Überlebt

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Dieses Treiben bestand darin, dass wir uns nach Schulschluss mit unseren Fahrrädern in einem Waldstück etwa 6 km westlich von Finsterwalde trafen. Später, als die Schule sowieso geschlossen war (etwa ab dem 11. April) trafen wir uns ganztägig, um dort einen Bunker zu bauen, ein Erdloch, vielleicht 4 x 8 Meter groß und 2 m tief, das mit Baumstämmen und Dachpappe überdeckt und mit Waldboden getarnt wurde. Im Loch wurden aus Brettern Schlafgelegenheiten eingerichtet und Essensvorräte angelegt.

Unsere Bewaffnung war, angesichts der uns gestellten Aufgabe, eher dürftig. Unser Führer Theo besaß zwei Pistolen, Kaliber 7.65 und 6.35. Außerdem hatten wir einige ausgediente italienische Gewehre mit etwa 100 Schuss Munition, einige Handgranaten und ein paar Panzerfäuste. Ab und zu ballerte Theo nach Wildwestmanier mit dem einen oder anderen seiner beiden Schießeisen durch die Gegend. „Um zu üben“, sagte er. Er ließ uns aber nicht an sein Spielzeug, dazu sei die Munition zu knapp. Das Abdrücken der Panzerfaust durften wir nur kalt proben, da die paar guten Stücke für den Ernstfall aufgehoben werden mussten. Dagegen schossen wir manchmal mit den italienischen Gewehren auf Kaninchen, wobei ernsthafte mechanische Defekte zutage traten. Öfter blieb dabei der Schlagbolzen, der das Zündhütchen aufschlagen sollte, auf halbem Wege stecken - zum Glück für die Kaninchen. Wahrscheinlich hätte man die Gewehrschlösser mal ölen müssen. Zu allerletzt, aber das habe ich nicht mehr miterlebt, brachte Theo noch von irgendwoher eine Maschinenpistole und die zugehörige Munition mit.

Theo war Mitte zwanzig und aufgrund einer Verwundung für die Wehrmacht untauglich. Was ihn nicht daran hinderte, ein großer HJ-Führer und fanatischer Nazi zu werden. Wir als seine Untergebenen betrachteten dagegen die ganze Aktion eher als die Fortsetzung eines aufregenden Räuber- und Gendarm-Spiels und nahmen auch seine Durchhalte- und Endsieg-Sprüche nicht allzu ernst. Keiner von den zwanzig Jungen war sich der Tragweite seines Tuns bewusst.

In den allerletzten Kriegstagen durften wir unsere Waffen mit nach Haus nehmen, um für den Ernstfall gerüstet zu sein. Ich band mir eines Abends eine Panzerfaust an mein Fahrrad und radelte stolz heim, an staunenden Nachbarn vorbei. In der Ferne hörte man schon den Geschützdonner der nahen Front, es konnte sich also nur noch um einen oder zwei Tage handeln, bis die Russen da waren.

Jetzt hielt mein Vater den Zeitpunkt für gekommen, mir zu erklären, dass unser Unternehmen dumm, wahnsinnig und selbstmörderisch sei. Er meinte, dass eine Million (in Wirklichkeit waren es viel mehr) Rotarmisten in wenigen Tagen das Land besetzen würden, dass die deutschen Verbände auseinander fielen, dass ganze Armeen der Wehrmacht in Gefangenschaft gerieten, dass die Naziführer aus Berlin längst getürmt seien und dass die Hoffnung, die anrückenden Westalliierten würden plötzlich Front gegen die Sowjets machen, jeder Grundlage entbehrte.

Ich widersprach heftig. Ich wollte wieder zu meinen Kumpels zurück. Weniger aus Vaterlandsliebe als aus Kameradschaft. Ich wurde mit sanftem Zwang im Keller versteckt und später sogar eingeschlossen. Die mitgebrachte Panzerfaust hat mein Vater in der Nacht beseitigt, ich weiß nicht wie. Was er da getan hat, war Wehrkraftzersetzung und darauf stand die Todestrafe!

Als wir am nächsten Morgen in unserer Straße, direkt vor unserer Haustür, Maschinengewehrfeuer und das Pfeifen von Granaten hörten, hatten wir alle fürchterliche Angst. Meine Begeisterung für einen Waffeneinsatz zur Verteidigung des Reiches gegen die bösen Russen war plötzlich verschwunden. So beschloss ich, nicht ohne schlechtes Gewissen meinen Mitstreitern gegenüber, dem väterlichen Rat zu folgen und daheim zu bleiben.

Ich erfuhr erst nach Jahren, dass meine Kameraden tatsächlich in Gefechte mit den Russen verwickelt wurden und dass es dabei Tote und Verwundete gegeben hatte. Auch Theo musste seinen Durchhalte-Fanatismus mit dem Leben bezahlen. Die Überlebenden wurden ungeachtet ihrer Jugend vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt und zu unmenschlich langen Haftstrafen verurteilt. Sie verbrachten mehr als acht Jahre in verschiedenen Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion und kamen erst im Frühsommer 1953 wieder nach Deutschland zurück.

Es hat nicht viel gefehlt, dann hätte ich ihr Schicksal teilen müssen. Für diese geschenkten acht Jahre bin ich meinem Vater bis heute dankbar.

Kapustin 1945

Mein Vater hatte in seiner Jugend in Russland gelebt. Nicht immer ganz freiwillig, aber das ist eine andere Geschichte. In Russland hatte er natürlich Russisch gelernt und er beherrschte damals diese Sprache wie seine eigene. Als Fünfundzwanzigjähriger kehrte er nach Deutschland zurück. Hier ließ er sich in Finsterwalde nieder, heiratete, wurde Vater zweier Kinder, bewohnte ein schönes Haus mit einem großen Garten und ging fast fünfundzwanzig Jahre lang seinem Beruf nach. Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter in einer großen Tuchfabrik. An Russland hatte er in dieser Zeit kaum noch gedacht und sein Russisch verlernte er wieder. In unserer Heimatstadt Finsterwalde gab es keine Russen, mit denen er in ihrer Sprache sprechen hätte können. Das änderte sich erst 1945 wieder, als der zweite Weltkrieg zu Ende ging.

Meinem Vater war es gelungen, die Volkssturmoberen davon zu überzeugen, dass er sich nicht zum Krieger eignete. Er hatte einige Leiden und Wehwehchen, die ihn kampfuntauglich machten. So saßen wir denn in den allerletzten Kriegstagen ängstlich im Keller unseres Hauses: mein Vater, meine Stiefmutter (Tante Lotte), deren achtzigjährige Mutter, meine Schwester Anneliese und ich. Der Kanonendonner, den man einige Tage lang in der Ferne gehört hatte, kam immer näher. Eines Morgens schlugen dicht bei unserem Haus Granaten ein, dann folgte Maschinengewehrfeuer und immer wieder das Grollen von Sprengungen, wenn die abziehenden deutschen Soldaten Brücken und wichtige Bauwerke in die Luft jagten, um sie nicht dem Feind in die Hände fallen zu lassen.

Dazu knurrte uns allen der Magen, mir besonders, wie mir schien. Jeder bekam wöchentlich nur eine geringe, genau vorgeschriebene Menge und diese Rationen waren im Laufe des Krieges immer kleiner geworden. Butter, Brot, Milch, Zucker, Mehl und Fleisch waren seit Jahren rationiert. Seit Tagen gab es überhaupt keine Lebensmittel mehr zu kaufen, es sei denn gelegentlich bei umsichtigen Ladenbesitzern, die ihre Vorräte vorschriftswidrig unter die Leute brachten, um sie nicht den anrückenden Russen in die Hände fallen zu lassen. Natürlich hatten wir Vorräte angelegt, aber die durften nicht angegriffen werden, denn wir wussten ja nicht, ob und wie wir in den nächsten Wochen und Monaten versorgt wurden.

Der Strom war abgeschaltet, weil das Elektrizitätswerk beschossen und getroffen worden war. Das Wasser rieselte nur noch spärlich aus den Wasserhähnen. Wir hatten Angst. Man hatte uns schreckliche Sachen über die anrückenden russischen Soldaten erzählt, vor denen auch die Zivilisten nicht sicher waren. Ich hatte deshalb im Garten hinter unserem Haus eine Grube ausgehoben und mit einem Dach aus dicken Baumstämmen zugedeckt. Dort versteckten wir uns und waren auch besser geschützt, falls das Haus von einer Bombe oder einer Granate getroffen wurde.

Die Russen hatten offensichtlich die Stadt besetzt. Das Schießen ließ nach und hörte dann ganz auf. Wir sahen keine Soldaten. Deshalb kletterten wir aus unserm Erdloch und gingen wieder zurück ins Haus in den Keller. Es wurde Nacht. Nichts geschah. Dann wurde es wieder Tag - Sonntag, der 22. April 1945. Es war noch früh am Morgen, da hörten wir plötzlich Schritte vor dem Haus. Es wurde geklopft. Erst mäßig, dann immer stärker. Schließlich polterte ein Gewehrkolben mit aller Gewalt gegen die Haustür. Wir waren starr vor Angst. Mein Vater, kreidebleich, stand auf, ging langsam die Kellertreppe hinauf und öffnete die Tür. Vor ihm stand ein russischer Soldat.

Irgendwo, ganz hinten in seinem Kopf passierte dann etwas, was er sich nicht erklären konnte. Nach achtundzwanzig Jahren, in denen er meinte, die Sprache vergessen zu haben, konnte er auf einmal wieder Russisch! Er trat dem Rotarmisten entgegen und begrüßte ihn freundlich in dessen Sprache: „Guten Tag mein Herr. Was kann ich für Sie tun?“ Der war ob diese unerwarteten Empfanges erst einmal verblüfft. Dann fing er sich, drückte meinem Vater auf jede Backe einen Kuss und sagte: „Genosse, wir haben gesiegt. Der Krieg ist vorbei!“ Er schob Vater beiseite, drängte ins Haus, setzte sich an unsern Esstisch und verlangte, dass die ganze Familie sich um ihn versammelte. Wir kamen zögernd und ängstlich aus unserm Keller: Tante Lotte, Anneliese, ich, zum Schluss die alte Mutter.

Kapustin, so oder so ähnlich hieß unser merkwürdiger Gast, holte eine Flasche Schnaps, den er irgendwo erbeutet hatte, aus der einen Hosentasche und eine Handvoll Zwiebeln aus der andern. Tante Lotte musste Gläser bringen. Die wurden randvoll gemacht und wir mussten alle anstoßen auf den sowjetischen Sieg, auf die glorreiche Sowjetunion, auf das Ende des Krieges. Wir mussten Schnaps trinken und Zwiebeln dazu essen, bis wir nicht mehr konnten.

Es dauerte dann noch ein paar Tage, bis die geschlagenen deutschen Generäle den Waffenstillstand unterzeichneten, aber für uns war der Krieg mit Kapustins Besuch zu Ende. Unser Vater hatte dafür gesorgt, dass wir das Kriegsende gesund und vorerst ohne Schaden überstanden.

Kapustin ist noch mehrmals wiedergekommen, obwohl es den russischen Soldaten streng verboten war, mit Deutschen zu verkehren. Wahrscheinlich hat es ihm bei uns gefallen. Von ihm haben wohl auch die Männer in der Militärverwaltung erfahren, dass es einen Deutschen gibt, der Russisch spricht. Eines Tages erschienen zwei schwer bewaffnete Uniformierte und holten unsern Vater ohne Angabe von Gründen zur Kommandantura, wo man ihm eröffnete, dass er russischen Offizieren Deutschunterricht erteilen sollte, was er natürlich bereitwillig tat. Anfangs brachte er als Entgelt dunkle Brotlaibe und Kochgeschirre voll fettiger Suppe mit heim, beides war hochwillkommen. Später gab es Geld aber auch Zigaretten und Alkohol, die gegen Butter und Mehl eingetauscht wurden.

 

Mit diesen Unterrichtsstunden, zu denen später auch Russischkurse für Deutsche kamen, hat Vater unsere ganze Familie vier Jahre lang bis zum Sommer 1949 ernährt. Kapustin sei Dank!

Warum den Russen immer die Radios kaputt gingen 1946 bis 1949

Die Jahre 1946 und 1947 waren, was die Ernährung betraf, besonders schlimm. Es gab natürlich Lebensmittel, es gab Brot, Butter, Mehl und Kartoffeln, aber eben nicht genug. Uns Sechzehn- und Siebzehnjährigen knurrte da schon gewaltig der Magen. Wir waren darauf angewiesen, mit allen möglichen Tricks an zusätzliche Nahrungsmittel zu kommen. Unsere Besatzer, die Rotarmisten, die sich inzwischen mit ihren Familien in den schönsten Wohngegenden Finsterwaldes niedergelassen hatten, hatten genug zu essen. Vielleicht konnte man dort etwas holen.

Mit meinem Freund Heinz teilte ich nicht nur die Klasse, sondern auch die Leidenschaft fürs Radiobasteln. Wir saßen oft bis spät in der Nacht zusammen und besprachen unsere einschlägigen Erfahrungen. Ganz in Heinz' Nachbarschaft war eine Russensiedlung und Heinz kannte eine Nachbarin, die bei den Russen putzte. Ein sehr begehrter Job, denn die Putzfrauen wurden mit Naturalien bezahlt, mit Fleisch und Brot und Suppe und manche dieser tapferen Frauen haben damit ihre ganze Familie ernährt. Die Nachbarin hatte Heinz einmal beiläufig erzählt, dass bei einer ihrer Russenfamilien das Rundfunkgerät nicht mehr richtig funktionierte und dass die Leute dringend jemand suchten, der es ihnen repariert.

Das kam uns wie gerufen. Wir wurden von der Nachbarin als Experten eingeführt, machten uns mit Schraubenzieher, Zange und Lötkolben ans Werk und nach zehn Minuten machte der Kasten wieder Musik und wir wurden fürstlich mit je einem Laib Brot und einer Portion Mehl entlohnt. Unsere Heldentat sprach sich schnell herum. In der Russensiedlung gab es viele Radios, die übrigens Tag und Nacht liefen. Wenn so ein Ding seinen Dienst versagte, konnten wir gelegentlich tatsächlich helfen.

Aber das war uns nicht genug. Wir kamen auf die Idee, die Heizspannung der Radioröhren in den von uns reparierten Radios ein wenig heraufzusetzen. Sie funktionierten auch so, aber die Glühfäden verbrauchten sich schneller und waren nach spätestens vier Wochen Dauerbetrieb ausgebrannt. Wir wurden wieder gerufen und bauten mit großem Bedauern eine neue Röhre aus beiseite geschafften Wehrmachtbeständen ein, die wir wieder ein bisschen zu stark heizten. Wir kassierten unsere Fressalien und standen prompt nach einem Monat wieder auf der Matte. Heinz erinnerte sich, dass wir den gleichen Effekt durch liederliches Verlöten einer zu kurz geratenen Leitung zur Lautsprecherspule erzielen könnten. Bei starken Schwingungen der Lautsprechermembrane, also wenn das Radio sehr laut eingestellt wurde, riss die Verbindung und eine neue Reparatur war fällig.

Natürlich ging das nicht lange gut. Irgendwann merkten die Leute, dass es mit unseren Reparaturkünsten nicht weit her sein konnte und die Nachfrage ließ nach. Aber eine Weile konnten wir uns so auf Kosten der sowjetischen Besatzungsmacht richtig satt essen. Womit bewiesen ist, dass gewisse technische Kenntnisse mitunter von nahrhaftem Nutzen sein können.

Heinz, der jahrelang auf dem Gebiet der Hochenergiephysik als Forscher und Hochschullehrer tätig war, repariert mehr als fünfzig Jahre nach diesen Ereignissen noch heute seinen defekten Fernseher selbst. Jetzt sorgt er natürlich dafür, dass der nicht mehr seinen Geist aufgibt.

Etwas trieb mich im Frühjahr 1949 an, ohne Not und wenige Wochen vor dem Abitur, eine kleine Goethe-Biografie zu schreiben. Es gab kompetentere Leute, die das schon getan hatten. Aber wir waren im Goethejahr und mir machte es Spaß, den Spuren nachzugehen, die das Erlebte im Schaffen des Geburtstagskindes hinterlassen hatten (J.W. Goethe war 1749 geboren). Immerhin gefiel die Geschichte meinem Vater so gut, dass er die mehr als 60 eng beschriebenen Seiten mit einer geliehenen Uralt-Schreibmaschine abtippte, um sie les- und haltbarer zu machen. Als ich dann den sauber geschriebenen Text an einem unserer literarischen Diskussionsnachmittage in der Wohnung unserer Deutschlehrerin Frau Hurm voller Stolz der versammelten Runde präsentieren wollte, nahm mir Herr Hurm, unser kommunistischer Mentor für Philosophie, Politik und Literaturgeschichte, den Text sofort aus der Hand und begann darin zu lesen. Wobei er sich durch unsere Gespräche nicht stören ließ und nur ab und zu den Kopf schüttelte.

Bei unserem nächsten Treffen sah ich meine Arbeit wieder, voll geschmiert mit Unterstreichungen und Randbemerkungen. Hurms Kritik war nicht sehr schmeichelhaft. Es handele sich hier um eine Sammlung von zusammengesammelten Zitaten ohne erkennbare Aussage. Nichts darin sei eigentlich neu, außer vielleicht ein paar originellen Formulierungen. Zudem fehlten Quellenangaben. Ich war tief getroffen und dachte an die Nächte, die ich grübelnd und schreibend mit meinem Goethe verbracht hatte. Heute muss ich beim Durchlesen dieses gelegentlich etwas schwülstig geratenen Opus sagen, dass er mit seinem Urteil wohl nicht ganz falsch lag. Frau Hurm gab mir das Manuskript zurück: „Ein schönes Stück Arbeit hast du da geleistet. Und grüß' mir deinen Vater!“

Daheim hab ich all die Striche und giftigen Bemerkungen, die ihr Mann in meinen Text gemalt hatte, sorgfältig rausradiert, Spuren sieht man allerdings heute noch. Wer wollte oder konnte angesichts der Berge von Sekundärliteratur schon etwas Neues über Goethe sagen! Von geschickter Hand war bei uns Interesse geweckt worden, und ich wollte als neunzehnjähriger Schüler ein wenig Klarheit darüber erhalten, was die an uns praktizierten politischen und weltanschaulichen Bildungsversuche mit idealistischen und materialistischen Goethe-Interpretationen bewirkt hatten.

Kurz nach dem Abitur und wenige Tage vor meiner Flucht in den Westen ging ich noch hin, um mich von den beiden zu verabschieden. Luitpold Hurm schenkte mir nicht ohne Rührung ein wertvolles altes Büchlein Kleinere Schriften und Briefe von Robert Mayer nebst Mitteilungen aus seinem Leben; J. G. Cotta Nacht, Stuttgart 1893. Er bemerkte witzelnd, das könnte ich vielleicht für mein Physik-Studium brauchen. Johanna Hurm drückte mir beide Hände, sah mich dabei ernst an und sagte: „Vor allem aber bleib dir selber treu!“ Damit war das Kapitel Schule für mich abgeschlossen.

Die Erinnerung an diese Szene hat mich durch mein ganzes Leben begleitet.

Die andere Seite des Krieges

Wolfgang Pazerski *1930 Architekt und Baudirektor

Wettklettern von Pfarrer und Sportlehrer 1937 bis 1939

Im Herbst 1937 begann für mich zum so genannten Michaelistermin der Abschnitt, den man allgemein Ernst des Lebens nennt. Natürlich hatte ich auch einen Schultornister mit Schiefertafel, dessen fröhliches Gebammel von Schwamm und Putzlappen über den Ernst der Lage hinweg täuschte. Schiefergriffel, Bleistift, Anspitzer und Radiergummi befanden sich in einem 2-lagigen Holzbehälter mit Schiebedeckel. Eine Blechbüchse war für‘s Butterbrot. Dazu kamen Fibel und Rechenbuch, später Schreib- und Rechenheft. Lehrer Franz, ein Hüne von 2 Metern, erteilte Musikunterricht. Bei ihm sangen wir Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt. Lehrer Scholz, von Statur eher klein und normalgewichtig, gab guten Unterricht, man lernte etwas. Seine Unterrichtsmethode war streng und oft mit der pädagogischen Nachhilfe des Rohrstocks, aber sie bildete damit keine Ausnahme an unserer Knabenschule. Überall wurde auf Disziplin geachtet. An der Tafel flossen manchmal Tränen, das zeigte Wirkung: Es gab dann keine Prügel. Nach der Pause hieß es klassenweise in Dreier- oder Viererreihen antreten unter den Augen von Direktor Gericke (sah aus wie Großadmiral Tirpitz) und dann marschierten wir das Haupttreppenhaus hinauf, auf jeder Etage unter der Aufsicht weiterer Lehrer. Für die Schönheit der Schule des Architekten Max Taut hatte ich damals noch keinen Sinn.

Sportunterricht fand bei Lehrer Scholz in der Turnhalle der Knabenschule statt. Der Sportunterricht spielte eine wichtige Rolle bei der Erziehung zu Härte und Disziplin in der nationalsozialistischen Pädagogik. Die Knabenschule aus dem Jahre 1913 hatte eine für damalige Zeiten durchaus zeitgemäße und schöne Turnhalle in direkter Anbindung an den Schultrakt. Beliebt war die Rundlaufanlage in der Hallenmitte mit den an Seilen befestigten Holmen, an denen sich etwa 8 Schüler gleichzeitig im Kreis herumschwingen konnten. Wenn man den Bogen raus hatte, machte das richtig Spaß. Weniger beliebt war die Sprossenwand bei untrainierter Bauchmuskulatur. Dagegen erfreute sich Völkerball großer Beliebtheit.

Schwimmen lernte ich im Freibad an der Schacke. Nach heutigem Standard war es primitiv, jedoch mit recht ordentlichen Beckenabmessungen von 50m x 18m, abgeteilt in Schwimmer- und Nichtschwimmer-Becken mit einer 1m- und einer 3m-Sprunganlage. Dort waltete Bademeister Neumann seines Amtes. Die Eintrittskarten verkaufte in den Sommerferien seine Tochter Brunhilde, die Mitte der 50er Jahre nach ihrem Musikstudium das musikalische Leben an der Trinitatiskirche mitgestaltete.

Eine Episode an den Kletterstangen ist mir unvergesslich geblieben: Wer ist am schnellsten oben? Wir waren gerade dabei, als mein Vater, der Pfarrer der Gemeinde, in der Turnhalle erschien, um mal zu sehen, was sein Sprössling so macht. Irgendwie reizte ihn das Kletterstangengerüst, es nach 25 Jahren noch einmal zu versuchen. So entstand ein Wettklettern zwischen den beiden alten Herren, denn Herr Scholz konnte nicht zurückstehen. Das anfeuernde Gebrüll der Klasse war gewaltig. Mein Vater in Straßenschuhen und mit allerhand Körperpfunden behaftet - ich glaube, er trug sogar noch seinen Lodenmantel - an der vibrierenden Kletterstange! Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und ich war richtig stolz!

Das Jahr 1938 mit dem 9. November hat bei mir keine Erinnerungen an Judenverfolgungen hinterlassen. Dass unsere jüdische Hausärztin nicht mehr da war, habe ich nicht wahrgenommen. Meine Eltern haben sich uns 3 Kindern gegenüber jeder antinationalsozialistischen Äußerung enthalten. In meinem politisch unbedarften Hirn war die Welt in Ordnung. Da uns die völkische Erziehung ständig vorhielt Gemeinschaft geht vor Eigennutz oder Du bist nichts, dein Volk ist alles gerieten wir Kinder zwangsläufig in den Sog der Anpassung.

Der Kriegsbeginn am 1. September 1939 war ein überraschendes Ereignis, mit dem sich vage Vorstellungen von Unheil unbekannter Art verbanden. Im Radio hörten wir die Stimme des Führers: „Polen hat nun heute Nacht zum ersten Male auf unserem eigenen Territorium durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten“. Atmosphärisch unterstrichen wurde dieser Tag durch ein entsetzliches Gewitter am Nachmittag, den ich zusammen mit meinem Schulfreund Harry Mittag angstvoll unter dessen Geburtstagstisch verbrachte. An den folgenden Tagen wurden hektisch Verdunkelungsstoffe gekauft und an den notwendigen Stellen angebracht. Die Angst vor dem Krieg wurde überdeckt durch die Siegesmeldungen der Deutschen Wehrmacht, die ununterbrochen den Feind zurückwarf. Wir Kinder begeisterten uns rasch für das Instrumentarium des Krieges, für Panzer und Stukas, nicht ahnend, was da losgetreten worden war. Die Begeisterung über die militärischen Erfolge war natürlich auch Thema in der Schule.

Was dachte ich über diese Zeit? Dachte ich überhaupt? In die Hitlerzeit hineingeboren, war der Hitlergruß eine Alltäglichkeit, über die ich gar nicht nachdachte, obwohl mein Vater als Pfarrer generell Guten Tag sagte und eine Distanz zum Staat signalisierte. An Hitlers Geburtstag haben wir Schüler uns in Klassenkolonnen auf dem Schulhof unter der aufgezogenen Hakenkreuzfahne aufgestellt, die Rede des Rektors angehört und selbstverständlich anschließend mit ausgestrecktem rechten Arm die verordneten Hymnen gesungen.

Das unbesiegbare Volk 1940 bis 1942

England und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg, aber davon merkten wir zunächst nichts. Im April 1940 besetzten deutsche Truppen Dänemark und Norwegen.

 

Im Juni 1940 hatte der Frankreichfeldzug seinen siegreichen Abschluss gefunden, im Herbst standen deutsche Truppen in halb Europa und sogar in Nordafrika. In unsern Kinderherzen muss sich der Glaube an ein unbesiegbares Volk festgesetzt haben. Was Krieg bedeutet, konnte man in Finsterwalde noch nicht spüren. Die Lebensmittel- und Kleiderkarten, die wir gleich am Beginn des Krieges erhielten, garantierten eine ausreichende Ernährung und in den Dörfern rund um Finsterwalde konnte man auch das eine oder andere bekommen. Was draußen in Europa vor sich ging, erfuhr man durch Rundfunk oder Wochenschau. Ich begann, mich für unsere Zeitung, den Niederlausitzer Anzeiger, zu interessieren. Da las ich auch die Anzeigen Gefallener, doch die berührten ja nur die Betroffenen!

Feindliche Fliegerangriffe blieben bislang hauptsächlich auf den Westen Deutschlands beschränkt, doch die Vorkehrungen für den Luftschutz wurden ernst genommen und Krankenhausdächer erhielten Markierungen mit dem roten Kreuz. Jedes Haus musste einen Luftschutz-Kellerraum mit Sandkästen vor den Schutzraumfenstern einrichten und ausweisen. Feuerspritze, Patsche und gefüllte Wassereimer waren im Dachbodenbereich vorzuhalten. Ein dichtes Netz von Sirenen mit regelmäßigem Probealarm wurde in der Stadt installiert. Blockwarte kontrollierten die Einhaltung der Verdunkelung, Radfahrer und Autos fuhren mit schlitzförmig abgedunkelten Scheinwerfern. Man trug Leuchtplaketten an der Kleidung, damit Fußgänger sich im Dunkeln wahrnehmen konnten. Mit zunehmender Aktivität der feindlichen Flugzeuge wurden Brandschutzübungen gegen Phosphorbrandbomben notwendig.

1940 kam unsere Schulklasse zu den Pimpfen, der Eingangsklasse des Deutschen Jungvolks. 10 Jahre alt musste man sein. Der Klassenjüngste Lothar war erst neun geworden und traurig, dass er nicht dazugehören sollte. Aber Lehrer Scholz sorgte dafür, dass auch er aufgenommen wurde und Lothar war selig! Ich kam zum Jungzug 3 unter Jungzugführer Wendt. Er trug eine grüne Kordel und brachte uns den nötigen Schliff bei, damit wir uns beim Marsch durch die Stadt nicht blamierten. Wir lernten den Lebenslauf von Adolf Hitler auswendig (... und dann beschloss ich, Politiker zu werden) und das ordentliche Packen eines Tornisters. Ich bekam einen braunen Lederknoten für das schwarze Halstuch zum braunen Hemd mit dem aufgenähten schwarzen Ärmeldreieck Ostkurmark und eine kurze schwarze Cordhose, eine Handbreit überm Knie.

Das Marschieren gefiel mir gar nicht, erst recht nicht mit Schwarzbraun ist die Haselnuss oder Wir lagen vor Madagaskar. Wenn die Hitlerjugend mit ihrem Fanfarenzug sonntags während des Gottesdienstes mit Musik um die Kirche herummarschierte, gab's Ärger mit meinem Vater, der schließlich als Pfarrer ein Wort mit dem zuständigen Hitlerjugend-Führer redete und damit die Angelegenheit nachhaltig aus der Welt schaffte. Die Teilnahme am Sonntagsdienst der Hitlerjugend wurde uns Kindern vom Vater schlechthin untersagt. Der Sonntagsdienst endete meistens mit einer Jugendfilmstunde im Kino Weltspiegel, aber wir hatten zum Kindergottesdienst zu gehen.

Der wöchentliche Dienstbetrieb des Deutschen Jungvolks fand mittwochnachmittags statt. Angetreten wurde an der Knabenschule, dort meistens unter dem Kommando von Fähnleinführer Kiesel. Der trug die kürzesten Hosen von allen! Hatte man den Dienst geschwänzt, erschien beim nächsten Mal der Jungenschaftsführer (mit rot-weißer Kordel) an der Haustür mit der Mahnung: „Erscheinen ist Pflicht!“ Es gab ein verwildertes Kiesgrubengelände für allerhand Geländespiele. Bei schlechtem Wetter fanden in den Räumlichkeiten Pimpfprüfung oder Feldscherlehrgang statt. Beim Marsch in die Stadt konnte es schon mal passieren, dass mir an einer Hausecke der Schuh aufging und ich mich nach Hause verdrückte. Mein zwei Jahre älterer Bruder hatte das glänzend raus.

Ein schreckliches Feuerwerk ereignete sich im Sommer 1941. Am 22. Juni begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Blitzsiege der Wehrmacht überdeckten im Laufe der nächsten Tage den Schock der ersten Stunde sowie kritische Befürchtungen. Wieder überschlugen sich die Siegesmeldungen, die der Rundfunk verbreitete.

Hitler und Mussolini hatten im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt und damit Deutschland in einen Weltkrieg gezogen. Auf dem östlichen Kriegsgebiet erschöpfte sich die Angriffskraft der deutschen Wehrmacht vor Moskau infolge des außergewöhnlich harten Winters und der Fehleinschätzung über die Stärke der Roten Armee. Auf diesen Winter war das deutsche Heer nicht vorbereitet und folglich unzureichend ausgerüstet. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, warme Unterkleidung, Pelzmäntel, Handschuhe, Schals, Skiausrüstungen und Weißstoffe für Tarnhemden zu spenden. Mein älterer Bruder spendete seine Ski-Ausrüstung und ich ihm meine Hochachtung. Das Deutsche Jungvolk und die Hitlerjugend sammelten übrigens fast alles: Stoffe, Altmetalle, Blechdosen, Zahnpastatuben, Küchenabfälle.

Unser Schulunterricht verlief 1941 noch normal. Für mich war die Klasse 4a (neuer Zählart) die letzte in der Grundschule, denn natürlich sollte ich auf die Oberschule, die mein älterer Bruder schon besuchte. Einen sehr bescheidenen eigenen Erfolg erzielte ich am 1. Juli 1941 in Finsterwalde mit der bestandenen Aufnahmeprüfung zur Oberschule.

Mit etwa 8 Klassenkameraden bezog ich im Herbst 1941 die Sexta in dem roten Backsteinbau. Unsere Klassenlehrerin war Frau Engelhardt, eine charakterlich geradlinige Respektsperson, warmherzig und mit ausgesprochenem Gerechtigkeitssinn. Sie sollte uns noch lange begleiten, auch über das Jahr 1945 hinaus. Englisch und Erdkunde unterrichtete Studienrat Paul, ein Mensch von äußerster Korrektheit und Disziplin. Der Mathematiklehrer Wiche, ein Aussiedler aus Lemberg, war eigentlich der warmherzigste von allen Lehrern. Er konnte einem einfach so über den Kopf streichen. Direktor der Oberschule war Oberstudiendirektor Lemcke, den ich nur im ausgebeulten Cordanzug kennen gelernt habe. Er trug meist einen Schlüsselbund in seiner Faust, mit dem er schon mal Kopfnüsse verteilte.

Die Zeugnisse der ersten Oberschuljahre belegen meinen geringen Fleiß und Eifer. Meine Eltern hatten um diese Zeit mit den Flegeljahren meines zwei Jahre älteren Bruders mehr als genug zu tun. Zum Drama hochstilisiert wurde einmal seine Reaktion auf eine vermeintliche Fehlbenotung in der Untertertia, als er aus Enttäuschung das Zeugnis vor den Augen des Klassenlehrers, Studienrat Paul, zerknitterte, wie es nachher im Protokoll vermerkt wurde. Vater musste seine ganze Diplomatie und Formulierungskunst aufwenden, um einen Schulverweis abzuwenden. Am Ende durfte er bleiben. Studienrat Paul hatte hier wohl überreagiert und einen unerhörten Angriff auf seine Persönlichkeit gesehen.

Paul war für die damaligen Verhältnisse ein weit gereister Mann. Seinen Erdkundeunterricht mochte ich gern. Wenn er von seinen Reisen nach Spanien oder England erzählte, dann erhellte sich sein Gesicht. Das schottische Hochland hatte es ihm wohl besonders angetan. Ich habe ihn dabei ein einziges Mal singen gehört und der kleine Text, den er fast errötend vorgetragen hat, bleibt mir unvergessen.

My heart' s in the Highlands, my heart is not here, my heart in the Highlands is chasing the deer.

Bedauerlich, dass sich die Schutzhaut um die Lehrperson so selten öffnete.

Mein schulisches Streben blieb auf Sparflamme. Im Zeugnis stand immer wieder „Wenig Fleiß und Eifer sind ihm anzumerken“. Lust zum Zeichnen und Malen hatte ich allerdings immer, wurde jedoch durch den Unterricht in Zeichnen und Werken in keiner Weise gefördert. Herr Pletsch, der für diese Förderung zuständig gewesen wäre, hatte seine liebe Mühe, die Rasselbande von Klasse irgendwie zu beschäftigen. Dabei war er ein Könner, der Zeichen- und Kreidestifte hervorragend handhabte, wie ich später in einem Privatkolleg feststellen konnte. Er wurde nach dem Krieg wegen Zugehörigkeit zur NSDAP aus dem Schuldienst entlassen.

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