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Durchbruch in der grauen Höhle 339

»Anstatt zu stolpern und einer Philosophie ihre vermeintlichen Fehler vorzuwerfen, nur um dann dieselben mittelmäßigen Ansichten zu haben, mit denen wir begonnen haben, bin ich für eine energischere Auseinandersetzung mit Philosophen. Die Methode, die ich vorschlage, besteht darin, anstelle des vollkommen überbewerteten ›kritischen Denkens‹ das selten benutzte hyperbolische Denken zu setzen. Für mich zumindest sind es nur die wirklich schwächsten Bücher, bei denen man logische Fehler oder Fehlschlüsse bemerkt. Die Bücher, die uns am meisten bewegen, sind nicht die mit den wenigsten Fehlern, sondern die, die das meiste Licht auf die unbekannten Teile der Karte werfen. Bei den Autoren, die uns am meisten interessieren, sollten wir nicht fragen ›Wo ist hier der Fehler‹, so als ob wir nicht mehr erwarten als nicht verarscht zu werden. Wir sollten stattdessen fragen: ›Was, wenn dieses Buch dieses Denkers das wichtigste Buch des Jahrhunderts wäre? Wie müssten sich die Dinge ändern? In welcher Weise könnten wir uns sowohl befreit als auch gefangen fühlen?‹ Solchen Fragen restituieren die angemessene Wichtigkeit intellektueller Arbeit: Sie degradieren den ehrgeizigen Karrieristen, der im Rahmen des Plausiblen und Besonnenen bleibt und rehabilitieren den Spieler, der neue Welten entdeckt. Nietzsche macht weit mehr ›Fehler‹ als der durchschnittliche Zeitschriftenartikel, aber das hindert intelligente Erwachsene nicht daran, ihn die ganze Nacht zu lesen, während sie ihren Artikel bis auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben.« Graham Harman, Prince of Networks340

Das ist eine aufwühlendsten Passagen in Prince of Networks und es lohnt sich gerade jetzt, sie zu zitieren, da das Thema der grauen Vampire341 wieder aufgekommen ist.342 Die Erwähnung von Nietzsche erinnert mich daran, dass er einer der großen Kritiker der grauen Vampire ist, was nirgends deutlicher wird als in der folgenden Passage aus dem sechsten Teil von Jenseits von Gut und Böse:

»›Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von Sicherheits-Polizei: dies unterirdische Nein ist fürchterlich! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe!‹ Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu spüren. Ja! und Nein! – das geht ihm wider die Moral; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht: ›was weiss ich?‹ Oder mit Sokrates: ›ich weiss, dass ich Nichts weiss‹. Oder: ›hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Thür offen.‹ Oder: ›gesetzt, sie stünde offen, wozu gleich eintreten!‹ Oder: ›wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade biegen? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen? Hat das nicht Zeit? Hat die Zeit nicht Zeit? Oh ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht warten? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.‹ – Also tröstet sich ein Skeptiker; und es ist wahr, dass er einigen Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt.«

Baron Mordant schrieb mir vor einer Weile, um zu fragen, ob grauer Vampirismus nicht ein Symptom geistiger Erkrankung sei, und das stimmt – aber ein Symptom der weit verbreiteten, normalisierten und normalisierenden Pathologie, die Nietzsche hier beschreibt. Wie üblich schreibt Nietzsche den Aufstieg der »Spinne Skepsis« der Mischung der Rassen zu, aber wir müssen diese ethnisierende Logik nicht teilen, um seine Analyse zu nutzen, die mit unheimlicher Präzision die Sackgasse des postmodernen Relativismus und die fahlen Korridore der Akademie beschreibt, dort, wo die Angst herrscht – wo das Schlimmste, was passieren kann, ist, bei einem Fehler oder einem falschen Zitat erwischt zu werden, statt dass man sein Leben in endlosen Zweideutigkeiten, Spitzfindigkeiten und Aufschüben verschwendet hat (während du über einem staatlich subventionierten Bier sitzt und darüber jammerst …).

Vampire kann man nicht im Spiegel sehen. Im Fall der grauen Vampire bedeutet dies – und man darf nicht vergessen, dass nicht alle Vampire grau sind; es gibt noch ganz andere, schillernde, wilde Formen der Energiepiraterie –, dass sie sich selbst nicht als Vampire erkennen können und ihre Existenz vollständig von der Aufmerksamkeit des Anderen abhängig ist. Graue Vampire sehen sich nicht als Vampire; sie glauben ernsthaft, dass es ihre Pflicht ist, Begeisterung zu bremsen und Ideen zu unter­graben. Ein sicheres Kennzeichen eines grauen Vampirs ist die lässige Ablehnung von Konzepten wie dem Energievampirismus – egal, welcher Theorie sie in ihren veröffentlichten Arbeiten folgen, ihre Alltagsontologie bleibt vollständig im Common Sense. Aber man täusche sich nicht, es gibt keine tiefere Ebene des Realen im Leben als die der Energie und ihrer Verteilung. Wie Burroughs mehr als jeder andere begriffen hat, sind Personen und das Soziale nur Masken auf einem Terrain, das von Energieräubern und Energievermehrern bevölkert ist.

Man weiß, dass man einen Vampir über die Schwelle bitten muss – und graue Vampire, so wie Trolle, verlieren all ihre Macht, sobald man ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt und nicht mehr an sie denkt. Deswegen versuchen grauen Vampire, wenn sie das Gefühl haben, dass man sie nicht beachtet, die Aufmerksamkeit zurück zu erlangen – die Berufung auf »demokratische« Werte ist eine besonders gemeine Taktik (»Du musst mich beachten! Es ist deine Pflicht«) Trolle versuchen natürlich genau das gleiche und man muss bedenken, dass graue Vampire die Trolle befördern – sie positionieren sich selbst als ausnehmend neutral und unabhängig (während sie zugleich ständig bekunden, was sie alles in der Zukunft machen werden, was geschieht, wenn X oder Y aufgehört hat, all jene arglistigen Phantasien, die verhindern, dass sie die Falle erkennen, in der sie sitzen), aber im Geheimen sympathisiert der grauen Vampir immer mit den Trollen. Denn der Troll bringt das Ressentiment und die Missgunst zum Ausdruck, die auch der graue Vampir empfindet, aber nicht äußern kann. Sie teilen die Rechtfertigung des Trolls für ihr Handeln – der Glaube, dass manche Menschen zu schnell sind, dass es zu viel ungebührliche Begeisterung über X oder Y gibt … Als ob es im intellektuellen Leben noch mehr hängende Köpfe, noch mehr Bitterkeit und weniger Enthusiasmus braucht … Manche Lehrer und Dozenten denken genau so, sie sehen es als ihre Pflicht an, jene trockene Versteinerung weiterzugeben, die ihren Geist meist irgendwann nach ihrem Abschluss ergriffen hat … Denk dran: Alle Vampire sind Opfer des Vampirismus …

Ich jedoch halte die Motivierung von Studenten und das Auslösen von Begeisterung für die erste und wich­tigs­te Aufgabe eines Lehrers. (Was nicht heißt, dass man alles unterschiedslos unterstützen muss, was ein Student sagt oder schreibt; ganz im Gegenteil.) Deswegen würde ich sagen, dass eine der verachtenswertesten Figuren im akademischen Bestiarium der Troll-Meister ist: jene Figur, die von der zerstörten Begeisterung gebrochener Stu­denten lebt. Der einfachste Weg, um billigen Respekt zu erhalten, ist, sich eine Nichts-kann-mich-beeindrucken-Haltung zuzulegen, eine Attitüde der Hyper-Kritik, getränkt in coolen Weltschmerz343, die überall Fehler findet und Lob oder Ermutigung nur ganz selten verteilt; es handelt sich um eine durchsichtige Taktik, aber sie funktioniert überraschend gut und zwar nicht nur bei faden Studenten, sondern auch bei gestandenen Erwachsenen, selbst solchen, die schon ein paar Bücher geschrieben haben. Häufig ist das intellektuelle Projekt des Troll-Meis­ters mittelmäßig und / oder wurde abgebrochen – es ist eindeutig, dass all ihre libidinöse Energie darauf verwendet wird, Studenten in neurotische Knechtschaft zu zwingen. Troll-Meister schleichen sich in die Köpfe der Studenten, doch meist hängt ihre Macht von der Treibhaus-Klaustrophobie des akademischen Instituts ab – sie sind die Despoten des Dorfes, deren charismatische Tyrannei selten woanders funktioniert. Ihre einzige langfris­tige Wirkung ist, neue graue Vampire zu produzieren.

Graham Harman hat absolut recht, dass graue Vampire dazu neigen, das Gespräch zu zweit zu suchen, während Trolle immer ein Publikum brauchen. Das hat damit zu tun, dass der Troll die Aufmerksamkeit des großen Anderen sucht, während die grauen Vampire sich direkt mit dem großen Anderen identifizieren möchten – sie wollen die Stimme der Neutralität und der Autorität sein, die Stimme aus dem Nichts, die keine widerlegbaren Behauptungen aufstellt und deswegen immer in Sicherheit ist. Der Grund, warum eine innige Verbindung zwischen grauen Vampiren und der Universität herrscht – heute mehr als jemals zuvor – ist, dass die Universität genau diese neurotische Neutralität vermitteln möchte (die Kehr­seite des karrieristischen Delegierens), wo das Wich­tigste die richtig formatierten Fußnoten sind. Es ist normalerweise befreiend, wenn man einmal die Arbeiten der grauen Vampire und der Troll-Meister liest: Ihre end­lose, verfeinerte Kritik suggeriert, dass sie die differenzierteste, fehlerfreieste und sauberste Arbeit geschrieben haben, die du jemals gelesen hast; es ist durchaus scho­ckierend, wenn man sieht, wie angreifbar und mittelmäßig sie (meistens) sind.

 

Die Alternative zu diesen Fallstricken ist nicht das heroische, einsame Genie, sondern das Netzwerk; ein weiterer Grund, warum Graham Harmans Buch so wichtig ist. Wie Nick Srnicek geschrieben hat, muss sich die politische Theorie mit der Frage der Netzwerke beschäftigen. (Zufällig ist ein Grund, warum der spekulative Realismus so viel zur politischen Theorie beitragen kann, dass die Gebiete, auf denen er sich bewegt, noch nicht von den pseudo-politischen »Bedeutungen« übersättigt sind, wie es in der staubigen, traditionellen kontinentalen Philosophie der Fall ist.) Es ist wichtig, sich über den toxischen Effekt der Vampire und Trolle Gedanken zu machen, weil es sich im Grund um einen Netzwerkeffekt handelt – das übliche Vorgehen eines Trolls besteht darin, ein bestehendes Netzwerk zu infiltrieren und dadurch zu zerstören, dass alle Energie darauf verwendet wird, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Der graue Vampir wiederum ist subtiler – und aus genau diesem Grund, wie aus vielen anderen, gefährlicher. Graue Vampire rauben die Energie eines Netzwerks nicht nur, weil sie Trolle verteidigen, sondern weil sie die Zweideutigkeit selbst verteidigen und jede Entscheidung oder feste Positionierung als repressiv deklarieren (Dekonstruktion ist die Pathologie des grauen Vampirs). Ihre bevorzugte Diskussionsform ist der nutzlose Wettkampf in den »Debatten« in Kommentarspalten und Messageboards. Das ist der Energiesumpf des Web 2.0; aber hier könnten auch andere Netzwerke gedeihen.

Realabstraktionen:
Die Anwendung von Theorie auf die moderne Welt344

Vor kurzem erklärten ein paar unzufriedene Journalisten auf einem Symposium an der University of East London, auf dem es um Dance Music und Theorie ging, dass sie lieber »stupide Empiristen« sein wollen als leichtgläubige Anhänger von Theorie. Diese Art der Abwehr von Theorie durch scheinbar geradeheraus daherkommende Selbst­verleugnung ist nichts Neues in der britischen Kultur. Es handelt sich um eine bestimmte Haltung, die sich im Grunde durch die Abneigung gegenüber theoretischen Abstraktionen definiert, eine Abneigung, die einst den Em­pi­rismus hervorbrachte, jene Philosophie, mit der die englischsprachige Welt am meisten verbunden wird. Aber genau deswegen, weil sie darauf abzielt, vermeintlich unbeweisbare Abstraktionen zu delegitimieren, führte der Empirismus von Philosophen wie George Berkeley und David Hume dazu, die Kategorie der gegebenen Erfahrung eher zu untergraben als zu ratifizieren: Bekanntermaßen negierte Berkeley, dass es eine materielle Welt gibt und Hume sprach sich gegen die Existenz des Selbst aus. Im Kontrast zu ihrer kultivierten Kauzigkeit begreifen stupide Empiristen sich als diejenigen, die die Welt befestigen, wie sie sich uns in unseren unreflektierten Momenten darstellt. Sie beanspruchen für sich »Beweise«, aber im Grunde ist das nur ein offensichtlicher Appell an jene Kategorien, die die empiristischen Philosophen gerade ablehnten: Personen und (physische) Dinge. Und wenn nur Personen und physische Dinge wirklich existieren, was glauben stupide Empiristen dann, geschieht in der globalen Wirtschaft? Um Kreditverknappung und Rezessionsnachfrage zu verstehen, muss man anerkennen, dass Abstraktionen real sind.

Es ist kein Zufall, dass es die USA und Großbritannien waren, die sich am meisten dem Neoliberalismus und seinem Wirtschaftsprogramm verschrieben haben. Die »kontinentale« Denktradition, von der sich die stupiden Empiristen abgrenzten, war häufig gekennzeichnet von genau jenem umständlich nebulösen Textualismus, den der angelsächsische Nominalismus ihr vorwarf. Die Theorieströmung, die sich in der Kunstwelt und den Cultural Studies in den letzten Jahren ausgebreitet hat – eine Art verdünnter Postmodernismus und zurecht gestutzter Deleuzianismus, mit einer ganzen Menagerie an vagen Antibegriffen wie Differenz, Sensation und Multiplizität – ist von dem stupiden Empirismus gar nicht so weit entfernt. Was diese Art des anti-totali­sie­renden Denkens mit dem Empirismus teilt, ist eine tiefe Feindschaft gegen Systematik; es vertritt die Position, dass jede Form der bestimmenden Aussage dogmatisch, repressiv und sogar totalitär ist.

Wie Fredric Jameson gezeigt hat, ist diese Herangehensweise an Theorie, das Herauspicken und Vermischen, dem Konsumverhalten verwandt – bekanntermaßen geht er so weit, zu sagen, dass es sich um einen Ausdruck der »Logik des Spätkapitalismus« handelt. Es ist richtig, dass die vage Rhetorik der Diversität nicht die kühle Klarheit besitzt, die nötig ist, um die Realabstraktionen des Kapitals zu begreifen.

In seinem Essay »Cremonini, Maler des Abstrakten« (1966) unterscheidet Louis Althusser zwischen »abstrak­ter Malerei« und der »Malerei des Abstrakten«.345 Dem Maler Cremonini, so Althusser, sei es gelungen, die Abstraktionen des Kapitals offenzulegen, aber nicht, indem er sie direkt dargestellt hat – sondern indem er die »determinierte Abwesenheit, die [uns] regiert« zeigt. Wie Benjamin Noys in einem Kommentar zu Althussers Text in seinem bald erscheinenden Buch The Persistence Of The Negative schreibt:

»Wir haben kein Bild des Kapitals, das Kapital selbst ist pure Relationalität, eine reine Abstraktion aus Wert, Arbeit und Akkumulation, die nur negativ ›gesehen‹ werden kann. Deswegen erfordert die Negation von Realabstraktionen weitere Abstraktionen, da Abstraktionen die einzige Möglichkeit sind, um die pure Relationalität offenzulegen, die sich verbirgt, indem sie sich zeigt.«346

Um sich dieser Realabstraktion zu nähern, muss man ana­lysieren, was ich kapitalistischen Realismus genannt habe. Kapitalistischer Realismus – der auf keinen Fall mit den Banken im letzten Jahr [2008] zusammengebrochen ist; im Gegenteil, es gibt keinen größeren Beweis seiner anhaltenden Macht, als das Ausmaß der Bankenrettung – bedeutet, dass der Kapitalismus als einzig mögliches poli­tisch-ökonomisches System wahrgenommen wird. Dabei wird davon ausgegangen, dass zwischen dem Kapitalismus und der Realität eine inhärente Verbindung besteht. Kapitalistischer Realismus ist eine Art anti-mythischer Mythos: Indem behauptet wird, alle früheren Mythen widerlegt zu haben, sei es das göttliche Recht der Könige oder das marxistische Konzept des historischen Materialismus, präsentiert man seinen eigenen Mythos, nämlich den der freien individuellen Wahl. Das Misstrauen gegenüber Abstraktionen – zusammengefasst in Margaret Thatchers berühmter Negation »So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht« – kommt in der weitverbreiteten Verkürzung von kulturellen Ideen und Aktivität auf Psychobiographie zum Ausdruck. Wir sollen das »Innen­leben« von Individuen als die authentischste Ebene der Wirklichkeit sehen.

Um ein Beispiel zu nennen, ein Großteil des Reizes des Reality-TVs beruht auf der verführerischen Behauptung, die Teilnehmer so zu zeigen, »wie sie wirklich sind«. Die Medien sind ein Ozean aus Gesichtern, bei denen wir glauben sollen, dass wir sie wirklich kennen. Deswegen sind Interviews in Mainstreamzeitungen und Magazinen immer um biographische Anekdoten und Fotografien herum strukturiert. In Großbritannien stehen Künstler und Musiker heute mehr als jemals zuvor vor der Entscheidung, ob sie sich in diesem biographischen Modus darstellen oder gar nicht sichtbar sind. Die Berufung auf abstrakte Ideen allein – entweder in der Kunst oder in den Kräften, mit denen sie sich beschäftigt – wird regelmäßig mit Verachtung und Unverständnis quittiert.

Das beschränkt sich nicht nur auf die Boulevardpresse – die Enthüllung des mit Absicht »gesichtslosen« Musikers Burial ist nur ein weiteres Beispiel der aggressiven Insistenz auf psychobiographischer Verkürzung. Auch die Qualitätsmedien sind Abstraktionen gegenüber feindlich eingestellt. Man lese Nick Cohens Tirade kürzlich gegen Dan Fox von Frieze im Observer, wo Cohen einen Blogeintrag von Fox kritisierte, in dem dieser die Berichterstattung zu der Ausstellung »Altermodern« in der Tate Britain analysierte. Cohens Artikel enthielt einen köstlichen Seitenhieb gegen jenen »Typus des französischen Intellektuellen, wegen dem die Engländer sich wünschen, dass der Ärmelkanal tausend Kilometer breit ist.« Basierend auf der grundlegenden Annahme, dass Theorie ein vom Kontinent stammendes Gift ist, dessen Gegenmittel der angelsächsische Common Sense darstellt, handelte es sich bei Cohens Artikel um ein Manifest des stupiden Empirismus und äußerte die übliche Beschwerde, dass Theorie »durch so etwas mondänes wie Beweise nicht gestützt wird«.347

Aber Empirismus ist nicht dasselbe wie empirisch – jede sinnvolle Theorie muss sich über ihre empirischen Daten Rechenschaft ablegen, aber sie kann nicht auf derselben Ebene bleiben, wie die Daten, die sie erklären möchte. Abgesehen davon haben empirische Fakten normalerweise wenig zu tun mit der phänomenologischen Erfahrung von Individuen. Althussers Beschreibung seiner eigenen Theorie als »wissenschaftliche« wurde viel kritisiert, nicht nur durch den angelsächsischen Nominalismus, sondern auch durch die poststrukturalistische Theorie, die Poesie und Diskurs der Naturwissenschaft vorzieht. Aber Althussers Verständnis des Subjekts als Produkt der Ideologie ist weit wissenschaftlicher als die unreflektierte Verbreitung der Begriffe Person und Ding durch den stupiden Empirismus.

In seinem Buch Nihil Unbound, das sich sowohl auf die Neurowissenschaft als auch die Arbeiten »kontinentaler« Theoretiker bezieht, schreibt der Philosoph Ray Brassier, dass die Wissenschaft das Alltagsverständnis der Menschen von sich und der Welt, die sie umgibt, als banale Fiktionen enthüllt. Brassiers philosophischer Realismus hat nichts mit dem kapitalistischen »Realismus« zu tun – vielmehr hat er das Potenzial, diesen sogenannten Realismus der Lüge zu überführen. Ausgehend von den Arbeiten von Neurophilosophen wie Paul Churchland und Thomas Metzinger, die argumentieren, dass all die scheinbar selbstverständlichen Armaturen des Innenlebens (Gefühle, das Selbst) mystifizierender Aberglaube ist, kann Brassiers Ansatz als Teil eines neuen theoretischen Angriffs auf die stupide empiristische Ideologie gelten, die sich selbst Realität nennt.