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Während der diskreditierte Neoliberalismus die Intensivierung seines Programms plant, ist zugleich in Phillip Blonds Red Toryism und Maurice Glasmans Blue Labourism eine Art rechte Autonomisierung absehbar. Hier stehen die Kritik der sozialdemokratischen und neoliberalen Bürokratie neben dem Ruf nach einem Wiederaufbau der Tradition. Der Erfolg des Neoliberalismus hing davon ab, das Begehren der Arbeiter zu kapern, die aus den Zwängen des Fordismus ausbrechen wollten (obwohl die elende, individualistische Konsumideologie, in der wir nun alle stecken, nicht die Alternative war, um die es ging). Blonds lachhafte »Big Society«258 und Glasmans verstörend insulare »weiße Arbeiterklasse« und die »Com­munities« sind keine überzeugenden oder glaubwürdigen Antworten auf dieses Problem. Das Kapital hat die Traditionen, nach denen sich Blond und Glasman sehnen, zerstört und es ist unmöglich, sie wieder zurück zu holen.

Doch das sollte kein Grund zu jammern sein, weit davon entfernt. Was wir zu neuem Leben erwecken müssen sind nicht die gescheiterten gesellschaftlichen Formationen (die aus Gründen gescheitert sind, die den Progressiven gefallen sollten), sondern ein politisches Projekt, das es niemals wirklich gegeben hat: das Projekt einer demokratischen Öffentlichkeit. Selbst in Blonds Texten sind die Konturen einer hegemonialen Verschiebung erkennbar – in seiner verblüffenden Zurückweisung der Kernbegriffe des Neoliberalismus und seinem Angriff auf die Manager-Ideologie; und in dem Zugeständnis, contra Thatcher, dass es so aussieht, als gebe es tatsächlich eine Gesellschaft. Solche Bewegungen zeigen an, in welchem Ausmaß – nachdem die Banken gerettet wurden – der Neoliberalismus an Glaubwürdigkeit verloren hat.

Die jüngste Zunahme an Militanz in Großbritannien, vor allem unter jungen Leuten, legt nahe, dass die Privatisierung von Stress an ihre Grenzen kommt: Anstatt der medizinisch behandelten, individuellen Depression sehen wir nun Ausbrüche öffentlichen Ärgers. Hier und in der noch größtenteils schlummernden aber weit verbreiteten Unzufriedenheit mit der administrativen Regulierung der Arbeit liegt das Material, aus dem ein neuer, linker Modernismus entstehen kann. Nur dieser linke Modernismus ist fähig, eine Öffentlichkeit zu kreieren, die die zahlreichen Pathologien heilen kann, die der kommunikative Kapitalismus uns zufügt.

Der Winter der Unzufriedenheit 2.0:
Notizen über einen Monat der Militanz259

21:45 Uhr. Tag X, 24. November. Ich bin am Charing Cross und nehme meine erste Mahlzeit des Tages zu mir. Für mich ist es nichts Ungewöhnliches, so spät am Abend erst zu essen; aber meistens, weil ich überarbeitet bin, und nicht weil ich seit 8 Stunden von der Polizei »fest­gehalten« wurde. Zwei Demonstranten nähern sich, deren Wut, Frustration und Aufregung des Tages langsam verfliegt. Unsere Blicke treffen sich und einer fragt, ob ich nächste Woche wieder dabei bin. Ich sage ja und erzähle ihnen, dass ich im Kessel in Whitehall war und gerade erst rausgekommen bin. Sie seien zwei Mal gekesselt worden, sagen sie. Einer hat die Maske aus V for Vendetta auf. Die Polizei hat ihn eine Weile in Gewahrsam genommen, aber musste ihn aus Mangel an Beweisen freilassen. (Später wird mir einer meiner Studenten von der University of East London (UEL) eine ähnliche Geschichte erzählen – von den Cops verhaftet, weil er eine rote Trainingsjacke trug, dieselbe wie jemand, der angeblich eine Mülltonne angezündet hat, dann eine Weile festgehalten, seine Kleidung und sein Telefon beschlagnahmt, unter Auflagen bis April freigelassen –, was offensichtlich eine der Einschüchterungstaktiken der Polizei an diesem Tag war.) Die beiden waren nicht überrascht, zeigten kein Selbstmitleid oder übertriebenen Heroismus, lediglich festes Bewusstsein davon, was zu tun ist und eine Freude dabei, es zu tun. Mir hat es Spaß gemacht, ich freue mich auf nächste Woche …

Ich frage einen, was er so macht. Er sagt, sein Freund geht schon aufs College, er wird nächstes Jahr gehen. Aber es geht nicht nur darum … Es ging nicht nur um ihn; es ging nicht nur um die Studiengebühren oder den Bildungszuschuss EMA …

Es geht nicht nur darum … wir sind einfach keine post­ideologische Generation

Man vergleiche diese Sätze mit einigen Reaktionen aus dem »liberalen« Kommentariat – also jenen, die tatsächlich zur »postideologischen Generation« gehören, wenn es so etwas jemals gegeben hat. Für Deborah Orr ist es dasselbe wie immer. Widerstand gegen den kapitalistischen Realismus bleibt zwecklos:

»Manchmal wird gesagt, dass es, mit Ausnahme der Studenten und Schüler, deswegen kaum Protest gegen die Kürzungen gibt, weil die Eltern zu abgegessen und apathisch sind, um auf die Straße zu gehen. Die Wahrheit ist, dass sie zu schlau sind, um ihre Energie auf etwas so Lächerliches zu verschwenden. Gegen die Kürzungen zu protestieren ist wie gegen die Angewohnheit des Wassers, flussabwärts zu fließen zu demonstrieren.«260

Oder man denke an David Aaronvitch in der Sendung Newsnight: die onkelhafte Körperhaltung eines Vampirs, diese Zurschaustellung von Müdigkeit und endloser Gelassenheit gegenüber der Welt, der erschöpfte Fatalismus, der sich als große Weisheit ausgibt. Ja, natürlich, ich wäre zu den Demonstrationen gegangen, als ich noch Student war, aber natürlich weiß ich es heute besser … Es unterscheidet sich kaum von einem Ausspruch Richard Littlejohns: Die Demonstranten sind die Politiker von morgen … Als ob es das ist, was sie wollen, als ob, selbst wenn es so läuft, die heutige Situation weniger bedeutsam wäre …

15:15 Uhr. 1. Dezember. In einer dieser traumgleichen Phasen, die in der neuen Atmosphäre immer häufiger auftreten sitze ich in dem besetzten Raum der UEL, als Richard Seymour hereintritt, um eine Vortrag über die jüngste Geschichte der Tory-Partei zu halten. Seit einer Woche haben Studenten Raum 101 besetzt, seit Tag X2. Schnell haben sich die Dinge in diesen sieben Tagen geändert; alles ändert sich ständig. Auf dem ganzen Campus hängen Banner, es sieht aus wie in den Häfen bei Ballard. Anderswo gibt es neue Besetzungen, die wie unerwartete Wildblumen sprießen.

Das einzige, womit ich den derzeitigen Zustand beschreiben kann, ist das Ende einer tiefen Depression. Es gibt diesen Energieschub, einfach weil man nicht mehr depressiv ist – die gelegentlichen Angstzustände, ein Gefühl davon, wie fragil alles ist (zieh mich nicht zurück ins Nichts) – und dennoch bleibt es nicht einfach, wie es ist, sondern es wächst, es wird intensiver, es ernährt sich von sich selbst – es ist unmöglich, aber es geschieht –, das Wirklichkeitsprogramm startet neu – und David Camerons Reaktion ist sowohl herablassend als auch falsch. Die Studenten sollten verstehen, wogegen sie protestieren, bevor sie auf die Straße gehen. Und trotzdem ist es eindeutig, dass Cameron nicht weiß, wie er mit der derzeitigen Situation umgehen soll (wer weiß das schon?). Wie Richard bei seinem Vortrag bei der UEL-Besetzung gesagt hat, die schlaffen Schnösel haben weder die Erfahrung noch die strategische Intelligenz oder die ideologische Konsistenz, um einen harten Kampf zu gewinnen. Cameron war der Anführer der Tories vor 2008, der Zeit des »Konsenses der Indifferenz« (Baudrillard) – er hat mit keinem Kampf gerechnet, auf jeden Fall nicht mit Gegnern, die gewinnen wollen. Was Cameron versteht und nicht verstehen will, ist, dass die Studiengebühren nur der unmittelbare Anlass der neuen Militanz sind. Was vielmehr aufgestachelt wurde, ist eine allgemeine Unzufriedenheit mit dem kapitalistischen Realismus an sich.

17:30 Uhr. 2. Dezember. Der Neoliberalismus funktioniert nicht. Seit 90 Minuten stecke ich am Bahnhof von Dartford fest. In beide Richtungen fahren keine Züge. Niemand weiß, wo die Züge sind oder ob sie weiterfahren, falls sie jemals ankommen. Ein Zug fuhr Richtung Süden, aber er kam nur ein paar 100 Meter, bevor er anhalten musste. Offizielle Ansagen gibt es wenige, aber es handelt sich sowieso nur um Gerüchte. Die Bahnarbeiter, die auch keine verlässlichen Informationen haben, sagen das eine, nur damit dann etwas völlig anderes geschieht. Fahren die Busse? Wer weiß …?

Ich unterhalte mich mit jemanden, der in dieselbe Richtung muss. Die üblichen Beschwerden, die übliche Belustigung. Warum muss in Großbritannien alles so beschissen laufen? Er ist Gelegenheitsarbeiter und hat Angst, dass sein Weihnachten ins Wasser fällt, wenn das Wetter so bleibt. Wenn er nicht arbeitet, wird er nicht bezahlt und er musste schon eine Woche zu Hause bleiben, weil er Grippe hatte.

Wir hoffen weiter zaghaft auf einen Zug und überlegen uns Alternativen – wir sind weniger als zehn Meilen von unserem Ziel entfernt, aber am Ende kann es sein, dass wir in einem Hotel schlafen müssen. Dann bekommt er einen Anruf. Ein Freund holt ihn ab und er kann mich mitnehmen. Während wir frierend mit einem Kaffee im Bahnhof herumstehen, kommen im Radio die Nachrichten. Die Weltmeisterschaft 2018 findet in Russland statt. Der Winter scheint immer näher zu kommen.

Cameron. Der Neoliberalismus funktioniert nicht. Kein Glück für Cameron und die anderen Mitglieder der Heiligen Dreifaltigkeit der herrschenden Klasse – der Prinz und David Beckham, der Posterboy für den Star-Fußball der New-Labour-Ära. Der grimmig lächelnde Wladimir Putin kommt in letzter Minute an, um den Preis entgegen zu nehmen. Der Glanz des Booms verfällt und England fühlt sich schäbiger und ranziger an als in den Siebzigern.

Samstag, 4. Dezember. Ich verfolge die Demonstrationen von UK Uncut auf Twitter. In der Kälte des Kessels am Tag X1 habe ich mir gedacht, dass der beste Ort für einen Kessel ein Einkaufszentrum wäre, wo die Eindämmungsstrategie eine große Unannehmlichkeit für das Kapital darstellen würde. Aber die Bewegung ist mir voraus … Flashmobs besetzen eine Reihe von Top Shops im ganzen Land. IT [Nina Power] hat recht, dass die wahre Bedeutung einer solchen Intervention darin liegt, dass sie »unter anderem zeigt, dass man das konsumistische Antlitz der Stadtzentren satt hat.« Außerdem ist man Leute wie Green und ihren unantastbaren Prominentenstatus leid. Die Frustration gegenüber dem Celebrity-Reichtum war schon lange ein kaum zu ignorierender Schatten, den keine digitale Manipulation verstecken konnte, aber bis vor kurzem gab es kein Ventil und kein Subjekt für das Gefühl, dass inmitten des verschwenderischen Konsums und dem lustlosen Hedonismus etwas fehlt.

 

Tag X3, 9. Dezember. Es gibt seit langem eine starke Diskrepanz zwischen der Kultur und der gesellschaftlichen Situation nach dem Crash. Es ist offensichtlich, dass die Neuen Fünfziger vorbei sind – die Kulisse steht noch, aber man kann den Finger durchstecken. Paul Mason261 spricht von einer »Dubstep Rebellion« und auch wenn es unhöflich wäre, sich über Masons Bericht zu beschweren, da er immerhin einer der wenigen Kommentatoren aus dem Mainstream war, der sich richtig mit der Bewegung auseinandergesetzt hat, so hat Dan Hancox doch recht: Es wurde kein Dubstep letzten Donnerstag gespielt, sondern »R&B, Bashment, Road Rap, amerikanischer Hip Hop und – wenn auch nur ein, zwei Mal – Grime«.262 Das Auffällige ist der vollkommene Mangel an politischen Inhalten oder – mit der Ausnahme von »Pow« – Wut in der Musik, die gespielt wurde. Was wir hören ist vielmehr die Trennung von der Art von Politik, die laut Jeremy Gilbert überzeugender These typisch für das Hardcore-Kontinuum der Neunziger war:

»Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Radikalität vieler ihrer Vorgänger (Acid House, dessen Ursprünge in den schwarzen Schwulenclubs von Chicago liegen; Hip Hop, der erst vor kurzen das ›goldene Zeitalter‹ seines politischen Bewusstseins hinter sich gelassen hatte; Reggea und seiner Geschichte des Antikapitalismus und Antirassismus) und der traditionellen Radikalität ihrer Kernanhängerschaft – die multi­ethnischen Armen des urbanen Londons – waren die Musikszenen des »Hardcore-Kontinuums« bekannt für ihre Abwendung von jeder Form der Politik, ihrer Affirmation des Unternehmertums und ihrer Verteidigung maskulinistischer und heterosexistischer Werte, die andere Musikrichtungen zu derselben Zeit gerade dekonstruierten.«263

Wir haben uns daran gewöhnt, dass es eine Lücke zwischen linker Politik und den aufregendsten, experimentellsten Dance-Music-Richtungen gibt. Ohne Zweifel ist dies ein Aspekt des kapitalistischen Realismus und es ist kein Zufall, dass ich in Kapitalistischer Realismus auf Simons Artikel über Hardstep264 von 1996 verwiesen habe. Es kann sogar sein, dass die zentrale Idee des Buches auf diesem Kommentar Simons über die Attitüde des »Keeping it Real« beruhte:

»Im Hip Hop bedeutet ›real‹ zweierlei. Es meint, ers­tens, authentische, kompromisslose Musik, die sich nicht an die Industrie verkauft und ihre Message abschwächt. ›Real‹ heißt auch, dass die Musik die ›Realität‹ der spätkapitalistischen, ökonomischen Instabilität widerspiegelt, institutionellen Rassismus und zunehmende Überwachung und Repression der Jugendlichen durch die Polizei. ›Real‹ meint den Tod des Sozialen: Es zielt auf Firmen, die bei wachsenden Profiten nicht den Lohn oder die Unterstützungsleistungen erhöhen, sondern die das machen, was die Amerikaner ›downsizing‹ nennen (die Kündigung von ständigen Arbeitern, um so einen frei flottierenden Pool von Teilzeitarbeitern und Freischaffenden zu kreieren, die keine Unterstützungsleistungen oder Jobsicherheit haben).

›Real‹ ist der Name für ein neo-mittelalterliches Szenario; Downsizing erinnert an die Aristokratie, die die Bauern von ihrem Land vertrieben und sie zu einer Vagabundenklasse degradierten. Jungle spiegelt wie Gangsta-Rap die paranoide, mittelalterliche Landschaft von Räuberbaronen, Piratenfirmen, Verschwörungen und Geheimaktionen wider. Deswegen stammen die Samples und Songtitel oft aus Martial-Arts- und Gangs­terfilmen wie Der Pate, Reservoir Dogs, Goodfellas und Pulp Fiction, deren Welten sich um Ideen wie gerechte Gewalt und Blutehre drehen, die der liberalen, sozialdemokratischen Ära vorausgehen. […]

Das bedrückende Gefühl, in ein neues dunkles Mittelalter einzutreten, der schleichende Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrags ruft Ängste hervor, die unterdrückt werden, aber in überraschender Weise und an unvorhergesehenen Orten wieder auftauchen. Widerstand nimmt nicht unbedingt die ›logische‹ Form des kollektiven Aktivismus an (Gewerkschaften, linke Politik); er kann durch Bedingungen des Kapitalismus so verzerrt und in der Imagination verarmt sein, dass er beispielsweise in der protofaschistischen, gegen die großen Firmen gerichteten Nostalgie der rechten Milizen in den USA zum Ausdruck kommt, als eine Art hyperindividualisierter Überlebenskult.

Im Hip Hop und zunehmend auch im Jungle wird mit einer Form des ›Realismus‹ reagiert, der eine sozial konstruierte Wirklichkeit als natürlich hinnimmt. ›To get real‹ bedeutet, sich einem Naturzustand zu stellen, in dem es ums Fressen oder Gefressen werden geht, wo man entweder gewinnt oder verliert und wo die meisten Verlierer sein werden. Im Jungle brodelt eine kalte Wut, aber sie kommt in einer antikapitalistischen aber noch nicht sozialistischen Form zum Ausdruck und zwar defensiv: in der Überzeugung, dass der Underground nicht vom Mainstream korrumpiert wird.«265

Am Tag X1 hörte ich das erwartbare »Killing in the Name« und das noch mehr erwartbare »Sound of the Police«, außerdem die Beatles, Madness und – leider – The Libertines und – das war am schlimmsten – »Another Brick In The Wall« (»we don’t need no education« zu hören, während wir aus dem Kessel schlurften, war eine passend inkongruente Erfahrung).

Doch ein Video, das Jeremy am Donnerstag aufgenommen hat, legt nahe, dass sich Musik und Politik endlich näherkommen. Ich bin davon überzeugt, dass die britische Musikkultur der nächsten zehn Jahre aus dem Gebräu von Sound und Affekt bestehen wird, das in den Kesseln der letzten Woche zusammengeworfen wurde. Paul Mason hat die Idee zurückgewiesen, dass die Demonstration ausschließlich aus »Lacan lesenden Hipstern aus Spitalfield« bestand – aber natürlich waren (wir) Lacan lesende Hipster auch da, neben der »banlieu-style Jugend aus Croydon, Peckam und den Bezirken von Islington«. Mit anderen Worten, hier kam die Arbeiterklasse und die Bohème in einer Art und Weise zusammen, wie es früher bei den Kunsthochschulen – die für britische Pop-Art der Fünfziger so wichtig waren – der Fall war. Aber – mit aus ihrer Sicht guten Gründen – die neoliberale Politik steht diesem proletarischen Bohemien-Milieu feindlich gegenüber. Während die Weiterbildungseinrichtungen und die neuen Universitäten gerade versucht haben, Theorien wie die Lacans der Arbeiterklasse näherzubringen – und zugleich sich mit allem Interessanten, das aus der Arbeiterklasse kommt, zu beschäftigen –, zielte die Politik darauf, Klassen- und Kulturgrenzen zu zementieren; Philosophie für die Bourgeoisie; Berufsausbildungen für die Massen.

Siobhan bringt auf seinem Blog den Frust von Tag X3 sehr gut zum Ausdruck. Ein Teil der Menge zu sein, ohne im Kessel zu stehen, ist so gut wie unmöglich. Die Ontologie der Masse, nach der die Polizei agiert, ist mindestens interessant: Ein Teil der Menge zu werden, bedeutet, für alles, was jedes Mitglied der Menge tut, verantwortlich zu sein. Wärst du nicht dabei gewesen, wärst du nicht verletzt. Verblüffend, wie es sich hier um das totale Gegenteil der »korporatistischen Verantwortungslosig­keit« handelt, die auf die Cops selbst zutrifft.) Dominic [Blogger] weist auf »zugrundeliegende Identifikation von Unordnung und Schmutz« hin, »eine Identifikation, die auf jene übertragen wird, die gegen die Ordnung verstoßen, was zugleich das Selbstbild des Polizisten als Wahrer der öffentlichen, moralischen Gesundheit und bravem Bürger stützt und ihn von der dreckigen und abgestoßenen Unterseite der Gesellschaft abhebt.«266 Es ist eins zu eins Foucault:

»Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor: kraft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt – bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht. Gegen die Pest, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung. Es gab um die Pest eine ganze Literatur, die ein Fest erträumte: die Aufhebung der Gesetze und Verbote; das Rasen der Zeit; die respektlose Vermischung der Körper; das Fallen der Masken und der Einsturz der festgelegten und anerkannten Identitäten, unter denen eine ganz andere Wahrheit der Individuen zum Vorschein kommt. Jedoch gab es auch einen entgegengesetzten, einen politischen Traum von der Pest: nicht das kollektive Fest, sondern das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. Hier geht es nicht um Masken, die man anlegt oder fallen läßt, sondern um den ›wahren‹ Namen, den ›wahren‹ Platz, den ›wahren‹ Körper und die ›wahre‹ Krankheit, die man einem jeden zuweist. Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den ›Ansteckungen‹, vor der Pest, vor den Aufständen, vor den Verbrechen, vor der Landstreicherei, vor den Desertionen, vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden, leben und sterben.«267

Ich war in Hillsborough und ich habe gesehen, was passieren kann, wenn die Polizei Menschen als unterschieds­lose Masse behandelt, die noch nicht einmal menschlich genug sind, um diszipliniert zu werden. Bei diesen Demonstrationen waren die Polizisten die Agenten der negativen Solidarität: Warum sollten wir für die Studenten bezahlen? Wir haben es alle schwer, warum können die es nicht akzeptieren, wie der Rest von uns? Inzwischen hat sich gezeigt, wir vorausschauend Alex’ Post über die »postfordistische Plastizität und negative Solidarität« gewesen ist, seit die Bewegung – also die Alternative zur negativen Solidarität – sich genauso entwickelt hat, wie Alex es gefordert hat:

»Um die negative Solidarität aufzubrechen, bei der es sich offenkundig um die für den postfordistischen Neoliberalismus notwendige Internalisierung von Flexibilität und dem Individualismus des Homo oeconomicus handelt, müssen neue Formen der Solidarität geschafften werden, Formen, die auf die Maschinerie der neoliberalen Praxis abgestimmt sind: das Geld. Diese neue Form der Solidarität muss beweglich sein und schnell reagieren können, sie muss opportunistisch Schwächen in Systemen und Strukturen ausnutzen und eine globale Reichweite besitzen, gewissermaßen das Spiegelbild der Geschwindigkeit und Fluidität des internationalen Finanzsystems. Es handelt sich um eine formbare Solidarität, nicht die statische, steinerne Solidarität der fordistischen Arbeiter, sie fließt und bewegt sich, aber sie kann auch, wenn nötig sich festsetzen und sich verhärten. Die neuen Protest- und Occupy-Bewegungen der letzten Jahren müssen mit einbezogen werden, auch wenn sie bisher relativ erfolglos waren, da sie auf jeden Fall neue und aufregende Konfigurationen von Interessengruppen hervorgebracht haben. Was aber fehlte, sind die notwendigen, kybernetischen Steuerungssys­teme, damit aus diesen disparaten und fragmentierten Gruppen eine gegen-hegemoniale Kraft wird, eine ›Klas­sen‹-Macht im allgemeinsten Sinn des Wortes, eine Kraft, die ein Gegengewicht zu den diskreditierten aber räuberischen Zentren des Neoliberalismus darstellt. Tatsächlich ist es das, was wir aus den Theorien des Postfordismus herausdestillieren müssen, anstatt eines eingebildeten und strikt imaginären politischen Subjekts wie der Multitude. Nur wenn es eine effektive Gegenmacht gibt, können sich theoretische, sozioökonomische, postkapitalistische Formen wirklich verbreiten und Fuß fassen.«268

Postfordistische Formbarkeit spielt auch bei der anderen wichtigen politischen Geschichte dieser Tage eine Rolle (die Überschrift der Mail am Donnerstag: Jetzt ist Cyber-Krieg): Assange und WikiLeaks. Es ist hier nicht der Ort, um sich ausführlich damit zu beschäftigen, aber man sieht hier deutlich ein neues Niveau der symbolischen Krise – und das ist etwas, was diejenigen, die sagen, dass die Leaks uns nur das zeigen, was wir schon wussten, nicht verstehen.

 

Der autoritäre große Andere brauchte immer eine klare Trennung zwischen dem, was im Geheimen gesagt wird und den öffentlichen Äußerungen, aber genau diese Unterscheidung untergräbt WikiLeaks (und seine Nachfolger).

Auf der Heimfahrt im Zug habe ich gelesen, wie Clegg im Standard die »verträumten Studenten« denunziert. »Ich würde mich schämen, wenn ich mit der Welt nicht umgehen würde, wie sie ist, sondern mir stattdessen eine Welt erträume, in der ich leben will«: Das ist der kapita­lis­tische Realismus in Reinform. (Leider ein Echo von Bobby Kennedys berühmten Ausspruch: »Manche Menschen sehen Dinge, wie sie sind, und fragen: warum? Ich träume von Dingen, die es noch nie gegeben hat, und frage: warum nicht?« Man sieht hier, wie sich die Rhetorik des Mainstream-Liberalismus unter dem Druck des kapitalistischen Realismus verkehrt.)

Vom Grundkurs Foucault zum Grundkurs Barthes. Die Berichte über die Demonstrationen in den Nachrichten von BBC sind ein Musterbeispiel dessen, was Barthes Verankerung genannt hat. Was wir sehen sind berittene Polizisten und Sachbeschädigung; wovon wir hören – aus dem Munde eines mutigen Reporters mit Helm hinter der Polizeiabsperrung – ist die »Gewalt« der Studenten. (Es ist natürlich kein Zufall, dass Paul Masons Bericht aus dem Kessel kam.) Das Bemerkenswerteste an der Medienberichterstattung seit Tag X war die ständige Gleichsetzung von Gewalt und Sachbeschädigung. Ich bin zwei Mal knapp einem Kessel entkommen und habe so gut wie keine Gewalt oder Sachbeschädigung gesehen. Was ich gesehen habe, ist Gewalt durch die Polizei, nämlich wenn eine Gruppe von Schlagstock schwingenden Cops die Demonstranten in einen Kessel in Whitehall zwingt. Von Alfie Meadows habe ich erst später erfahren, und der Unterschied zwischen der Wirklichkeit der Demonstration und ihrer Darstellung in den Medien macht mich so wahnsinnig, dass ich fast keine Nachrichten mehr anschauen kann. Während ein junger Student sich einer Operation am Gehirn unterziehen muss, konzentrieren sich die Medien auf einen kosmetischen »Angriff« auf den Erben des königlichen Autos. Die Folgen sind ambivalent269, aber es ist klar, dass Großbritannien offensichtlich seit dem Bergarbeiterstreik nicht mehr so gespalten war. Am Nachmittag des Tag X1, auf dem Weg vom Trafalgar Square nach Whitehall, wussten wir weder wohin wir gehen noch wer (und ob) uns (jemand) anführt. Wir sind aus dem Ende der Geschichte ausgebrochen und auf unbekanntem Terrain angekommen. Sicher ist, dass die alte Welt zerfällt und bald wird es unmöglich sein, so zu tun, als könnten wir zu ihr zurückkehren.