartigkeit erbarmungslos mit Hänseleien bestraft. Und hatte sich eine Klasse erst mal auf ein Kind eingeschossen, dann blieb dieses Kind meist für eine lange Zeit das Klassenopfer. In der 2-c war es Anna, die regelmäßig drangsaliert wurde, mal mehr, mal weniger und manchmal unaufhörlich, bis ihr stumme Tränen über ihre Wangen liefen oder schlimmer, sie aufgelöst nach Hause lief. In diesen Fällen hielt sie die Gemeinheiten, die ihr angetan wurden, nicht mehr aus und sie verstand nicht, weshalb die anderen Kinder ihr fiese Namen gaben, sie an den Zöpfen zogen, ihre Lernzettel zerknüllten und ähnlich kindlich Gemeines taten.

 

Von ihren Lehrern und Rektorin Baranowa, die Angst vor Feodoras Anwaltskanzlei Medwedew & Partner hatten, wurde Anna Iljinitschna Smirnowa in Ruhe gelassen. Aber sie sahen auch dann weg, wenn Anuschka misshandelt wurde, weil sie ihnen genauso suspekt war, wie sie es für die anderen Kinder war. Nur gingen die Erwachsenen anders mit ihrem Unbehagen um. Sie befanden das hässliche Entlein für zurückgeblieben und versuchten, es nach Möglichkeit nicht anzufassen. Ihrer Meinung nach brachte es Unglück.

Mama Dora hingegen sah ihr gemartertes Kind am Anfang eines Weges, von dem kein Mensch wissen konnte, wohin er führen würde - sie hoffte, ins gelobte Land. Immerhin prüfte Gott nur diejenigen, die stark genug waren, diese Prüfungen zu bestehen. Und er tat es niemals ohne Grund.

Ein Freundschaftsband für Anna

Seit dem Beginn des neuen Schuljahres waren zwei Wochen vergangen und der Alltag hatte die Randbezirke fest im Griff. Die Kälte, die sich nie weit von St. Petersburg entfernte und es das ganze Jahr über im Blick behielt, schlich sich auch 2016 schon früh im September an die Betten der Bürger. Manch einer sehnte sich morgens nach ein wenig Wärme, aber die Zentralheizungen würden voraussichtlich erst Anfang Oktober eingeschaltet werden. Das genaue Datum wusste keiner so genau, denn diese Bauchentscheidung blieb dem gesunden Menschenverstand der Obrigkeit überlassen.

Die Sensationen der wenigen sonnigen Wochen des Jahres waren beinahe vergessen. Trägheit und ein Hauch von Resignation schlichen sich in die Stuben. Hatte das Land im Sommer noch viel über die politischen Entwicklungen debattiert, dachte es jetzt wieder zuallererst an genügend Pelmeni und Kompott auf dem Abendtisch.

Den Menschen entging nicht, dass der Gürtel enger geschnallt werden musste, dass die guten Waren in den Geschäften teurer wurden und die Arbeit weniger. Aber noch ging es, noch hielten die Unsichtbaren an den Stadträndern durch, sie ackerten und existierten. Das war schon immer ihr Leben gewesen.

Der sowjetische Prinz versprach, dass alles gut werden würde, und die meisten glaubten ihm. Nur diejenigen nicht, die ganz unten angekommen waren. Männer im besten Alter etwa, die sich außer Wodka nichts mehr leisten konnten und das öffentlich zur Schau stellten. Oder Omas, die ihr letztes Hab und Gut an den unsanierten Straßenecken für wenige Rubel verkauften. Oder die jungen Mädchen daneben, die dasselbe mit ihren Körpern versuchten.

Es war nicht zu übersehen, was passierte, aber da jeder seine eigenen Sorgen hatte, sprach keiner darüber. Und wenn das Straßenbild jemandem doch einmal naheging, dann fragte er im Vorbeigehen leise vor sich hin: »Und das alles wegen der verdammten Krim?«

Lange grübelte aber keiner über diese Missstände nach, weil stets ein Abendessen gekocht, für ein bisschen Geld gearbeitet oder ein Fläschchen mit 100 Gramm Hochprozentigem besorgt werden musste. Außerdem; was half es schon, dachten sich die meisten. Es würde sich ja doch nichts ändern.

Auch in der Schule Nr. 348 hatte sich der Alltag eingependelt. Die Pädagogen brachten den Kindern bei, was das Curriculum von ihnen verlangte. Die Kinder lernten, weil sie lernen mussten. Und Anna wurde gehänselt, weil sie anders war. Wenn ihr das zu viel wurde, dann weinte sie und als Konsequenz wurde sie auf den Gang oder ins Rektorat geschickt, damit sie sich beruhigen konnte. Es sah nicht danach aus, als ob sich irgendetwas an diesem bedauernswerten Status quo hätte verändern können. Und dann kam Polina.

In der ersten Schulstunde, an einem verschlafenen Montag, wurde sie von Koslowa ins Klassenzimmer geführt und vorgestellt: »Setzen. Das ist Polina Gromowa aus Moskau. Sie ist neu in St. Petersburg und ab heute in unserer 2-c.«

»Polina Burattina«, sang einer der Streichholzkopf-Jungen kleinlaut und erntete kindliches Gekicher. Mit seiner Anspielung auf Pinocchio verglich er die Neue, die sehr dünn war und deren Arme und Beine wie Zahnstocher aus ihrer kurzärmeligen Bluse und ihrem kurzen Rock ragten, mit dem Jungen aus Holz.

»Ruhe!«, keifte Koslowa, was den Jungen nicht sonderlich beeindruckte, der weiterhin stumpf und gemein in Richtung der Neuen grinste. »Neben Anna ist noch ein Platz frei. Hier. Setzt dich. Wir können dich später noch genauer vorstellen. Jetzt gibt es erst mal Mathe. Schlagt euere Bücher auf Seite vierundzwanzig auf. Plusrechnen bis 100.« Geschlossen seufzten die Schüler, weil sie wussten, dass sie in spätestens einer halben Stunde vor Langeweile auf ihren Stühlen zerfließen würden.

Während Koslowa erste Rechenübungen mit Kreide auf die grüne Tafel schrieb, setzte sich Polina neben Anna und fing an, ihren Platz einzurichten.

»Hallo. Mein Name ist Polina Andrejewna Gromowa. Und du bist Anna, und wie noch?«, flüsterte sie, sah zu Annas Tischhälfte rüber, auf der ein Schreibblock, das Mathelehrbuch, ein Federpenal, eine Safttüte und eine Banane lagen, holte ihrerseits Block, Buch, Federpenal, Safttüte und eine Birne aus ihrem Rucksack und platzierte ihre Utensilien spiegelverkehrt, damit sich ihre beiden Tischhälften glichen. Anna sah zu, blieb aber still.

»Willst du nicht meine Freundin sein?«, fragte Polina uns sah ihrer Sitznachbarin direkt in die Augen. »Wir müssen keine Freundinnen sein, wenn du nicht willst.«

Anna wollte antworten, aber etwas in ihr hielt sie zurück. Stattdessen holte sie einen Bleistift, einen Marker und einen Radiergummi aus ihrem Federpenal, um mitschreiben zu können. Polina tat es ihr nach und lächelte sie an. Anna war schüchtern, aber als sie sich die wiederhergestellte Symmetrie ansah, musste auch sie lächeln. In diesem Moment erfuhr sie ein warmes Gefühl in ihrem Bauch, dass sie so noch nicht gekannt hatte. Es umspielte ihn und er kribbelte.

»Anna Iljinitschna Smirnowa«, sagte sie leise und hielt ihre Augen geschlossen, als ob sie sich verstecken wollte, riss sie aber quieksend wieder auf, weil Polina sie stürmisch umarmte.

»Also willst du doch meine Freundin sein? Danke! Wir werden eine Menge Spaß zusammen haben. Polina und Anna, beste Freundinnen. Magst du Birnen? Ich nicht. Magst du meine haben? Dafür mag ich Bananen. Wollen wir tauschen?« Polina sprach so schnell und so viel, dass Anna weiter gar nichts mehr sagen konnte und nur mehr nicken musste. Aber das machte ihr nichts aus. Sie mochte die Neue trotzdem, weil sie lustig war.

»Ruhe«, rief Koslowa, ohne nach hinten zu sehen.

An diesem Tag lernte Anuschka also ihre erste Freundin kennen und in den kommenden Tagen, Wochen und Monaten wuchsen die beiden zusammen. Da Polina mit ihren Eltern und ihrem fünf Jahre älteren Bruder Iwan in eine der drei benachbarten Blockbauten gezogen war, verbrachten die Mädchen nicht nur alle Pausen zusammen, sondern auch die Wege zur und von der Schule. Jeden Morgen, wenn Schule war, trafen sie sich vor dem Blumenladen der Babuschka Tsvetkova, dem kleinen Häuschen, das unmittelbar vor ihren Plattenbauten an der Pribrezhnaya Straße stand und wie ein übergebliebenes Legosteinchen aussah. Und nachmittags trennten sie sich dort wieder.

Während ihrer Unterhaltungen sprach vor allem Polina, die nur schwer zu bremsen war, wenn sie einmal losgelegt hatte. Sie war eine Quasselstrippe, wie sie im Buche stand, hielt nichts zurück, was ihr durch den Kopf ging, und das war nicht immer gesellschaftstauglich, höflich oder nett, wie es die meisten Erwachsenen von einem siebenjährigen Mädchen gerne gehabt hätten. Dieses Verhalten war anhand der abenteuerlichen Verhältnisse zu erklären, in denen Polina und Iwan aufgewachsen waren.

Als Tochter eines Generalmajors der russischen Streitkräfte hatte sie eine strenge und auf Disziplin ausgelegte Erziehung erfahren, der sie und ihr Bruder außerhalb der elterlichen Obhut nach Möglichkeit mit gegenteiligem Verhalten entgegensteuerten. Hinzukam, dass sie mit ihren sieben Jahren schon erstaunlich viel herumgekommen war.

In Moskau geboren, hatte sie mit zwei Jahren nach Nowosibirsk müssen, ein halbes Jahr später nach Tomsk, wo ihre Familie immerhin eineinhalb Jahre geblieben war, dann zurück nach Moskau, für drei Jahre, und jetzt hierher, an die Newa. Das viele Reisen hatte das dürre Kind redselig gemacht, denn einen anderen Weg gab es nicht, neue Freunde kennenzulernen. Gleichzeitig war Polina einigermaßen immun gegen die vielen Sticheleien der anderen Kinder geworden, die sie für blöd befanden, weil sie von woanders kam und frech war, mehr noch, sich manchmal robust und widerstandsfähig wie ein Junge gab, manchmal sogar Spuckte, Fluchte, ihren Stinkefinger zeigte oder ähnlich Unschickliches an den Tag legte.

Anna und Polina waren also beide anders. Jede auf ihre Art. Und das war auch der Grund, weshalb ihnen ihre Freundschaft guttat, weil sie sich beieinander sicher fühlten, normal, nicht wie Ausgestoßene, sondern wie ein Team, das zusammen stark gegen den Rest der Welt war.

Und so, wie sie ihr Glück teilten, teilten sie auch ihren Kummer, wenn eine von ihnen gehänselt wurde. Wenn Polina als Bohnenstange, Pinocchio oder Assi und Anna als Zurückgebliebene, Dumme oder Verrückte bezeichnet wurde, fühlten sich beide schlecht. Meistens hatte Polina einen kecken Spruch als Antwort parat und tröstete Anna, dass die anderen blöd seien und sie beide viel toller wären, eben weil sie anders als die anderen waren. Das hatte ihr Bruder Iwan früher zu ihr gesagt, wenn sie geärgert wurde, und jetzt sagte sie es ihrer Freundin, die schwächer als sie war und um die sie sich kümmern musste.

Bald fingen die Jungs der 2-c an, noch frecher zu werden. Sie zupften die beiden Mädchen an deren Schuluniformen, zogen leicht an ihren Zöpfen, nahmen ihnen Stifte und Blöcke weg und versteckten ihre Rucksäcke, wenn sie nicht hinsahen. Ähnliches trieben die Jungs auch untereinander, weshalb keiner großes Aufhebens um dieses typisch rowdyhafte Verhalten machte. Aber es fiel dennoch auf, dass Polina und Anna die bevorzugten Opfer solch kindlicher Streiche waren.

Je enger Polina und Anna aneinanderwuchsen, je glücklicher sie miteinander waren und das auch offen zur Schau stellten, indem sie kicherten, sich gegenseitig Zöpfe flochten und Klatschspiele spielten, desto gemeiner wurden die anderen Kinder zu ihnen. Die Jungs konnten jetzt nicht nur ihre Andersartigkeit nicht leiden, sondern auch ihr Glück. Und die anderen Mädchen waren neidisch auf ihre enge Freundschaft.

Also begann der härtere Tobak. Einmal stellte Artjom, der schamloseste Rüpel der Klasse, Anna ein Bein, als sie eine Treppe im Schulgebäude hinunterstieg. Ihr passierte nichts, aber vor lauter Schreck weinte sie. »Was wollt ihr tun?«, fragte der Junge provokant und stand breitbeinig da, wie er es sich von einem Erwachsenen abgeguckt haben musste. Aber mit Polinas Faust, die in seinem Gesicht landete und eine blutende Nase hinterließ, hatte er nicht gerechnet, weshalb auch er sich zu Boden warf und zu weinen begann.

»Hilfe, Hilfe, Frau Lehrerin, Hilfe«, schrie er und wand sich übertrieben auf dem Boden. Die anderen Jungs und Mädchen zeigten mit den Fingern auf ihn und er wurde rot im Gesicht. Polina half ihrer Freundin auf und war mächtig stolz auf sich. Als Koslowa kam, um zu sehen, was los war, petzte Artjom seine Version der Geschichte: »Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!« Polina aber blieb still und wurde ins Rektorat geschickt, was ihr nicht viel ausmachte.

Dort musste sie zwar von ihrem Vater abgeholt werden, dem Generalmajor Gromow, aber er würde sie verstehen, daran hegte sie keinen Zweifel. Ihr Papa war ein Berg von einem Mann, mit dem man nicht gerne diskutierte, außer man hieß Polina und war Papas kleiner Schmetterling, denn dann konnte es sogar Spaß machen.

Da sich der Generalmajor nahezu immer im Dienst befand, traf man ihn zumeist in seiner autoritären moosgrünen Uniform an – so auch an diesem Tag, als er das Schulgebäude Nr. 348 betrat. Aus Gewohnheit übernahm er, ohne zu zögern, die Gesprächsführung, ließ erst Schulleiterin Baranowa reden und dann seine Tochter, deren Geschichten sich deutlich voneinander unterschieden. Auf die Frage hin, wieso Baranowa nicht beide Parteien zum Vorfall befragt hatte, wusste sie nicht recht zu antworten.

 

»Herr Gromow, das hätten wir natürlich tun sollen, da gebe ich Ihnen vollkommen recht, aber Gewalt darf in unserer Schule nicht vorkommen. Ich denke, das verstehen Sie.«

Der Generalmajor war streng und geradlinig, aber nicht ungerecht und er hütete sich davor, seine machtvolle Erscheinung auszunutzen.

»Ich verstehe vor allem, dass meine Tochter sich und ihre Freundin vor einem Aggressor verteidigt hat und darauf bin ich sehr stolz. Sollte sie noch einmal angegriffen werden, hoffe ich, dass sie couragiert genug sein wird, sich wieder zu verteidigen. Mit allen Mitteln.« Papa Gromow wendete sich liebevoll zu seiner Tochter: »Gut gemacht, Engelchen. Ich bin stolz auf dich.«

Von der Reaktion des Vaters überrascht und von seiner Uniform angetan, gab Baranowa ihm schließlich nicht nur Recht, weil sie sich rhetorisch nicht mehr zu helfen wusste, sondern sie überlegte, ob sie vielleicht wirklich falsch gehandelt hatte. »Natürlich, Sie haben wahrscheinlich Recht.«

Er sah sie zweifelnd an.

»Sie haben Recht, Sie haben sicher Recht.«

*

Da Artjom die Erniedrigung Polinas nicht auf sich sitzen lassen konnte, kam es schon bald zu einem weiteren Gefecht zwischen ihm und den beiden Klassenopfern. Es passierte nach einem Schultag. Die Kinder strömten aus dem Schulgebäude und machten sich auf ihre Wege in Richtung Zuhause. Da stellten sich der Chefrüpel und zwei seiner Komplizen vor Anna und Polina und bespritzten sie mit Mayonnaise, Ketchup und Remoulade. Als Artjom sah, dass die Mädchen zwar geschockt waren, aber nicht aufgelöst und schreiend davonliefen, ging er zu Polina und fing an, sie übel zu beschimpfen. Er sagte Dinge über ihre Mutter, ihren Vater und ihren Bruder. An anderen Tagen hätte sie diesen Attacken vielleicht standgehalten, aber nicht an diesem. Sie fing an zu weinen und lief weg – und Anna lief ihr hinterher.

Bis zum nächsten Morgen durfte sich Artjom in Sicherheit wiegen und mit seiner Tat vor seinen Mitschülern brüsten. Bis dahin wusste er noch nicht, dass sich seine Gegnerin bei Bruder Iwan ausgeheult und dieser auf ihren Kummer mit den Worten »Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum, dass er dich nie wieder belästigen wird«, geantwortet hatte. Und wenn Iwan seiner jüngeren Schwester ein Versprechen gab, dann hielt er es auch.

Am nächsten Morgen, noch vor dem Läuten zur ersten Unterrichtsstunde, bekamen Artjom und seine Freunde wenig elegant, dafür äußerst diskret und effektiv, die Gesichter von Iwan und seinen beiden besten Freunden poliert. Hinterher gab es eine Drohung, die sicherstellte, dass keines der Kinder ihren Lehrern oder Eltern petzte, wer es gewesen war. Ab diesem Tag hatten Polina und Anna es deutlich einfacher. Artjom und seine Freunde suchten sich neue Opfer, aber sie schafften es nie wieder, mit der gleichen Energie und Leidenschaft wie zuvor zu ärgern und gemein zu sein.

Den Mädchen konnte es egal sein und sie hatten nie erfahren, was passiert war. Sie merkten nicht einmal richtig, dass sie keiner mehr ärgerte. So sehr waren sie damit beschäftigt, einander kennenzulernen, sich Märchengeschichten auszudenken und darin zu verlieren, wie Siebenjährige es nun mal gerne tun.

Und als die Mädchen der 2-c während eines Bastelunterrichts lernten, wie man Freundschaftsbänder knüpfte, bestand kein Zweifel daran, wer Annas und wer Polinas Bastelei bekommen würde.