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Die geheime Traurigkeit des 21. Jahrhunderts:
James Blakes Overgrown219

Mit James Blakes Album Overgrown scheint eine be­stimmte Entwicklung an ihr Ende gekommen zu sein. Hatte Blake zu Beginn seine eigene Stimme digital bear­beitet, ist er jetzt zum Sänger geworden; aus konstru­ier­ten Tracks wurden geschriebene Lieder. Der erste Impuls für die frühen Stücke von James Blake kam ohne Zweifel von Burial, dessen Kombination aus fahrigem Two-Step und R&B-Vocal-Samples dem Pop des 21. Jahrhunderts den Weg ebnete. Es war wie, als hätte Burial die Dub-Version der Songs gemacht; nun ging es darum, das Ori­ginal wiederherzustellen und dazu gehörte, die Samples durch einen echten Sänger zu ersetzen.

Wenn man sich Blakes Alben in chronologischer Rei­hen­folge anhört, hat man das Gefühl, als würde ein Geist langsam eine materielle Form annehmen; oder als ob sich die Form des Songs (wieder) aus dem digital Äther herausschält. Ein Track wie »I Only Know (What I Know Now)« von er EP Klavierwerke ist auf wunderbare Weise substanzlos – ein Hauch von Schmerz, Blakes Stimme eine Reihe von Seufzern und unverständlichen, hochge­pitchten Hooks, die Produktion meliert und wasserdurch­tränkt, das Arrangement komplex und fragil, geradezu ver­schwenderisch anorganisch, insofern als kein Versuch unternommen wird, die Spuren der Montage zu ver­wischen. Die Stimme gleicht einer Spur, einem Zucken, sie ist wie ein spektraler Spezialeffekt, der über den Mix verteilt wurde. Das Debütalbum James Blake stellte so etwas wie traditionelle Klangprioritäten wieder her. Die Neuerfindung des Pop, die seine frühen Veröffentlichun­gen versprach, schien vorerst aufgegeben. Blakes defrag­mentierte Stimme rückte im Mix in den Vordergrund, in­direkte oder teilweise demontierte Songs wurden zu »rich­tigen« Liedern, mit sauberem Klavier und Orgel. Elektronik und Stimmbearbeitung gab es immer noch, aber sie hatten jetzt eine dekorative Funktion. Blakes blauäugige Soulstimme und die Art und Weise, wie die Lieder Orgeln (oder orgel-ähnliche Klänge) mit Elektro­nik verbanden, erinnerten an Steve Winwood auf halber Geschwindigkeit.

Viele, die von den frühen EPs begeistert gewesen wa­ren, zeigten sich von James Blake enttäuscht oder leicht konsterniert. Ein Objekt zu verhüllen und verschieben ist der sicherste Weg, um den Eindruck der Erhabenheit zu erwecken. Den Schleier wegzuziehen und das Objekt in den Vordergrund zu rücken birgt das Risiko der Entsub­li­mierung, deswegen fanden einige Hörer die neuen Songs schlechter als jene virtuellen, gleichsam halluzinierten Lieder, die die frühen Stücke ihnen beschert hatten. Blakes Stimme war auf widerliche Weise überwältigend und zugleich unspezifisch in dem, was sie fühlte. Das Ergebnis war die zitternde, vibrierende Vagheit, die von den Liedtexten auf keinen Fall aufgelöst wurde, die immer noch zugleich suggestiv und flüchtig waren. Das Album schien uns geradezu anzuflehen, doch etwas zu fühlen, aber ohne uns zu sagen, was wir denn fühlen sollen. Vielleicht ist es diese emotionale Unaufrichtig­keit, die Angus Finlayson meint, wenn er in seiner Be­sprechung von Overgrown für FACT von der Seltsamkeit der Lieder auf James Blake spricht.220 Laut Finlayson wir­ken die Lieder wie »Halbsongs, skelettartige Platzhalter für eine vollständiges Arrangement, das noch kommen sollte.« Die Entwicklung zu »richtigen« Songs war aber noch nicht so weit abgeschlossen wie man dachte. Es schien, als hätte Blake versucht, die Liedform wieder herzustellen, aber nur mit Dub-Versionen und Dance-Mixes als Anleitung. Das Ergebnis war verschlüsselt, verzerrt, solipsistisch, eine verschlafene Version des Liedes, die so frustrierend wie faszinierend war. An die Stelle der zerbrechlichen Substanzlosigkeit der frühen EPs trat etwas, das sich übervoll anfühlte. Es war wie als würde man in einem warmen Bad ertrinken (vielleicht mit aufgeschnittenen Pulsadern).

Auf Overgrown haben die Tricks und Ticks aus dem Post-Rave noch mehr abgenommen und das Album ist dort am schwächsten, wo es einfach mit der Tanzfläche flirtet. Das Klavier ist immer noch das Hauptinstrument, aber die Akkorde hängen über einer Begleitung, die bewusst anonym wirkt – ein wunderbar warmes Bad aus elektronischen Instrumenten, wo der Rhythmus eher durch den sanft blubbernden Bass als durch den Beat vorangetrieben wird. Wie beim ersten Album hat man das Gefühl, dass die Lieder zugleich überfüllt und unfertig sind, und dass dieses Unfertig-sein – die skizzenhaften Melodien, die halben Hooks, die wiederholten Zeilen, die wie Andeutungen eines emotionalen Ereignisses wirken, das die Lieder aber niemals offenlegen – vielleicht das ist, was einem am Ende unter die Haut fährt. Blake hat gesagt, dass das Overgrown im Gegensatz zu seinem Debütalbum klingt wie das Album eines Menschen, der Liebe erfahren hat. Für mich ist es genauso enigmatisch wie sein Vorgänger. Das eigentümlich Unbestimmte – das Unentschlossene und Ungelöste – an Blakes Musik ver­leiht ihr die Qualität eines Gospels, aber eines Gospels für jene, die ihren Glauben derart verloren haben, dass sie vergessen haben, dass sie mal einen hatten. Was bleibt, ist zitternde Sehnsucht, ohne Objekt oder Kontext, Blake wirkt wie jemand mit Amnesie, der sich an Bildern eines Lebens und einer Erzählung festhält, die er nicht mehr retten kann. Diese »negative Fähigkeit« macht Over­grown zu einer Art Inversion der übersättigten, hoch­glänzenden, emotionalen Schärfe der Charts und des Reali­ty TV Pop, die immer genau weiß was sie fühlt.

Aber was ist der Glaube, den Overgrown verloren hat? Blakes Entwicklung ähnelt der von Darkstar, die eben­falls von der vertrackten, zuckenden Stimmwissenschaft von »Aidy’s Girl is a Computer« zur kühlen Melancholie ihres ersten Albums North fortgeschritten sind. Ihr neues Album News From Nowhere klingt heller, verträumter, aber wie bei Overgrown ist auffällig, dass es nicht für den Club gemacht ist. In einer Diskussion, die Simon Reynolds und ich über UK-Dance Music hatten221, sagte Reynolds, dass der »emotionale Turn« für den Blake und Darkstar stehen, implizit zugibt, dass »Dance Music nicht mehr diese Funktion der emotionalen Befreiung erfüllt, wie früher, als das in einer kollektiven Katharsis ge­schah.« Die Musik muss dafür nicht unbedingt traurig sein – es gibt eine Melancholie, die jeder Wendung nach innen innewohnt. Wie Reynolds zeigt, ist die Ansicht, dass die Dance Music der 1990er gefühllos war, ein Fehlschluss. Die Musik war voll von Affekten, aber die Affekte, um die es ging, hatten nichts mit Romantik oder Introspektion zu tun. Die Verbindung von Romantik und Introspektion, Liebe und Enttäuschung zieht sich durch den Pop des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz dazu bot die Dance Music seit der Erfindung von Disco eine ganz andere emotionale Palette, die in einem anderen Modell der Flucht aus dem Elend des individuellen Selbst grün­dete.

Im 21. Jahrhundert wird der Hedonismus der Popkultur immer trauriger und verzweifelter. Merkwürdigerweise sieht man das am besten an der Verdrängung von R&B durch Klubmusik. Als frühere R&B-Produzenten sich der Dance Music öffneten, erwartete man eigentlich mehr Euphorie, noch mehr Ekstase. Aber irgendwie mag die digital verstärkte Begeisterung von Produzenten wie Flo-Rida, Pitbull und will.i.am nicht so recht überzeugen, sie wirkt wie ein schlecht retuschiertes Bild oder eine Droge, die wir so viel genommen haben, das wir immun für ihre Effekte sind. Es ist schwer, die Aufforderung dieser Alben, uns zu amüsieren, nicht als durchsichtigen Ver­such zu sehen, von der Depression abzulenken, die sie nur verdecken, aber niemals zerstreuen können.

Hinter dem erzwungenen Lächeln des 21. Jahrhunderts lauert eine geheime Traurigkeit. Diese Traurigkeit hat mit dem Hedonismus selbst zu tun und es ist vielleicht Hip Hop – das Genre, das in den letzten gut zwanzig Jahren am meisten auf Genuss ausgerichtet war –, wo diese Melancholie am aufmerksamsten registriert wurde. Drake und Kanye West sind beide fast schon morbide fixiert darauf, die schreckliche Leere auszuloten, die im Inners­ten des super-reichen Hedonismus schlummert. Sie sind längst nicht mehr von dem Drang des verschwen­deri­schen Konsums angetrieben, der Hip Hop einmal aus­zeich­nete – sie haben alles, was sie brauchen, längst be­kommen –, sondern sie schweifen zügellos durch leicht verfügbare Genüsse und spüren dabei eine Mischung aus Frustration, Wut und Selbstverachtung, sie wissen, dass etwas fehlt, aber sie sind unsicher, was es ist. Die Traurigkeit des Hedonismus – eine Traurigkeit, die so weit verbreitet ist, dass man sie verleugnet – ist nir­gendwo besser eingefangen, als in Drakes klagenden Zeile aus dem Song »Marvin’s Room« von dem Album Take Care: »We threw a party / yeah, we threw a party // Wir haben eine Party gemacht, yeah / wir haben eine Party gemacht, yeah«.

Es ist keine Überraschung, zu erfahren, dass Kanye West ein Fan von James Blake ist. Der Mix222 wiederum, der von ein paar Jahren die Runde machte, zog Parallelen zwischen Blake und Drake. Es gibt eine affektive und eine klangliche Affinität zwischen Teilen von Kanyes 808s and Heartbreak und My Beautiful Dark Twisted Fantasy und Blakes zwei Alben. Blakes Masche, könnte man sagen, besteht darin, die digital bearbeitete Melan­cholie Kanyes auf 808s teilweise zu re-naturali­sieren: Soul nach dem Auto-Tune-Cyborg. Aus dem Pent­house-Gefängnis von Wests Ego befreit, schmachtet die Unzu­friedenheit lustlos vor sich hin und kann sich noch nicht einmal selbst als Traurigkeit erkennen. Von sich selbst verunsichert, gefangen in allerlei Sackgassen und trotz­dem periodisch faszinierend, ist Overgrown ein weiteres Symptom der Identitätskrise des 21. Jahrhun­derts.

 

David Bowie The Next Day 223

Wer sich für The Next Day interessiert – und selbst, wer nicht –, hat es wahrscheinlich längst gehört. Hat es gehört, war davon enttäuscht und hat sich nicht weiter darum gekümmert. Das einzige, was wirklich typisch für das 21. Jahrhundert an dem Album ist, ist die Geschwindigkeit des Medienhypes: Kunstvoll platzierte PR-Gerüchte, Anspielungen und Übertreibungen, die alles und jeden in ihrem Einzugsgebiet dazu bringen, sich ein erhabenes Objekt hinter dem Schleier vorzustellen, nur um dann zu sehen, wie das Objekt, sobald man es heruntergeladen hat, in alltägliche Mittelmäßigkeit zerfällt.

Der Wille zu halluzinieren ist jedenfalls da. Die Berichterstattung ist riesig, man fühlt die Verzweiflung da­hinter. Die Aussicht auf Bowies Rückkehr sollte die Hörer einer ganz bestimmten Altersgruppe ansprechen, aber die Sehnsucht, die das Album auslöste, weist auch auf etwas hin, was der zeitgenössischen Popmusik überhaupt fehlt. Heute steht Bowie für die verpasste Möglichkeit, die einst der Idee des Art Pop innewohnte – und das bedeutet nicht nur Pop plus Kunst oder Pop als Kunst, sondern es zielt auf einem Zusammenhang, in dem Mode, visuelle Kunst und experimentelle Kultur sich verbanden und in unvorhersehbarer Weise erneuert haben. Seine Ab­wesenheit war eine Art Gaumenreiniger – die unspektakulären Alben der 1980er und 1990er Jahre sind vergessen, deswegen kann er wieder die dünne, weiße Fläche sein, auf die wir unsere Phantasien projizieren. Fast scheint es, als sei die Abwesenheit von Bowie, dem Impresariostrategen, geplant gewesen. Er musste lang genug weg sein, damit ein neues Bowie-Album wie ein Ereignis erscheinen konnte, dass diesmal – und diesmal wirklich – für immer ist.

Die erste Single von The Next Day, »Where Are We Now«, mit ihren Anspielungen auf die Westberliner Zeit, den Potsdamer Platz und die Nürnberger Straße, wirkt wie ein sorgfältig kreiertes Produkt, das nicht nur die knallharten Bowiefans interessieren soll, sondern auch alle, die sich überhaupt mit Popgeschichte und Popmythologie beschäftigen. Berlin! Tony Visconti! Die schwer­mütige Melancholie des Songs schuf die Vorstellung, dass The Next Day Bowies Version von Sinatras No One Cares sein könnte – ein altgewordener Schnulzensänger, ein in der Zeit verlorener Mann, der paradoxerweise dadurch wieder auf die Beine kommt, dass er die traurige Jagd nach einer Gegenwart aufgibt, die ihm vor langer Zeit durch die Finger gerutscht ist. Aber das war eine Finte. Es gibt unglaublich viele Anspielungen auf den Tod auf The Next Day – und Journalisten, die das Album retten wollen, haben sich meist auf das Textblatt zurückgezogen –, aber die Form des Albums ist Rock und zwar erschreckend blasser Rock, ohne jeden Funk (oder Elektronik). Der Rest des Albums zeigt auf schmerzhafte Weise, wie groß die Entfernung zwischen heute und damals ist (auch die Entfernung zum damaligen Berlin), umso mehr, weil es Visconti nicht gelingt, aus den aneinandergereihten Jamsessions irgendetwas Einprägsames herauszuholen. The Next Day klingt, als sei es überhaupt gar nicht produziert: Es ist so flach wie ein Demo. Die relativ wohlwollende Kritik des Albums erzählt eine ganz eigene traurige Geschichte über den Zustand des Pop im Jahr 2013.

Man kann nicht einfach Visconti und Bowie 2012 zusammen in ein Studio stellen und so etwas wie Low, »Heroes« oder Lodger erwarten. Die magischen Kräfte, die wir Künstlern gerne zuschreiben, gehören ihnen eigentlich gar nicht. Bowie – der als Künstler vielleicht mehr als jeder andere den Mangel an Innerlichkeit des Popstars zelebrierte – hat das immer gewusst und gemeinsam mit Eno hat er viel dafür getan, die romantische Vorstellung zu zerstören, dass Kreativität aus dem tiefsten Inneren des Musikers kommt. Bowies Durchmarsch durch Figuren, Konzepte und Kollaborationen zeigt nur, was schon immer der Fall war: Der Künstler synthetisiert und kuratiert Kräfte und Ideen. Das ist schön und gut, wenn die Synthesen und Synergien funktionieren und wenn es einen ständigen Nachschub an neuen Mistreitern gibt, die von ihnen leben und sie feiern. Aber es wird zum Problem in den langen Stunden im Studio, wenn der alte Zauber einfach nicht kommen möchte, wenn die Schwelgereien vorbei sind, aber man immer noch so tun muss, als ob.

Es ist auf grausame Weise angemessen, dass Bowie von seinen Kräften in dem Moment verlassen wurde, als die Siebziger – die Dekade, mit der er für immer verbunden sein wird – zu Ende gingen. Mein musikalisches Interesse erwachte ungefähr als Scary Monsters (1980) erschien und Bowie war für mich selbstverständlich. Ziggy Stardust klang schon wie ein ergrautes, altes Rock’n’Roll-Relikt und selbst Teile von Scary Monsters wirkten im Vergleich zu Bowies Protegés, wie Gary Numan, The Associates und Visage, reaktionär. Trotzdem hat Bowie an den Bedingungen mitgearbeitet, die ihn schließlich überflüssig werden ließen. Er war das Vorbild, an dem sich seine Nachfolger orientierten, wenn es darum ging, wie ein Popstar zu sein: ein Konzeptualist und ein Designer, Sexualität und Gender unklar, außerirdisch und/oder Android, nur Äußeres, kein Inneres, das sich verändernde Gesicht des Fremden. Ab diesem Moment war Bowie alle seine Masken und sein Make-up los – es gab nur noch ihn, die Musik und die Anzüge im Stil der Achtziger. Was folgte, waren Jahre der ständig sinkenden Erwartungen, spektakuläre Fehlschläge und hier und da ein verborgenes Juwel, aber vor allem verlässliche Mittelmäßigkeit, das bekannte Muster eines Stars, wo jedes Album als eine Rückkehr zu alter Form gefeiert wird, nur um sofort wieder irrelevant zu werden.

All das findet sich verdichtet auf dem Cover von The Next Day. Das Bemerkenswerte ist nicht die Entweihung an sich, sondern wie beiläufig sie geschieht: Ein weißes Quadrat über dem Cover von »Heroes«, was könnte halb­herziger sein? Als ich das Cover zum ersten Mal sah, dachte ich, es sei ein Scherz – wie würde das echte Cover wohl aussehen? Hier ist die Begründung des Cover-Designers Jonathan Barnbrook: »Das ›Heroes‹-Cover wird von einem weißen Quadrat verdeckt und handelt von dem Geist großer Pop- oder Rockmusik, die ›aus der Gegenwart‹ kommt und die Vergangenheit hinter sich lässt oder zerstört. Aber wir wissen alle, dass das meis­tens so nicht stimmt, wie sehr wir es auch versuchen, wir können uns von der Vergangenheit nicht lösen.«

Das Bild ist mehr als ein Kommentar über die Karriere Bowies – ein Mann, der früher seine Fähigkeit, der Vergangenheit zu entkommen ausnutzte und jetzt in ihr gefangen ist. Es ist auch eine Diagnose allgemeiner temporaler Malaise. Was ist dieser weiße Raum, diese Leerstelle? Eine optimistische Lesart würde es als die Offenheit der Gegenwart deuten, die noch nicht entschieden ist. In einer etwas düsteren Perspektive – und damit ganz im Sinne der abgedroschenen Musik des Albums –, ist das weiße Quadrat der Platzhalter für die Gegenwart, von der nichts bleibt als der notwendig zum Scheitern verurteilte Versuch, die Vergangenheit zurückzuholen. Das ist das Dilemma von Pop im Jahre 2013, ein Dilemma, von dem man nicht erwarten kann, dass The Next Day es löst.

Der Mann, der alles hat:
Drakes Nothing was the same224

Und da ist es wieder: das Leben am Ende des Regenbogens. Alles, was man kaufen kann, ist praktisch 24/7 verfügbar: Frauen, Essen, Autos, was auch immer, man klickt einfach drauf. Jedes Hotelzimmer kann den individuellen Vorlieben angepasst werden. Das einzige, was anders ist, sind die Duscharmaturen. Alles beste Qualität, aber bei der Fast-Food-Auswahl kann man sich gehen lassen, wenn man das möchte und oft (warum auch nicht?) tut man das:

Got everything, I got everything … I cannot complain, I cannot //

Ich hab alles, ich hab alles … ich kann mich nicht beschweren, ich kann nicht

(Bist du dir da sicher, Drake?)

I don’t really know how much I really made, I forgot, it’s a lot…

Fuck that, never mind what I got //

Ich weiß nicht wirklich, wieviel ich verdient hab, ich hab’s vergessen, es war viel…

Scheißegal, es ist egal, was ich hab 225

Gut, beantworten wie die offensichtlichste Frage zuerst. Wenn du wirklich alles hast, warum bist du so traurig?

Sicher ist es nicht so einfach und sentimental wie diese alte Kamelle, dass Geld keine Liebe kaufen kann? Komm schon, ist es wirklich soweit mit Hip Hop gekommen: der Rapper als Figur einer romantischen Komödie, die ganze Prahlerei und der ultraverschwenderische Konsum als Fassade für den armen Jungen, den die erlösende Frau am Ende des Films rettet? Schon wieder diese alte Geschichte? »Next time we fuck, I don’t want to fuck, I want to make love … I want to trust // Das nächste Mal, wenn wir ficken, will ich nicht ficken, ich will Liebe machen … ich will vertrauen.« So richtig glaubt sich Drake dabei selbst nicht und es gelingt ihm auch nicht, uns zu überzeugen. Er weiß ganz genau, dass diese sensible Nummer auch nur ein weiterer Trick eines Pick-up-Artists sein könnte … Aber er hat so lange gelogen und dann seine Lügen enthüllt, dass er nicht mehr genau weiß, wann er versucht, uns zu verarschen und wann er offen spricht oder was überhaupt der Unterschied zwischen beidem ist. Das eine Auge weint echte Tränen, das andere zwinkert über die Schulter seiner letzten Eroberung der Kamera zu. Er hat uns überzeugt, dass er anders ist, aber das war ein Trick und zwar einer, den andere sich angeeignet haben. Es ist weder mutig noch einzigartig, über seine Gefühle zu sprechen, denn inzwischen gilt: »niggas talk more than bitches do.« Ist das ehrlicher als zuvor oder einfach nur die Einsicht, dass er ein neues Alleinstellungsmerkmal braucht?

I got 99 problems, getting rich ain’t one // Ich hab 99 Probleme, aber reich werden ist kein’s .

Als ich Nothing Was the Same angehört habe, musste ich an Judd Apatows Wie das Leben so spielt denken. Apatows Film handelt von Unschlüssigkeit und Vermeidungsstrategien. Am Anfang wirkt es so, als handle der Film von einem müden aber reichen und erfolgreichen Comedian, George Simmons (Adam Sandler), der nach der Diagnose mit einer schweren Krankheit realisiert, wie wertvoll das Leben ist; dann wieder scheint es um einen Mann zu gehen, der Liebe und Familie als Werte anzunehmen lernt. Doch immer, wenn sich der Film diesen generischen Deutungen nähert, zögert Apatow. Simmons hedonischer Nihilismus kommt wieder zurück; die Drohung des Todes kann die über ein ganzes Leben lang gepflegten schlechten Angewohnheiten nicht durchbrechen; die Geliebte, die er vor langer Zeit verloren hat, ist tatsächlich so besser dran. Er ist nicht glücklich, er selbst zu sein, aber er möchte auch niemand anderes sein. Er ist weit davon entfernt, dieses existenzielle Dilemma zu lösen und sein unglaublicher Reichtum führt nur dazu, dass er sich vor nichts verstecken kann.

Nothing Was the Same lebt von derselben Ambivalenz – hier die Sehnsucht, jemand anderes zu sein, jemand, der lieben und vertrauen kann (wobei natürlich der Frau die Steuerung seiner Verwandlung zufällt) und dort die Ein­sicht, dass er sich niemals ändern wird, dass er immer trinken, rauchen und ficken wird, dass er alles andere als perfekt ist, aber das gilt ja für alle anderen auch, oder? Das Kos­tüm des Gangsta-Barden hat er niemals vollständig abgelegt; er verstaut es immer wieder, schaut es an, distanziert sich, bevor er es wieder anlegt. Er kann nicht anders (zumindest sagt er uns das immer wieder). Doch dieses Oszillieren erhellt etwas die umkämpfte Männlichkeit im Hip Hop überhaupt. Drake bestätigt, dass der Bad Boy von der Straße – »just looking for head in a comfortable bed // auf der Suche nach einem Blowjob in einem bequemen Bett« – die andere Seite des schrecklich einsamen kleinen Jungen ist, der heulend vor seinem Mutterersatz steht. Der angeberische Kerl ist immer auf der Flucht vor dem hilflosen Kind in ihm, aber aus genau demselben Grund ist die Figur des gebrochenen Manns keine Alternative zu der ganzen Ego-Aufschneiderei, sondern ihre Grundlage. Frauen werden öffentlich verachtet und als Währung in einer homosozialen Angeberökonomie eingesetzt; im Privaten wiederum bittet man sie darum, die verletzten Männer wieder ganz zu machen. Gibt es einen Track, der die wahre Natur des von Mann und Frau handelnden Liebesliedes besser zeigt als »Marvin’s Room« auf Take Care? Seine Arroganz – ein betrunkener Drake hinterlässt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter einer Geliebten von vor langer Zeit, die er schlecht behandelt hat und nun zurückmöchte – lässt keinen Zweifel daran, dass er eigentlich vermittels des phantasierten Anderen mit sich selbst gesprochen hat.

 

Die im Gangsta-Rap übertrieben inszenierten Allmachts­phantasien waren schon immer verräterisch; sie zeigten genau wie ihre Klunker, dass diese neureichen Schwarzen aus der Arbeiterklasse es nicht leicht gehabt haben und noch nicht das simple Selbstbewusstsein jener besaßen, denen Reichtum und Macht von Geburt an zugefallen sind. Die (Gold)Ketten klingelten umso lauter, je mehr Jacob Marleys226 Flucht aus der Knechtschaft misslang und je mehr die geheimen Reichtümer für ein paar wenige die Kompensation für die Trägheit, Armut und Einkerkerung der Vielen waren. Ist »Started from the Bottom« – wo wir alle lachen mussten: das stimmt nicht, Drake! – ein Kommentar auf all dies? Man stelle es sich als einen Akt der Imagination vor: Anstatt eine Autobiographie zu fälschen, zieht sich Drake die Sneaker derer an, die viel mehr kämpfen mussten als er und es macht ja auch viel mehr Sinn. Aber hör’ auf die Erschöpfung, die auf dem Track lastet: die schwere Tristesse, die beginnt, sobald man auf der Spitze des Wolkenkratzers angekommen ist, wenn man merkt, dass es nichts gibt, was die Jagd nach Erfolg ersetzt. Von Drake hat man immer erwartet, dass er erfolgreich ist, deswegen wurde ihm sogar der kurze Moment der Befriedigung genommen, kurz bevor die Leere und die Paranoia beginnen. Ganz nach oben zu kommen, war normal, das Mindeste, das er erwarten konnte.

Nothing Was the Same zeugt von den Verwirrungen einer Generation junger Männer, die mit widersprechenden Imperativen konfrontiert sind – das postfeministische Bewusstsein darum, dass Frauen wie Scheiße zu behandeln nicht cool ist, und das an Burroughs Romane erinnernde Bombardement mit immer verfügbarer Pornografie. Es macht keinen Sinn, hier zu moralisieren, egal ob für Drake oder für uns. Drake ist am schwächsten, wo er im Stile einer kitschigen Grußkarte halbherzig versucht, sich für die ewige Liebe zu entscheiden. Auf schmerzhafte Weise aufschlussreich ist er da, wo er zugibt, dass diese Sackgassen und Schwierigkeiten ihm einfach zu viel sind. Er kann den Knoten nicht durchschlagen, weil er selbst der Knoten ist. Seine Verwirrung darüber, was ein Mann heute zu sein hat, ist das Kennzeichen jener zeitgenössischen, heterosexuellen Männlichkeit, die realisiert, dass das patriarchale Spiel vorbei ist, aber die noch zu sehr an seinen Genüssen und Privilegien hängt, um sie aufzugeben (nur noch einmal auf Porno klicken, dann bin ich für immer Mr. Sensibel).

Auf Nothing Was the Same klingt Drake oft wie Tony Montana in Scarface: Ficken, essen, koksen, ist das alles? Aber der Ton, in dem all das geschieht, könnte von Pacinos Achtziger-Kokain-Theatralik nicht verschiedener sein. Unter allem liegt ein eisiger Fatalismus und Drake ist deswegen wichtig, weil er sich – vielleicht besser als irgendjemand anderes – diesem Gefühl der Hoffnungslosigkeit nähert, das zwischen all dem Twerken und Tweeten lauert, zwischen dem Gezwitscher und Geschnatter der Kultur im 21. Jahrhundert. Man hört das in dem wunderbaren, düster-elektronischen Nebel, der wie ein Downer den Ton des Albums bestimmt, viel mehr als die Beats. Aber es gibt auch nicht nur Fatalismus. Es liegt in Drakes Markenzeichen: dem Übergang vom Rap zum Gesang, dem Hinüber-gleiten aus der Ego-Nummer in ein sinnlichen Schnurren, dem Sich-ergeben in eine Laszivität, die nichts mit der lokalisierten Libido und den dummen Automatismen der phallischen Sexualität zu tun hat. Dort unten, da wartet eine glorreiche Befreiung vom Druck der Identität. Hochgepitchte Stimmen, wie im Rave, werden durch gelassene Ströme von Synthesizern aufgelöst. Stimmen hören auf, menschlich zu sein, sie werden Avatare eines Raumes, wo die Subjektivität zurückgelassen wurde wie ein schlechter Traum. Im Eröffnungsstück des Albums, »Tuscan Leather«, wird der Geist Whitney Houstons aus einem Hotelbadezimmer gerufen, mutiert zu einer schmetterlingsgleichen, zwitschernden Kreatur, die in einem Probengefäß singt. An nichts muss ich so sehr denken, wie an die gebrochenen Architekturen und Wassermänner von Balam Acabs Wan­der/Wonder. Wenn man in diese elektro-ozeanischen Tiefen eintaucht, hört Nothing Was the Same auf, ein faszinierendes Symptom all der Blockaden der Gegenwart zu sein und erzählt plötzlich von der Sehnsucht nach etwas Neuem, Merkwürdigem und Wunderbarem.