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Sleaford Mods
Divide and Exit und Chubbed Up:
The Singles Collection 227

Kein Dialekt ist so unbeliebt in Großbritannien wie der Dialekt der East Midlands. Ihm fehlt der urbane Zauber, das schwingend Poetische oder das ländlich Romantische, man hört ihn so selten in den Medien, dass er nicht mal bekannt genug ist, um ihn zu verachten. Ich gebe zu, dass ich mich hier angesprochen fühle, denn ich bin in den East Midlands aufgewachsen und als ich die Universität verlassen habe, wurde mir von einem sympathischen Dozenten attestiert, ein »Sprach- und Dialektproblem« zu haben. Der Dialekt verschwand nach und nach und ich lernte, die faulen Leicesteshire-Konsonanten zu unterdrücken und meine Sprache etwas näher an die vermeintlich offizielle Aussprache heranzurücken – ein Erfolg, der mit Ambivalenz und Scham einherging.

Jason Williamson von Sleaford Mods macht keine derartigen Konzessionen an metropolitane Gewohnheiten und er verachtet alle, die in falschen Dialekten sprechen, egal ob sie jemanden aus East London imitieren oder »Lou Reed, G.G. Allin…« Der Appell an das Lokale in der Politik und der Kultur ist meistens selbstgefällig und reaktionär; ein kleinbürgerlicher Trick, um mehr kulturelles und echtes Kapital zu erhalten, indem man das handwerkliche und organische überteuert (Williamson kennt diesen Trick: »expensive coffee shops full of local art / Fuck off // teure Cafés voller lokaler Kunst / Fickt euch«). Doch die Politik des Lokalen funktioniert anders, wenn es um Dialekte geht. Die englische Bourgeoisie spricht mehr oder weniger dieselbe Sprache, wo auch immer sie herkommen. Einen regionalen Dialekt zu behalten ist deswegen eine Herausforderung für die Maschinerie der Klassenunterwerfung – man weigert sich, als minderwertig markiert zu werden.

Williamson wurde in Grantham, Lincolnshire geboren – Sleaford ist gut zwanzig Meilen weg – und war jahrelang in der Musikszene aktiv und folgte einem bekannten Muster in der Provinz: Nie hat er es ganz geschafft, aber immer wenn er kurz davor war, aufzugeben, wurde er wieder zurückgelockt. Immer mal wieder spielte er in lokalen Bands, er verfolgte seinen Traum und zog für eine Weile nach San Francisco und London und endete wieder zu Hause, als all das nicht funktionierte. Dann versucht er es auf eigene Faust, aber ihm fiel nichts Neues ein, bis er gelangweilt und frustriert eines Tages in einem Studio begann, über einem Metalsong eine Schimpf­tirade aufzunehmen. Er hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, seine Stimme gefunden.

Inspiriert wurde er von Wu-Tang Clan, aber er imitierte nicht ihren Sound, sondern ihre Methode, er zwang die Hörer, sich an seinen Dialekt, seinen Idiolekt und seien Referenzen zu gewöhnen. Dabei riskiert er das Bathos, die Kontrastierung des Höheren mit dem Niederen – die East Midlands sind nicht New York und die Sleaford Mords wären nicht mehr als eine weitere komische Truppe, wäre da nicht Williamsons aufwiegelnde Intensität. (Was nicht heißt, den bissigen, ätzenden Witz in Zeilen wie diesen nicht wahrzunehmen: »Chumbawamba weren’t political? / They were just crap // Chumbawamba waren nicht politisch? / Sie waren einfach Scheiße«. Das ist nicht nur lustig, sondern auch treffend.) Wenn man die Singles Collection Chubbed Up neben Divide and Exit stellt, merkt man, dass sich der Sound der Band nicht großartig verändert hat. Die Abwechslung entsteht durch Williamsons Worte, die Musik von Andrew Fearn folgt einer (schlichten) Formel: pugilistischer Postpunk-Bass; funktionale aber unaufdringliche Beats; manchmal ein billiges Keyboardriff und lustlose Gitarrenböen. Das Ganze ist digital bearbeitet, aber offenkundig unpoliert – die Software wird nicht dazu benutzt, um die Klänge bis ins Kleinste zu verwalten, sondern sie in einer Purgatorium-gleichen Schleife einzusperren.

Der Name Sleaford Mods klingt wie ein altes Graffiti oder etwas, das man früher vor drei Jahrzehnten mal auf einem Union Jack bei einem Fußballspiel gesehen hat. Auf den ersten Blick sind die zwei alles andere als Mods. Wo ist der Stil und die Coolness in dieser kompromisslosen Tirade von Schimpfworten und Unzufriedenheit? Aber Mod war ein komplexes Phänomen, es ging gleichermaßen um die Sehnsucht nach dem Glamour des schwarzen Amerikas wie um das Scheitern, ihn zu erreichen. Die Mods mochten zwar Miles und Motown, aber wenn sie Musik machten, dann klangen sie wie The Who und The Jam – Rock, der mit einem Plastiklöffel im Mund geboren wurde, gefangen in einem monochromatischen England im Schatten der aus Amerika kommenden Konsumententräume der Pop Art. Die Mods hatten Schreibtischjobs, arbeiteten in angelernten Berufen, in Supermärkten und sehnten sich nach einem kaum erreichbaren Luxus. Sie wollten jedoch nicht die Leiter der bürgerlichen Sittlichkeit erklimmen – sie lebten vielmehr die Idee einer Welt, in der Stil weit über die engen Maschen den Geschäfts hinausgeht und das Leben ein Kunstwerk ist. Wie Dick Hebdige in seinem Essay »The Meaning of Mod« schreibt: »Jeder Mod lebte in einer Geisterwelt aus Gangstern, Edelclubs und schönen Frauen, selbst wenn es in der Wirklichkeit nur für einen zugigen Parka, eine alte Vespa und Fish&Chips aus einer fettigen Tüte reichte.« Bei Sleaford Mods sind nur noch die Chips und das Fett übrig. Fabriken haben geschlossen und Gewerkschaften wurden besiegt. Die Kunsthochschulen und die Medien sind bürgerlicher als je zuvor. Universitätsseminare wurden geöffnet, doch die Graduiertenstellen bekommen die alten Bekannten. Den Dialekt der Arbeiterklasse hört man im Fernsehen nur in pornografischen Armutsdokumentationen.

Das ist die Welt der Sleaford Mods, aber sie weigern sich, den Platz einzunehmen, den wohlmeinende Liberale aus der Großstadt und skrupellose Tories ihnen zuweisen wollen. Sie haben keine Lust, einen dummen, schwächlichen Proleten oder einen weißen, rassistischen Arbeiter zu spielen (Williamson hasst die St.-Georgs-Flagge schwen­kende Weiße genauso wie ihre Herren von den Tories). Sie geben nicht auf und akzeptieren dankbar irgendwelche Knochenjobs oder begnügen sich damit »in den Gängen des Supermarkts zu verrotten«, wie es die Single »Jolly Fucker« ausdrückt.

Wenn überhaupt, dann fühlt sich Divide and Exit klaus­trophobischer an als sein Vorgänger Austerity Dogs, wo selbst die kleinsten Momente des Träumens, die einst auf Liedern wie »Donkey« aufblitzten, von Williamsons gna­denloser, exkrementaler Tirade eliminiert werden. Exkre­mental ist das richtige Wort: Pisse und Scheiße sind über­all in den Texten Williamsons, als ob all der psychische und physische Abfluss, den Camerons Großbritannien ab­ge­stoßen hat, nicht länger gehalten werden kann und nun nach oben drängt und durch die wie Deodorant duftende, digitale, kommerzielle Propaganda explodiert, jener billigen Illusion, dass wir alle im selben Boot sitzen und alles gut werden wird.

Was aus Williamsons Schandmaul fließt, ist eine überschäumende Unzufriedenheit, die sich angestaut hat, wäh­rend man Sozialhilfe empfängt oder einen sinnlosen Job hat, verstärkt durch die angeschlagenen Fluchtphantasien, die eine krisengeschüttelte Musikbranche vorantreibt. Eine frühe Single hieß »Jobseeker«: »So Mr Williamson – what you done to find gainful employment since your last signing on date? / Fuck all! // So, Mr. Williamson, was haben Sie seit ihrem letzten Termin unternommen, um Arbeit zu finden? / Einen Scheißdreck!« Ein ausgedachter Dialog ohne Zweifel: Hier, wie an vielen anderen Stellen, macht Williamson einer Stimme Luft, die ansonsten eingesperrt bliebe. Unzufriedenheit gibt es in Großbritannien überall, aber sie ist meis­tens privatisiert: abgestumpft durch Alkohol und Antidepressiva oder umgelenkt in hilflose Kommentarspalten und leere Wut in den sozialen Medien: »All you Zombies, tweet, tweet, tweet.«

Die Unnachgiebigkeit von Williamsons Wut – sein »Fickt euch!« ist eine Explosion reiner Verzweiflung, an niemanden bestimmten gerichtet oder an alle zugleich – wird durch ein Klassenbewusstsein unterstrichen, dem schmerzhaft bewusst ist, dass es nichts gibt, was die Entfremdung in politisches Handeln überführen könnte. »Aren’t we all just / Pissing in the flames? // Pissen wir nicht alle / einfach in die Flammen?« Cameron und die Tories werden offensichtlich verachtet – es gibt da dieses besonders alptraumhaft einprägsame Bild vom »Gesicht des Premiers in den Wolken / Wie Gary Oldmans Dracula« – aber wer soll sie schon aufhalten? »Livable shit / You put up with it // Erträgliche Scheiße / Ihr arrangiert euch damit«. Und das richtet sich auch an das Publikum und ist zugleich die Anerkennung von Williamsons eigener Kapitulation, nämlich dass er tun muss, was nötig ist, um zu überleben.

Politische Musik muss nicht immer Lösungen parat haben. Aber nichts ist dringlicher als die Beantwortung der Frage der Sleaford Mods: Wer wird mit der Wut und der Frustration, die Williamson äußert, in Kontakt treten? Wer kann den schlechten Affekt in ein neues politisches Projekt verwandeln?

Keine Romantik ohne Bares 228

Jennifer M. Silvas Coming Up Short: Working-Class Adulthood in an Age of Uncertainty ist eine herz­zer­rei­ßende Studie der zerstörerischen Effekte des Neolibera­lismus auf dem Feld der Intimität. Silvas Buch handelt speziell von jungen Leuten – die Grundlage sind hunderte Interviews mit Heranwachsenden aus der Arbeiterklasse, Männern und Frauen, in zwei amerikanischen Städten in Massachusetts und Virginia. Die Ergebnisse sind verstö­rend. Immer und immer wieder findet Silva bei ihren Gesprächspartnern ein »verhärtetes« Selbst vor – eine Form der Subjektivität, die ihr Selbstbewusstsein aus der Unabhängigkeit von anderen zieht. Laut Silva entstand das verhärtete Subjekt, weil diese Generation institutio­nell und existenziell zurückgelassen wurde. In einer Um­ge­bung, die von gnadenloser Konkurrenz und Unsicher­heit geprägt ist, kann man weder anderen vertrauen noch sich langfristig eine Zukunft vorstellen. Natürlich hängen beide Probleme miteinander zusammen, gleichsam als eine der tödlichen Spiralen, von denen die neoliberale Kultur so viele in die Welt gesetzt hat. Die Unfähigkeit, sich eine sichere Zukunft vorzustellen macht es sehr schwierig, sich auf eine langfristige Beziehung einzulas­sen. Anstatt einen Partner als jemanden zu sehen, der ebenfalls unter den Belastungen eines äußerst umkämpf­ten, gesellschaftlichen Feldes leidet, sahen viele der He­ran­wachsenden, mit denen Silva gesprochen hat, Bezie­hungen als eine weitere Ursache von Stress an, viele der heterosexuellen Frauen hielten sie für zu riskant. In Ver­hältnissen, in denen sie sich auf wenig anderes als sich selbst verlassen können, ist die Unabhängigkeit, die sie sich zwangsläufig aneignen mussten, eine kulturell ge­schätzte Errungenschaft und eine hart erkämpfte Über­lebensstrategie, die nur widerwillig aufgegeben wird.

 

»In einer Welt, die sich permanent verändert und in der die Loyalitäten zerbrechlich sind«, so Silva, »erlebt die Sprache und die Institutionen der Therapie – und der Selbstverwandlung, die sie versprechen – in den Ver­einig­ten Staaten einen Boom.«229 Das therapeutische Narrativ einer heroischen Transformation ist die einzige Geschichte, die Sinn ergibt, wenn man sich auf die Insti­tutionen nicht mehr verlassen kann, die die Indi­vi­duen versorgen und fördern sollen:

»In sozialen Bewegungen wie dem Feminismus war Selbsterfahrung (awareness) oder das Benennen der eigenen Probleme der erste Schritt in Richtung einer radikalen, kollektiven Aufmerksamkeit. Für diese Ge­ne­ration ist das der einzige Schritt, vollkommen ge­trennt von jeder Art der Solidarität; obwohl sie alle mit ähnlichen, strukturellen Problemen kämpfen, gibt es kein Gefühl des ›wir‹. Die Möglichkeit einer kollek­ti­ven Politisierung, die das Benennen des eigenen Lei­dens bietet, wird durch die übergreifenden Herr­schafts­strukturen begraben, weil andere, die ebenfalls leiden, nicht als Verbündete, sondern als Objekte der Verach­tung betrachtet werden.«230

Die Verbreitung therapeutischer Narrative war eine Form, in der der Neoliberalismus die molekulare Revolu­tion, die durch die Bewusstseinsbildung (consciousness-raising) hervorgebracht wurde, privatisiert und eingehegt hat. Wo die Bewusstseinsbildung auf unpersönliche und kollektive Strukturen hinweist – Strukturen, die die kapi­talistische und patriarchale Ideologie verdeckt –, sieht der Neoliberalismus nur Individuen, Entscheidungen und per­sönliche Verantwortung. Doch die Strategien der Be­wusstseinsbildung lagen nicht nur quer zur kapitalisti­schen Ideologie; sie markierten auch einen Bruch mit dem Marxismus-Leninismus. Vorbei war die revolutionä­re Eschatologie und der militaristische Machismo, die die Revolution einer Avantgarde vorbehielten. Stattdessen wurden revolutionäre Strategien potenziell für alle ver­füg­bar. Sobald zwei oder mehr Menschen zusammen­kommen, können sie anfangen, den Stress, den der Kapi­talismus normalerweise privatisiert, zu kollektivieren. Indi­viduelle Scham löst sich auf, indem man gemeinsam die strukturellen Ursachen identifiziert.

Der sozialistische Feminismus verwandelte Lukács’ Theorie des Klassenbewusstseins in die Praxis der Be­wusstseinsbildung. Da diese Strategie von ganz verschie­denen unterdrückten Gruppen genutzt wurde, wäre es viel­leicht besser, nun von unterdrücktem Gruppenbe­wusst­sein zu sprechen, statt (nur) von Klassenbe­wusst­sein. Nebenbei sei aber bemerkt, dass der Neoliberalis­mus versucht hat, das Konzept der Klasse durchzustrei­chen und eine Situation hergestellt hat, die Wendy Brown bekanntlich als eine bezeichnet hat, in der es »Klassen­ressentiment ohne Klassenbewusstsein oder Klassenana­lyse« gibt. Das Durchstreichen der Klasse hat alles ver­ändert und es möglich gemacht, dass viele Kämpfe rheto­risch vom bürgerlichen Liberalismus integriert wurden.

Unterdrücktes Gruppenbewusstseins ist in erster Linie ein Bewusstsein der (kulturellen, politischen, existenziel­len) Maschinerien, die Unterdrückung produzieren – die Maschinerien, die herrschende Gruppe normalisieren und ein Gefühl der Minderwertigkeit bei den unterdrückten Gruppen hervorrufen –, eine Macht, die auf genau dieser Unterdrückung des Bewusstseins beruht. Allerdings ist es wichtig, dass das Ziel ist, nicht in diesem Zustand der Unterdrückung zu verharren. Wie Nancy C. M. Hartsock erklärt, »geht es nicht darum, eine Erklärung der Welt zu finden, in der unsere Perspektiven nicht mehr unter­drückt, aufrührerisch oder disruptiv sind, sondern poten­ziell konstitutiv für eine andere Welt.«231

Ein neues Bewusstsein ausbilden heißt nicht nur, Dinge zu bemerken, die man vorher ignoriert hat: Es geht viel­mehr darum, sein gesamtes Verhältnis zur Welt zu ver­ändern. Das Bewusstsein, um das es geht, ist kein Be­wusst­sein des existierenden Standes der Dinge. Bewusst­seinsbildung ist vielmehr produktiv. Sie schafft ein neues Subjekt – ein Wir, das sowohl das Subjekt als auch das Ziel des Kampfes ist. Zugleich interveniert Bewusst­seins­bildung in das »Objekt«, in die Welt selbst, die nun nicht länger als statische Undurchsichtigkeit gesehen wird, deren Zustand bereits entschieden ist, sondern als etwas, das transformiert werden kann. Diese Transformation er­for­dert Wissen; sie wird nicht durch Spontaneität, Vo­lun­tarismus, die Erfahrung durchbrechende Ereignisse oder durch Marginalität allein hervorgebracht. Darauf zielt Hartsocks Konzept der Standort-Epistemologie, die – im Anschluss an Lukács und Marx – besagt, dass unter­drückte Gruppen potenziell Zugang zu einem Wissen haben, das dem gesamten gesellschaftlichen Feld der herrschenden Gruppe fehlt. Mitglieder von unterdrückten Gruppen haben dieses Wissen aber nicht automatisch – es kann nur dann genutzt werden, wenn Gruppenbewusst­sein entwickelt wird. Laut Hartsock muss die Vision, die der unterdrückten Gruppe verfügbar ist, »erkämpft wer­den und stellt eine Errungenschaft dar, die sowohl von der Wissenschaft verlangt, über die Oberfläche der so­zialen Beziehungen, an denen alle teilhaben, hi­naus­zugehen als auch die Bildung fordert, die nur durch den Kampf, diese Verhältnisse zu ändern, entstehen kann.«

Eine Möglichkeit der Deutung von Jennifer M. Silvas Buch besteht darin, es als Darstellung eines radikal ent­leerten Bewusstseins zu lesen. Entscheidend ist dafür Silvas Wiedereinführung des Begriffs der Klasse, ver­stan­den als ein Rahmen, der die Erfahrungen ihrer Pro­tagonisten formt. Klasse ist das, was in den »therapeu­tischen« Erzählungen ihrer Gesprächspartner meistens fehlt. Genau wie Wendy Brown schreibt, neigen viele der Interviewpartner von Silva dazu, ein (unbewusstes und verneintes) Klassenressentiment ohne Klassenbewusst­sein an den Tag zu legen.

Silvas Beschreibung von Frauen, die zögern, ihre Unabhängigkeit von Männern aufzugeben, die sie als schwache Verschwender ansehen, ließ mich an zwei R&B-Hits aus dem Jahr 1999 denken. »No Scrubs« von TLC und »Bills, Bills, Bills« von Destiny’s Child. In beiden Songs schimpfen finanziell unabhängige Frauen auf (vermutlich arbeitslose) Männer wegen ihrer Hilf­losigkeit. Es ist leicht, diesen Liedern Affirmation der neo­liberalen Ideologie vorzuwerfen. Ich glaube hin­gegen, dass es produktiver ist, diese Songs genau so zu ver­stehen wie Silvas Buch. Es sind Beispiele eines ent­leerten Bewusstseins, die wichtige Lektionen enthalten, für alle, die den kapitalistischen Realismus abschaffen wollen.

Man geht oft davon aus, dass Politik irgendwie »in« den kulturellen Produkten steckt, unabhängig von deren Kontext und Verwendung. Natürlich kann Agit-Prop-Kultur manchmal politisch transformierend wirken. Doch selbst das reaktionärste kulturelle Artefakt kann einen Beitrag zu einer Veränderung der Gesellschaft darstellen, wenn man sich ihm aufmerksam nähert. Die späten Arbeiten von Stuart Hall lassen sich in diesem Sinne verstehen: Hall versuchte, linker Politik jene Inhalte näherzubringen, die in der Sphäre der Kultur virulent waren. Wenn dieses Projekt tragisch gescheitert ist, dann nicht aufgrund von Kurzschlüssen in Halls Ansatz, sondern wegen der Unnachgiebigkeit der alten Linken und ihrer Taubheit, wenn es um die Wünsche und Sorgen geht, die innerhalb der Kultur geäußert werden. Seit Hall dem Zauber von Miles Davis in den 1950er Jahren erlegen ist, träumte er von einer Verschmelzung der libidinösen Moderne, die er in der Popmusik fand, mit dem progressiven, politischen Projekt einer organisierten Linken. Die autoritäre Linke war unfähig, sich auf diese Vorstellung einzulassen und sorgte damit dafür, dass sie von der Rechten überholt wurde, die bald anfing, die Modernisierung für sich zu reklamieren und die Linke der Vergangenheit zu überantworten.

Um dieses Scheitern noch aus einem anderen Blick­winkel zu begreifen, betrachten wir für einen Moment die späten Arbeiten der amerikanischen Musik- und Kultur­kritikerin Ellen Willis. In ihrem Essay »The Family: Love It Or Leave It«232 von 1979 beschäftigt sich Willis mit dem Versuch der Gegenkultur, an die Stelle der Familie ein System der kollektiven Kindererziehung zu setzen, was für Willis »eine gesellschaftliche und psy­chi­sche Revolution fast unglaublichen Ausmaßes« bedeu­tete. Es ist in unseren entleerten Zeiten schwer, das Selbstbewusstsein der Gegenkultur wiederherzustellen, dass eine solche »gesellschaftliche und psychische Re­volution« nicht nur möglich wäre, sondern bereits dabei ist, sich zu entfalten. Wie viele aus ihrer Generation wurde auch Willis zunächst von diesen Hoffnungen ergriffen und sah sie dann verschwinden, während die Kräfte der Reaktion die Oberhand bekamen. Wahr­schein­lich gibt es keine bessere Analyse des Rückzugs der Gegenkultur von der prometheischen Ambition und dem Verfall in Selbstzerstörung und Pragmatismus wie Willis Essaysammlung Beginning To See The Light.233 Wie Willis in der Einleitung schreibt, hatte sie oft ein Problem mit dem Autoritarismus und der Staatsgläubigkeit des Mainstream-Sozialismus. Während die Musik, die sie hörte, von Freiheit sprach, ging es dem Sozialismus um Zentralisierung und die Kontrolle des Staates. Die Politik der Gegenkultur war antikapitalistisch, so Willis, doch dies hieß nicht, alles abzulehnen, was im Kapitalismus produziert wurde.

Genuss und Individualismus waren in jedem Fall wichtig für das, was Willis als ihren »Streit mit der Lin­ken« beschreibt, doch bei dem Wunsch, die Familie ab­zu­schaffen, war noch etwas anderes im Spiel; es ging notwendigerweise darum, neue und noch nie dagewesene Formen der kollektiven (aber nicht-staatli­chen) Organisa­tion zu finden. Willis »Kritik an üblichen, linken Ideen über den fortgeschrittenen Kapitalismus« richtete sich gegen die bestenfalls halbwahre Vorstellung, dass »die Konsumökonomie uns zum Sklaven der Waren macht, so dass die Funktion der Massenmedien wird, unsere Phan­ta­sien zu manipulieren, damit wir Erfüllung im Kauf der Waren des Systems finden«. Kultur – und die Musikkul­tur im Besonderen – waren für sie ein um­kämpf­tes Terrain statt nur ein Ort der Herrschaft des Kapitals. Das Verhältnis zwischen ästhetischen Formen und Politik war instabil und unvollständig – Kultur bringt nicht einfach schon existierende politische Positionen »zum Aus­druck«, sondern sie antizipierte auch politische Phäno­mene, die noch kommen (was allzu oft auch heißen konn­te, dass diese Politik niemals kam).

Und dennoch gab es eine immanent transformative Un­mittelbarkeit in der Musik der Gegenkultur. Sie verstärk­te das Gefühl der Verzweiflung, der Unzufriedenheit und der Wut, von der die bürgerliche Kultur eigentlich will, dass wir ihr misstrauen. Insofern war die Musik bewusst­seinsbildend, da das Massenpublikum seine Gefühle nicht nur bestätigt fand, sondern auch die Ursache in den unter­drückenden Strukturen identifizieren konnte. Mehr noch, der Konsum halluzinogener Drogen von immer mehr Tei­len der Gesellschaft und die Entstehung einer psychede­lischen Imagination, die selbst die berührte, die noch nie LSD genommen hatten, nährten die weit verbreitete Wahrnehmung, dass die gesellschaftliche Realität provi­so­risch und künstlich war und durch ein kollektives Begehren verändert werden konnte.

Beginning to See the Light ist ein schmerzhaftes – und schmerzhaft ehrliches – Buch über das entleerte Be­wusstsein und genau dieselbe Geschichte wird auch inner­halb der Musik erzählt. Peter Shapiro hat gezeigt, wie der Soul und Funk Anfang der siebziger Jahre – »Back Stabbers« von The O’Jays, »Smiling Faces Sometimes« von The Undisputable Truth oder Sly Stones »You Caught Me Smiling« – Teil »einer bemerkens­werten Konversation« über das gerade erfundene gelbe Smileyface war, »ein Minenfeld der Phantasie, das Gene­rationen von Karikaturen verwirrte, die leuchtenden Ge­sich­ter des weißen Establishments, das Bürgerrechte und Integration versprach und Nixons Trickser-Bande.« Mit dem Aufstieg Nixons und der Niederschlagung der Black Panthers, brachten Songs wie »Backstabbers« eine neue Stimmung des Misstrauens und der Gegenanklage zum Ausdruck. In dem klassischen Essay »Sly Stone: The Myth of Staggerlee« argumentiert Greil Marcus, dass diese Lieder – ähnlich wie Sly and the Family Stones There’s A Riot Goin’ On und »Papa was a Rolling Stone« von The Temptations – Teil eines bitteren, historischen Moments waren, in dem der Optimismus der Sechziger versiegt war und von Paranoia und Melancholie ersetzt wurde. Stone schrieb, dass, »wenn neue Rollen zusam­men­bre­chen und es nichts gibt, was an ihre Stelle tritt, dann kommen die alten Rollen und Geister zurück und füllen die Leerstelle«. Die Kollektivität und Multiplizität, die die Family Stone symbolisierte – radikale Demokratie in Aktion: eine Band bestehend aus Männern und Frauen, Schwarzen und Weißen – verschwand und wurden durch einen mürrischen, deprimierten Individualismus ersetzt. »Die beste Popmusik spiegelt Ereignisse nicht einfach wider, sondern absorbiert sie«, so Marcus. »Wenn der Geist von Slys früher Musik von den Versprechen Martin Luther Kings und dem Feuer der Unruhen in den Groß­städten geprägt war, stand Riot für das Ende dieser Er­eignisse und den Versuch, eine neue Musik zu finden, die diesen neuen Verhältnissen angemessen war.«

 

Doch diese »neuen Verhältnisse« entwickelten sich schließlich zum kapitalistischen Realismus selbst. Der kapitalistische Realismus – in dem die gegenwärtigen sozialen Beziehungen in einer Weise verdinglicht sind, dass ihre Veränderung undenkbar wird – konnte erst vollständig durchgesetzt werden, als die prometheisch-psychedelische Imagination fast vollständig ausgelöscht war. Doch das sollte eine Weile dauern. Die Siebziger waren nicht nur von der Niederlage und dem Rückzug der Gegenkultur geprägt. In When The Lights Went Out: Britain in the Seventies schreibt Andy Beckett, dass die »liberale oder linke Melancholie bezüglich der Siebziger in vielerlei Hinsicht das Spiegelbild der düsteren Per­spektive der Rechten auf dieselbe Zeit war«. Das ver­nachlässigt jedoch, so Beckett weiter, dass die 1970er Jahre »für viele politisierte Briten keine Verlängerung der Sechziger war; es war vielmehr der Moment, als die große Party der Sechziger erst begann«. Der erfolgreiche Bergarbeiterstreik 1972 funktionierte aufgrund einer Allianz von Bergarbeitern und Studenten und erinnerte an Verbindungen in Paris 1968, wobei die Berg­arbeiter den Campus der University of Essex in Colches­ter als ihre Basis in Ostengland benutzten. In den Siebzigern nahmen auch die Schwulen- und Ökobewegung, der Anti­rassis­mus und der Feminismus an Fahrt auf. In vielerlei Hin­sicht war es der ununter­bro­chene Erfolg der Linken und der Gegenkultur in den Siebzigern, der das Kapital dazu zwang, mit dem Neo­liberalismus zu antworten. Dies be­gann in Chile, nachdem Pinochets, von der CIA unter­stütz­ten Coup die demokratisch-sozialistische Regierung Salvador Allendes gestürzt hatte und das Land – unter Einsatz eines Regimes der Repression und der Folter – in das erste neoliberale Labor der Welt verwandelte.

Die Siebziger, die Andy Beckett im britischen Kontext feiert, hatten ihr amerikanisches Pendent in der Disco-Musik. Disco war ein Genre, das aus dem Zusam­men­treffen verschiedener unterdrückter Gruppen entstand. Es war eine Musik von und für Homosexuelle, Schwarze und Frauen und: Wie die meiste Popmusik seit dem Zweiten Weltkrieg kam sie mehrheitlich aus der Arbei­terklasse. Nile Rodgers von Chic – ohne Zweifel einer der wichtigsten Produzenten und musikalischen Konzep­tualisten der späten Siebziger und frühen Achtziger – war als Teenager bei den Black Panther. Disco war die Folie für alle weiteren Wellen der Tanzmusik in den Achtzi­gern und Neunzigern, einschließlich House, Techno, Rave und Garage. In ihrem Buch Design After Dark (1991) prophezeite Cynthia Rose eine »Dancefloor Revo­lution«, die durch

»Veränderungen von unten entstehen wird – sukzessive Wellen von Guerilla-Sounds, Guerilla-Design, Gueril­la-Unterhaltung. Die neue Designdynamik wird ein Im­puls sein, der auf dem Feiern beruht, auf der als Er­eig­nis begriffenen Freizeit. Und es wird die Wahrnehmung junger Leute, was Dinge wie Design und Kommuni­ka­tion sein können, verändern.«234

Verständlicherweise konnte Rose nicht ahnen, in welchem Ausmaß die neuen Energien, Infrastrukturen und Begehrensstrukturen von einer neoliberalen Kultur integriert wurden, die Freiheit und Genuss für sich in Anspruch nahm, während sie zugleich die Linke als graue, puritanische Etatisten abtat. Ein weiteres Mal verpasste die Linke die Gelegenheit, sich erfolgreich mit der kollektiven Euphorie der Clubkultur zu verbinden. Deswegen wurden die »guten Zeiten« auf dem Dancefloor zu kurzweiligen Fluchten aus dem Kapitalismus, der immer mehr Bereiche des Lebens, der Kultur und der Psyche beherrschte.

Die Überherrschaft des Kapitalismus kommt im bissigen, obgleich spielerischen »Realismus« von Gwen Guthries R&B-Hit »Ain’t Nothing Goin’ On But The Rent« (1986) zum Ausdruck, einem der ersten musikalischen Dokumente jenes verhärteten Selbst, das Silva so brillant analysiert. Vor dem Hintergrund steigender Arbeitslosigkeit singt Guthrie: »You’ve got to have a j.o.b. if you want to be with me / no romance without finance // Du brauchst einen J.O.B., wenn du mit mir zusammen sein möchtest / keine Romantik ohne Bares«. Die in Guthries Song inszenierte Subjektivität ist in gewisser Hinsicht der Gegenpart zu der Figur des Rappers, die in derselben Zeit entstand. Beide verweigern sich Intimität und Zärtlichkeit. Im Gangsta-Rap gibt es eine übertriebene Inszenierung von Unverletzbarkeit – eine Performance, die von einer bitteren Ironie ist, wenn man bedenkt, dass selbst ein paar der reichsten und erfolgreichs­ten Rapper (wie Tupac Shakur und Biggie Smalls) am Ende erschossen wurden. Im Gegensatz dazu geht es bei »Ain’t Nothing Goin’ On But The Rent« trotz allen oberflächlichen Jubels um Sicherheit in Zeiten radikaler Ungewissheit – »fly girl like me / needs security // ein cleveres Mädchen, wie ich / braucht Sicherheit«. Hier wurde die Ökonomie unter Reagan nicht gefeiert. Im Gegenteil, Guthries Song registriert die Art und Weise, wie die Reaganomics die Bedingungen der Intimität untergruben – eine Message, die emotional sehr viel aufgeladener und politisch relevant war als viele der Protestsongs jener Zeit. Zugleich darf die Formel »keine Romantik ohne Bares« nicht als reaktionäre Konzession an den kapitalis­tischen Realismus betrachtet werden. Stattdessen handelt es sich um eine Geste der Verweigerung gegenüber jener ideologischen Sentimentalität, die soziale Reproduktion von bezahlter Arbeit trennt. Viele musikalische Entwicklungen des 21. Jahrhunderts vorwegnehmend, war »Ain’t Nothing Goin’ On But The Rent« der Sound der Einsamkeit, der entsteht, wenn das Bewusstsein entleert wird und die Bedingungen, es wieder aufzurichten, verschwinden. Die neuen Bewegungen, die in den USA im Nachgang von Ferguson oder mit Podemos und Syriza in Europa entstanden, geben jedoch Anlass zu der Hoffnung, dass diese Bedingungen wiederkehren. Es sieht so aus, als ob der kapitalistische Realismus ein dreißig Jahre langes Zwischenspiel statt das Ende der Geschichte war. Der Prozess, der in den Sechzigern begann, kann nun wieder aufgenommen werden. Erneut entsteht ein Bewusstsein.