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Theoretiker aus der Tradition der Autonomia haben auf die Wende von der Fabrikarbeit zur sogenannten »kognitiven« Arbeit hingewiesen. Doch Arbeit kann affektiv und linguistisch sein, ohne dass sie kognitiv ist – wie ein Kellner kann auch der Arbeiter im Call Center eine Aufmerksamkeit aufbringen, ohne denken zu müssen. Für diese nicht-kognitiven Arbeiter ist Denken ein Privileg, das sie nicht besitzen.

Die gedämpfte Stimmung von eXistenZ antizipiert die Banalität des digitalen Zeitalters; es ist die Banalität einer digitalen, automatisierten Welt – menschenähnliche Stim­men, die Ankunft und Abfahrt am Bahnhof ansagen, Spracherkennungssoftware, die unsere Stimmen nicht er­kennt, Call-Center-Angestellte, denen ein mechanisch zu wiederholendes Skript eingebläut wird – und sie findet in eXistenZ einen prägnanten Ausdruck.

Politik der De-Identifizierung 104

Die Diskussion über V wie Vendetta war sehr viel interessanter als es der Film verdiente. Ja, man verspürt einen gewissen Schauer, wenn ein großer Hollywoodfilm sich weigert, Terrorismus unzweideutig zu verurteilen, doch der politische Gehalt des Films (wie auch des Comics) ist in Wirklichkeit ziemlich mager. Die Schuld daran trägt Alan Moore; den Wachowski-Brüdern kann man sie nicht in die Schuhe schieben. Wie Moores ganzes Werk ist V wie Vendetta weniger als die Summe seiner Teile. Ich habe mich bereits früher über die ständigen Bemühungen Moores beschwert, sich und seine Leser ihrer Bildung zu versichern – immer dann, wenn man kurz davor ist, der fiktionalen Welt zu erliegen, scheint es als würde Moore einem auf die Schulter tippen und sagen, »Leute, da stehen wir doch drüber, oder?« –, was enorm ablenkend und irritierend ist.

Was die Politik in V wie Vendetta angeht: Abgesehen von den Szenen, in denen es um subjektives Elend geht, handelt es sich im Wesentlichen um ein Beispiel der bekannten populistischen Ideologie, die davon ausgeht, dass die Welt von einer korrupten Oligarchie kontrolliert wird, die man stürzen könnte, wenn die Menschen nur von ihr wüssten. Steven Shaviro schreibt, »anstatt zu versuchen, alle Teile der Gesellschaft zufrieden zu stellen, identifiziert der Film eine tief religiösen, homophoben, ultrapatriotischen, imperialistischen Überwachungsstaat als die Quelle aller Unterdrückung.«105 Doch besteht nicht genau darin der Versuch, »alle Teile der Gesellschaft zufrieden zu stellen«, da schließlich kaum ein homophober Faschist sich selbst als homophober Faschist identifiziert und es schwer vorstellbar ist, dass sich irgendjemand für Hurts mit Schaum vor dem Mund vorgetragene Tiraden begeis­tert, ganz davon zu schweigen, ihn zu wählen. Postmoderner Faschismus weist den Faschismus von sich (siehe das Flugblatt der British National Party, das mir in Brom­ley den Briefkasten geworfen wurde; darauf befand sich das Foto eines lächelnden Kindes mit dem Slogan: »Mein Daddy ist kein Faschist«), ebenso wie Homophobie von sich weist, Schwule und Lesben zu hassen. Die Strategie besteht darin, sich der Identifikation zu verweigern, aber trotzdem ein politisches Programm zu verfolgen. »Natürlich lehnen wir Faschismus und Homophobie ab, aber…« Die Regierung in dem Wachowski-Film verbannt den Koran, aber das wäre das letzte, was Blair und Bush tun würden; nein, sie würden den Islam als »Religion des Friedens« loben, während sie Muslime bombardieren. Blairs autoritärer Populismus106 ist weitaus gefährlicher als die Pantominenautokratie in V wie Vendetta und zwar gerade weil es Blair gelingt, sich als »vernünftigen, ehrlichen Typ darzustellen, der auf der Seite des einfachen Mannes steht«. Auch Bushs linguistische Inkompetenz hat seinen Erfolg nicht verhindert, sondern befördert, da er sich so als »Mann des Volkes« darstellen und seinen privilegierten Hintergrund, seine Ausbildung in Harvard und Yale, verdecken konnte. Es ist bezeichnend, dass in dem Film nicht einmal von Klasse die Rede ist. Wie Jameson trocken in »Marx’s Purloined Letter« schreibt, ist es nicht

»besonders überraschend, dass das System ein gesteigertes Interesse daran hat, die Kategorien, in denen wir Klasse denken, zu verzerren und stattdessen Rasse und Gender in den Vordergrund zu rücken, die für liberale Lösungen sehr viel geeigneter sind (in anderen Worten, Lösungen, die die Notwendigkeiten der Ideologie erfüllen, also das im konkreten, gesellschaftlichen Leben, die Probleme weiterhin unfassbar bleiben).«107

Bei den entscheidenden Szenen in V wie Vendetta, als sich die Menschen erheben (inzwischen eigentlich gegen niemanden), musste ich nicht an irgendein berühmtes politisches Ereignis denken, sondern eher an die Kampagne »Make Poverty History« – ein »Protest«, den kaum jemand ablehnen kann. Der Vergleich mit Fight Club tut V wie Vendetta keinen Gefallen; Tyler Durdons Terror richtete sich nicht gegen die verstaubten Symbole der politischen Klasse, sondern die Caféunternehmen und Wolkenkratzer des unpersönlichen Kapitals.

Ich bin kein Fan von Matrix, aber der Film hat zwei Dinge geschafft, die V wie Vendetta niemals gelingen werden. Matrix wurde zu einem gewaltigen Pulp-Mythos (Und wer außer Akademiker wird sich in einem Jahr noch an V wie Vendetta erinnern? Und es wird ein weiteres Jahr dauern, bis Akademiker erkennen, dass der viel interessantere und raffiniertere zweite Teil von Basic Instinct eine Untersuchung wert ist). Viel wichtiger aber ist: Matrix behauptete, dass die Frage, was als »real« gelten kann, eine politische ist.

Es ist diese ontologische Ebene, die in dem progressiven, populistischen Modell fehlt, in dem die Massen nichts anderes als Dummköpfe sein können, die von den Lügen der Elite hinters Licht geführt werden, aber sofort zur Veränderung bereit sind, wenn sie nur die Wahrheit erfahren. Tatsächlich machen sich die »Massen« natürlich keine Illusionen über die herrschenden Eliten (wenn irgendjemand an die Politiker und den »kapitalistischen Parlamentarismus« glaubt, dann die Mittelklasse). Das Subjekt, Dem Unterstellt Wird, Nicht Zu Wissen, ist ein Produkt der populistischen Phantasie – mehr noch: Das hintergangene Subjekt, das auf faktische Aufklärung war­tet, ist das Fundament, auf dem der progressive Populismus beruht. Wenn die entscheidende politische Aufgabe darin besteht, die Massen über die Bestechlichkeit der herrschenden Klasse aufzuklären, dann ist der bevorzugte Diskursmodus die Denunziation. Doch damit wird die Logik der liberalen Ordnung eher wiederholt als infrage gestellt; es ist kein Zufall, dass die Mail und der Express sich derselben denunziatorischen Sprache bedienen. Angriffe auf Politiker neigen dazu, die Atmosphäre des diffusen Zynismus, auf dem der kapitalistische Realismus beruht, zu verstärken. Man braucht nicht noch mehr Beweise für die Bösartigkeit der herrschenden Klasse, sondern die unterdrückte Klasse muss glauben können, dass das, was sie denkt oder sagt, eine Rolle spielt; dass sie die einzige ist, die effektiv eine Veränderung herbeiführen kann.

Das bringt uns zu der Frage der reflexiven Ohnmacht zurück. Die Macht der Klasse beruhte immer auf einer Art reflexiven Machtlosigkeit, worin der Glaube der unterdrückten Klasse an die eigene Ohnmacht eben jene Situation verstärkt. Natürlich wäre es grotesk, die Beherrschten für ihr Beherrschtsein verantwortlich zu machen; doch zu ignorieren, inwiefern sie durch diese selbsterfüllende Prophezeiung die herrschende Ordnung mit unterstützen, bedeutet ironischerweise, ihnen ihre Handlungsmacht abzusprechen.

»Klassenbewusstsein«, so Fredric Jameson in »Marx’s Purloined Letter«,

»dreht sich in erster Linie um Subalternität, also um das Gefühl der Minderwertigkeit. Das bedeutet, dass die ›niederen Schichten‹ in ihren Köpfen die unbewusste Überzeugung herumtragen, dass die Werte und Produkte der hegemonialen oder herrschenden Klasse über­legen sind, während sie sie zugleich in ritueller (und gesellschaftlich wie politisch ineffektiver) Weise durchkreuzen und zurückweisen.«

Insofern gibt es die Möglichkeit, dass Minderwertigkeit weniger Klassenbewusstsein ausdrückt als Klassenunbewusstsein, dass es weniger um Erfahrung geht als um die ungedachten Bedingungen von Erfahrung. Minderwertigkeit ist in diesem Sinne eine ontologische Hypothese, die empirisch nicht widerlegt werden kann. Beweise für die Korruption oder Inkompetenz der herrschenden Klassen verhindern trotzdem nicht, dass du das Gefühl hast, sie besäßen irgendeine Agalma, einen geheimen Schatz, der ihnen das Recht verleiht, die Position der Herrschaft einzunehmen.

Es ist schon genug geschrieben worden über diese Form der Verdrängung von Klasse, die Menschen wie ich erfahren haben. Die Nigel-Barton-Filme von Dennis Potter sind wahrscheinlich immer noch die treffendste Anatomie jener Einsamkeit und Agonie, die man erfährt, wenn man aus dem einschränkenden, bequemen Fatalismus der Arbeiterklasse heraus katapultiert und in die unverständlichen, schrecklich verführerischen Rituale der Welt des Privilegs hineingeworden wird. »A drive from nowhere leaves you in the cold // Eine Fahrt aus dem Nirgendwo lässt dich in der Kälte zurück«, wie Associates in »Club Country« gesungen haben, »Every breath you breathe belongs to someone there // Jeder Atemzug gehört dort jemand anderen«.

Solche Erfahrungen gleichen einem cartesianischen Paradox, insofern als sie bedeutsam nur deswegen sind, weil sie eine Distanzierung von der Erfahrung als solcher produzieren; nachdem man sie einmal durchgemacht hat, kann man Erfahrung nicht mehr als natürliche oder ursprüngliche, ontologische Kategorie betrachten. Die Klasse, die vorher gewissermaßen eine Hintergrundannahme war, schaltet sich dazwischen – weniger als Ort des heroischen Kampfes, sondern als Menagerie kleinerer Schammomente, Peinlichkeiten und Ressentiments. Was man bis dahin als gegeben hinnahm, erweist sich plötzlich als kontingente Struktur, die bestimmte Effekte (und Affekte) hervorruft. Und trotzdem ist die Struktur zäh; die Annahme von Minderwertigkeit bildet so etwas wie ein Betriebssystem, das bereits vorab die Welt mit Sinn belegt. Von sich selbst zum Beispiel zu glauben, man könne einen »professionellen« Job ausführen, erfordert eine traumatische Perspektivveränderung und wenn dann Selbstzweifel und Nervenzusammenbrüche auftreten, dann sind sie oft das Ergebnis des Betriebssystems, das sich plötzlich geltend macht.

 

Die wirkliche Lektion aus Potters Barton-Filmen handelt nicht in fatalistisch-heroischer Weise von den Qualen des charismatischen Individuums, das sich unnachgiebigen gesellschaftlichen Strukturen gegenübersieht. Die Fernsehdramen müssen stattdessen als Votum gegen ein Verständnis von Klasse als Ethnizität und für einen Begriff von Klasse als Struktur gelesen werden; wie sie jedenfalls deutlich machen, produzieren die düsteren Maschinerien der sozialen Struktur die sichtbare Ethnizität von Sprache, Verhalten und kultureller Erwartung. Die Filme formulieren nicht die Forderung nach einer Wiederaufnahme in die Gemeinschaft, die einen verstoßen hat oder einen vollständigen Aufstieg in die Elite, sondern sie plädieren für eine Form der Kollektivität, die es noch nicht gibt.

Potters Herausforderung des Naturalismus ist deswegen mehr als postmoderne Trickserei. Indem er zeigt, wie Fiktionen Wirklichkeit hervorbringen und welche Rolle das Fernsehen dabei spielt, öffnet er sich all den ontologischen Themen, die bekanntere, traditionellere Schriftsteller des Realismus verdecken oder verzerren. Es gibt keinen Realismus, so legt Potter nahe, jenseits des Realen des Klassenantagonismus.

Vielleicht ist jetzt eine gute Gelegenheit, auf zwei Fragen einzugehen, die Bat in Reaktion auf das Posting zur reflexiven Ohnmacht geschickt hat.108 Als erstes hat Bat gefragt, ob die Situation für französische Teenager anders ist als für englische. Das ist einfach zu beantworten, da es genau das Problem betrifft, mit dem sich das Posting beschäftigte. Französische Studenten sind viel stärker in ein fordistisches/disziplinäres Bezugssystem eingespannt als englische. In der Bildung und im Arbeitsleben haben die disziplinären Strukturen in Frankreich überlebt und stellen einen Kontrast sowie einen Widerstand gegenüber der Genuss-Matrix des Cyberraums dar. (Aus Gründen, die ich in Kürze darlegen werde, ist das aber nicht unbedingt etwas Gutes.) Die zweite Frage rührt an wichtigere Themen: Verstärkt das Reden über die reflexive Ohnmacht nicht genau den interpassiven Nihilismus, den es angeblich kritisiert? Ich würde sagen, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Zu keinem Posting haben mich mehr Zuschriften erreicht als zu dem über reflexive Ohnmacht; und zwar vor allem von Teenagern und Studenten, die diesen Zustand kennen, aber statt von seiner Analyse noch deprimierter zu werden, seine Benennung inspirierend finden. Dafür gibt es gute spinozistische und althusserianische Gründe – das Netzwerk von Ursache und Effekt zu sehen, in dem wir gefangen sind, ist bereits Freiheit. Deprimierend ist hingegen der unerbittliche Optimismus der offiziellen Kultur, der uns immer wieder ermahnt, begeistert zu sein über das neuste, dröge, glänzende Produkt und ermahnt, positiv zu denken. Ein gewisser »vulgärer Deleuzianismus«, der gegen jede Negativität predigt, liefert die Theologie für diese zwanghafte Begeisterung, die in religiöser Schwärmerei von den Segen spricht, die uns zur Verfügung stehen, wenn wir nur noch stärker konsumieren. Doch was oft so inspirierend ist – in der Politik wie auch in der Populärkultur – ist die Fähigkeit, gegenwärtige Bedingungen zu zerstören. Der Slogan sollte daher weder »Die Dinge stehen gut, daher gibt es keinen Grund zur Veränderung«, noch »Die Dinge stehen schlecht, sie können nicht verändert werden« lauten, sondern »Die Dinge stehen schlecht und deswegen müssen sie verändert werden.«

Das bringt uns zur subjektiven Destitution, von der ich, anders als Steve Shaviro, glaube, dass sie tatsächlich die Vorbedingung für jedes revolutionäre Handeln ist. Die Szenen in V wie Vendetta, in denen es um das persönliche Leid von Evey geht, sind die einzigen, die wirklich eine politische Kraft entfalten. Aus diesem Grund waren es auch die einzigen, die ein wirkliches Unwohlsein erzeugen; der Rest des Films rührt nicht an den liberalen Sensibilitäten, die wir alle mit uns herumtragen. Das liberale Programm artikuliert sich nicht nur durch die Logik der Rechte, sondern auch, und das ist entscheidend, durch den Begriff der Identität, denn V greift sowohl Eveys Rechte als auch ihre Identität an. Steve sagt, dass man subjektives Elend nicht wollen kann. Ich hingegen sage, dass man es nur wollen kann, da es die existenzielle Wahl in ihrer reinsten Form darstellt. Subjektive Verelendung vollzieht sich nicht einfach auf empirische Weise; es handelt sich vielmehr um ein Ereignis in dem Sinne, als es eine unkörperliche Verwandlung ist, eine ontologische Verschiebung, der man zustimmen muss. Die Entscheidung Eveys besteht zwischen der Verteidigung ihrer (alten) Identität – was natürlich auch eine Verteidigung des Bezugssystems bedeutet, das ihr diese Identität zugesprochen hat – und der Evakuierung aller früherer Identifikationen. Was dadurch in klarster Weise sichtbar wird, ist der Unterschied zwischen liberaler Identitätspolitik und proletarischer De-Identifizierung. Identitätspolitik strebt nach Respekt und Anerkennung durch die Meis­terklasse; die Politik der De-Identifizierung will die Auf­lösung des klassifizierenden Apparats selbst.

Darum handelt es sich bei den englischen Studenten eher um revolutionäre Subjekte als bei ihrem französischen Pendant. Der aus der Welt geworfene Depressive ist in einer besseren Situation, sich der subjektiven Verelendung zu unterziehen, als jemand der glaubt, dass es in der gegenwärtigen Ordnung ein Zuhause gibt, das erhalten und verteidigt werden kann. Egal ob in einer psychia­trischen Anstalt oder in ihrer häuslichen Umgebung, durch verschreibungspflichtige Drogen in Zombies verwandelt, die Millionen, die unter dem Kapitalismus geis­tigen Schaden genommen haben – die stillgelegten, fordistischen Roboter, die wegen Arbeitsunfähigkeit von Sozialhilfe leben, oder die Reservearmee der Arbeitslosen, die noch niemals gearbeitet haben –, könnten die nächste revolutionäre Klasse werden. Denn sie haben wirklich nichts zu verlieren …

» Sie sind immer der Hausmeister gewesen«:
Die gespenstischen Räume des Overlook Hotel109

»Anachronistisch an der Geistergeschichte ist ihre kontingente und konstitutive Abhängigkeit von einem physischen Ort und im Besonderen vom Haus an sich. Zweifelsohne heftet sich in vormodernen Zeiten die Vergangenheit störrisch an offene Räume, wie einen Galgenberg oder ein heiliges Gräberfeld; doch im goldenen Zeitalter der Genres ist das Gespenst eins mit einem alten Gebäude […] Nicht der Tod als solcher, sondern die Sequenz der ›sterbenden Generation‹ ist der Skandal, den die Geistgeschichte für eine bürgerliche Kultur wiedererweckt, die triumphierend den Ahnenkult, die objektive Erinnerung des Klans oder der erweiterten Familie vertrieben hat und sich damit selbst auf die Lebenszeit eines biologischen Individuums verurteilt. Kein Gebäude bringt das so sehr zum Ausdruck wie das Grand Hotel, dessen immer weiter auseinander liegende Betriebszeiten die Verwandlungen der amerikanischen müßigen Klasse des späten 19. Jahrhundert bis zu den Ferien der heutigen Konsumgesellschaft nachvollzieht.«

Fredric Jameson, »Historicism in The Shining«110

»Weniger bekannt dürfte aber sein, daß die stärkste zwangsartige Beeinflussung von jenen Eindrücken herrührt, die das Kind zu einer Zeit treffen, da wir seinen psychischen Apparat für noch nicht vollkommen aufnahmefähig halten müssen. An der Tatsache selbst ist nicht zu zweifeln, sie ist so befremdend, daß wir uns ihr Verständnis durch den Vergleich mit einer photographischen Aufnahme erleichtern dürfen, die nach einem beliebigen Aufschub entwickelt und in ein Bild verwandelt werden mag.«

Sigmund Freud, Der Mann Moses und

die monotheistische Religion 111

Raum ist der Geisterhaftigkeit immanent, wie eine der Bedeutungen des Wortes »haunt«112 – ein »Ort« – belegt. Wird man von etwas verfolgt, so bedeutet dies sowohl eine Störung der Zeit als auch des Raumes. Es geschieht, wenn in einen Raum eingedrungen oder er von einer aus den Fugen geratenen Zeit, einer Dyschronie, unterbrochen wird.

Shining – Stephen Kings Roman und Stanley Kubricks »nicht getreue« Filmversion, die beide, wie ich zeigen möchte, als ein textuelles Labyrinth zu verstehen sind – handelt fundamental von Fragen der Wiederholung. In Marx’ Gespenster definiert Derrida Hauntology als die Analyse dessen, was sich wiederholt, ohne jemals präsent zu sein. Darüber hinaus können wir sagen, dass der Wiedergänger sich wiederholt, ohne jemals präsent gewesen zu sein – worin dann »Ort« dasselbe bedeutet wie »Zeit«. Nichts besetzt den Ort des Ursprungs, dasjenige, was uns verfolgt, insistiert, ohne zu existieren. Wir werden darauf zurückkommen (oder wäre es angemessener zu sagen, dass es zu uns zurückkommen wird?).

Gerade weil Wiederholungen so zentral für Shining sind, handelt es sich um ein zutiefst psychoanalytisches Werk. Man könnte sagen, dass es das Familiendrama der Psychoanalyse in Horror verwandelt, obgleich es eigentlich noch viel mehr tut; es beweist, was viele lange vermutet haben – dass die Psychoanalyse selbst zum Horrorgenre gehört. Wo sonst würde man Begriffe wie den Todestrieb, das Unheimliche, das Trauma und den Wiederholungszwang finden?

Allerdings handelt The Shining von der Wiederholung im kulturellen und im psychoanalytischen Sinne. Daher Jamesons Interesse an dem Film. Schließlich hat er die Postmoderne mit dem Begriff der Wiederholung beschrieben, allerdings einer verleugneten Wiederholung. Der »nostalgische Modus«, von dem er spricht, bezeichnet einen fast omnipräsenten und dennoch uneingestandenen Modus der Wiederholung, in einer Kultur, in der die Bedingungen für das Originale und Neue nicht mehr existieren oder nur unter sehr außergewöhnlichen Umständen. Die Nostalgie, um die es geht, ist weder eine psychologische noch eine affektive Kategorie. Sie ist vielmehr strukturell und kulturell, sie meint nicht die individuelle oder kollektive Sehnsucht nach der Vergangenheit. Fast im Gegenteil, der nostalgische Modus handelt von der Unfähigkeit, sich überhaupt etwas anderes vorzustellen als die Vergangenheit, die Unfähigkeit, For­men zu entwickeln, die mit der Gegenwart, ganz zu schweigen von der Zukunft, in Kontakt treten können. Jameson behauptet, dass Darstellungen der Zukunft uns immer öfter im Gewand der Vergangenheit gegenübertreten: Blade Runner und seine bekannte Bezugnahme auf den Film Noir ist hier ein Beispiel (und nichts unterstreicht Jamesons Argument so sehr wie der Einfluss von Blade Runner auf die Science-Fiction-Filme der letzten 25 Jahren).

Laut Jameson handelt es sich bei Shining um ein »Meta­genre«, eine Reflexion über die Geistergeschichte (also eine Geistergeschichte, die von Geistergeschichten handelt). Ich möchte jedoch zeigen, dass Shining nicht zur Postmoderne gehört, sondern zum Doppelgänger der Post­moderne, der Hauntology.

Man könnte fast so weit gehen, zu sagen, dass Shining eine Metareflexion über die Postmoderne selbst ist. Denn wie Jameson uns erinnert, geht es in Shining auch um einen gescheiterten Schriftsteller: ein Möchtegern-Autor, der sich danach sehnt, ein Romancier modernistischen Zuschnitts zu sein, der aber zur passiven Oberfläche verdammt ist, in die das Hotel – selbst ein Palimpsest der Phantasien und Grausamkeiten, eine Echokammer der Erinnerungen und Antizipationen – seine Pathologien und Mordgelüste einschreibt; oder besser gesagt – denn das bezeichnet den grausamen, dyschronischen Modus des Overlook Ho­tels –, immer schon eingeschrieben haben wird.

Das Overlook Hotel und das Reale

»Um sich herum hörte er das Overlook Hotel zum Leben erwachen.«113

 

Stephen King, Shining

Es gibt keinen Ausweg aus den unendlichen Korridoren des Overlook Hotels. Es ist kein düsteres Schloss, das sich leicht einem überholten Genre (dem Schauerroman) zuweisen ließe; auch handelt es sich nicht um ein übernatürliches Relikt, das zu Staub zerfällt, wenn es dem strahlenden Licht der wissenschaftlichen Vernunft ausgesetzt ist. Der Horror, der die Gänge der Overlook Hotels durchzieht, gehört zum Realen, er wird verdeckt von den lockenden Geistern aus dem Imaginären des Hotels, die Jack verführen. Das Reale ist dasjenige, was sich wiederholt, das, was sich immer wieder geltend macht, egal wie oft man zu fliehen versucht (noch furchterregender: es ist dasjenige, was sich im Versuch, zu fliehen, geltend macht, nämlich das Schicksal des Ödipus). Das Grauen des Overlook Hotels ist das der Familie und das der Geschichte; oder präziser, das der Familiengeschichte (womit wir uns, wie kaum betont werden muss, auf dem Feld der Psychoanalyse befinden).

David A. Cook hat bereits gezeigt, wie sehr der Film von der amerikanischen Geschichte verfolgt wird.114 In Cooks Deutung steht das Overlook Hotel, jener Spielplatz der Ultraprivilegierten und Überkorrupten, meto­nymisch für den Albtraum der amerikanischen Geschich­te selbst (und im Schatten von Watergate, als King den Roman schrieb, konnte niemand so naiv sein, zu glauben, dass diese zwei Gruppen zu trennen sind). Ein Bienenstock der Freizeit, gebaut auf einem indianischen Friedhof (dieses Detail hat Kubrick hinzugefügt); ein kraftvolles Bild für eine Kultur, deren Gründung auf dem Genozid (und seiner Verdrängung) an Ureinwohnern beruhte:

»Es war, als läge ein anderes Overlook, nur um wenige Zoll versetzt, in diesem, getrennt von der realen Welt (wenn es überhaupt so etwas wie eine ›reale Welt‹ gab, dachte Jack), mit der es aber allmählich zusammenzufallen schien.«115

So wichtig Cooks Ausführungen sind, ich habe bereits angedeutet, dass ich mich nicht auf die Makroebene der Geschichte, sondern die Mikroebene der Familie konzentrieren werde. Das bringt uns unvermeidlich zu Walter Metz’ wertvollen Gedanken über die Art und Weise, wie Shining intertextuell mit dem Genre des Melodrams verbunden ist.116 Eine wichtige Spannung im Film – eine Spannung, die für einige niemals aufgelöst wird – betrifft die Frage, in welches Genre Shining eigentlich gehört: Handelt es von der Familie (dann wäre es ein Melodram) oder vom Übernatürlichen (dann gehört es zur Horror- oder Geistergeschichte)?117

Das lässt uns automatisch an Todorovs berühmte Behauptung denken, dass das Phantastische von der Unentschiedenheit zwischen zwei epis­temologischen Möglichkeiten charakterisiert ist; wenn Gespenster und ähnliches psychologisch oder anders naturalistisch erklärt werden können, dann haben wir es mit dem »Unheimlichen« zu tun. Wenn die Geister und Gespenster aber nicht ausgetrieben werden können, dann sehen wir uns dem »Wunderbaren« gegenüber. Und nur indem wir zwischen beiden Polen oszillieren, begegnen wir dem »Phantastischen«.

Das Unheimliche – Das Wunderbare – Das Phantastische Melodrama

Die Geistergeschichte

Metz betont, dass die meisten Kritiker Shining als ein Beispiel des Wunderbaren gedeutet haben, und behandelt es stattdessen als einen Fall des »Unheimlichen«.

Ich möchte hingegen zeigen, dass The Shining deswegen wichtig ist, weil es die Begriffe von Todorovs Schema unterläuft; es zugleich ein Familienmelodram und eine Geistergeschichte ist. Wenn die Geister echt sind, dann nicht, weil sie übernatürlich sind; und wenn die Gespenster psychoanalytisch zu verstehen sind, dann bedeutet das nicht, dass man sie auf Psychologie reduzieren kann. Im Gegenteil: Anstatt das Geisterhafte unter das Psychologische zu subsumieren, kann die Psychoanalyse das Psychologische als Symptom des Geisterhaften ausweisen. Das, was verfolgt, steht am Anfang.

Das Patriarchat als Hauntology

Den Geistern des Overlook Hotels kann man nicht entkommen, weil es die Geister der Familiengeschichte sind, und wer von uns hat nicht eine Familiengeschichte?118 Shining ist schließlich eine Geschichte über Väter und Söhne. Ihr Ursprung liegt in einer Phantasie, aus der sich King, der Vater, der immer noch unter Alkoholismus litt, herausarbeitete, aber von der King, der Schriftsteller, fas­ziniert blieb.

Als King eines Tages seine Papiere von seinem Sohn durcheinandergebracht sah, hat er einen Wutanfall; später begriff er, dass er das Kind fast geschlagen hätte. Die Keimzelle des Romans war Kings Nachdenken über diese Situation: Was wäre, wenn er seinen Sohn geschlagen hätte? Was wäre, wenn er noch schlimmeres getan hätte? Was wäre, wenn King nur ein alkoholischer Verlierer war, der nur geträumt hat, ein Schriftsteller zu sein?

Die Psychoanalyse kann grob darin zusammengefasst werden, dass wir unsere Familiengeschichte sind, obwohl wir an dieser Stelle den Begriff der »Geschichte« durch den der »Hauntology« ersetzen können. Die Familie ist bei Freud eine Struktur, die verfolgt: Das Kind ist der Vater des Menschen, die Sünden der Väter werden an die Kinder weitergegeben. Das Kind, das seinen Vater hasst, ist dazu verdammt, ihn zu wiederholen, das Opfer wird zum Täter.

In Shining geht es um das Patriarchat, verstanden als Hauntology, und dieses Verhältnis wird nirgends besser verhandelt als in Freuds Aufsatz über die Ursprünge der Religion. Hier zeigt Freud, dass der Heilige Vater, Jahwe, auch ein Heiliger Geist ist: eine gespensterhafte Gottheit, die sich nur durch ihre physische Abwesenheit geltend machen kann. Freud wiederholte den »spekulativen Mythos« vom Vatermord in Totem und Tabu, 30 Jahre später dann in Der Mann Moses und die monotheistische Religion, ein Text, der selbst voll von Wiederholungen und Refrains ist.

In Freuds Erzählung gibt es zwei Väter: der obszöne »Pere Juissance« (Lacan), der Zugang zum absoluten Genuss hat, und der Name/das Nein (Nom/Non) des Vaters – des Vaters des Gesetzes, die symbolische Ordnung in Person, die verbietet und Angst einflößt. Wie Žižek gezeigt hat119, ist einer der wichtigsten Aspekte von Totem und Tabu, dass der strenge Vater des Symbolischen Gesetzes nicht schon immer da ist; der Vater ist nicht, wie die Ödipus-Geschichte es will, ein immer schon dagewesener Block vor dem Genuss. Dieser »Block« entsteht erst, wenn der Vater getötet wurde.

In der Geschichte, wie Freud sie erzählt, erhebt sich die Urhorde der Beta-Männchen eines Tages, eifersüchtig und hasserfüllt gegenüber dem Stammesvater, und tötet ihn, in der Hoffnung nun ungehinderten Zugang zur jouissance zu haben. Doch es geschieht etwas anderes. Die »Bruderhorde« packt sofort das Schuldgefühl, die Reue und die Melancholie. Anstatt sich der verhassten Herrschaft des Vaters entledigt zu haben, beherrscht er sie nun noch mehr in seiner Abwesenheit. Die Geister des Vaters lasten auf ihren Gewissen; tatsächlich besteht ihr Gewissen in nichts anderem als der vorwurfsvollen Stimme des gespenstischen Vaters. Indem sie dieser abwesenden Stimmte folgen, den Vater erinnern und besänftigen, indem sie neue Zeremonien und Praktiken installieren, gründen die Brüder rudimentäre Formen der Moral und der Religion. Gott, der Vater, das große Andere, das Symbolische existiert nicht; doch es macht sich durch die Wiederholung der Rituale geltend.

Der Vater ist in doppelter Weise tot. Er übt seine Macht nur nach seinem Tod aus, doch seine Macht selbst ist nur eine Macht des Todes: die Macht, lebendiges Fleisch zu töten und Genuss zu verhindern.

Ein Kind wird geschlagen

»Wie der Vater, so der Sohn. Lautete so nicht der Volksmund?« Stephen King, Shining120

Shining zeigt uns patriarchale Demenz von innen – mit ihren Lüsten, Listen und Rationalisierungen. Wir sehen, wie Jack ihr nach und nach verfällt, während er von dem Hotel und seinen Versuchungen, Versprechen und Herausforderungen berauscht wird. In dem weichgezeichneten, wie Honig glänzenden Gold Room feiert Jack mit den Geistern des Hotels: