Die katholische Kirche im Pressediskurs

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5.3 Kritische DiskursanalyseDiskursanalyse nach Jäger

Obwohl Jäger Sprachwissenschaftler ist und seine in den 1990ern entworfene und seither weiterentwickelte Methode der KDA wohl als Weiterentwicklung von der Textanalyse zur DiskursanalyseDiskursanalyse gesehen werden kann, verortet er sie nicht als linguistische, sondern als inter- oder auch transdisziplinäre Methode.1 Die KDA ist für ihn „ein Projekt qualitativer Sozial- und Kulturforschung, das sich auch einer Reihe sprachwissenschaftlicher Instrumente bedient“. In ihrer Interdisziplinarität geht sie „bewusst über die Diskurslinguistik hinaus, die sich allein oder doch fast allein auf linguistische Begrifflichkeiten und Verfahren beschränken möchte“ (Jäger/Zimmermann 2010: 5). Jäger grenzt sich hier von einem Verständnis der Diskurslinguistik ab, wie sie Warnke und Spitzmüller vertreten: Die Diskurslinguistik, „sofern sie sich auf eine einzige Disziplin reduziert, verkennt in manchen Ausarbeitungen die Möglichkeiten inter- und transdisziplinärer Kooperation“ (Jäger 2010b: 43f.).

Jäger, der sich als Sprachwissenschaftler immer schon für den „Zusammenhang von Gesellschaft, Individuum und Sprache“ interessiert hat, scheint an linguistische Grenzen gestoßen zu sein, die sich die Linguistik selbst gesetzt hat, denn „zusammen mit den Inhalten wird […] im Grunde zugleich alles Gesellschaftliche aus der Linguistik vertrieben“ (Jäger 2009: 12). Er kritisiert an der Linguistik im Allgemeinen

„eine Beschränkung der Linguistik auf sich selbst, eine technokratische Verkürzung, die Linguisten daraus meinen ableiten zu müssen, daß in allen Wissenschaften und in jedem Alltag Inhalte vorkommen, für die die Linguistik, der Linguist/die Linguistin nicht kompetent seien“ (2009: 13).

Nach Jäger gilt es diese Position in der Linguistik zu überwinden. Ihm geht es „letzten Endes um die Entwicklung eines integrierten theoretischen und methodologischen kulturwissenschaftlichen Ansatzes für Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsanalyse“ (Jäger 2009: 25). Dass seine Kritische DiskursanalyseDiskursanalyse, auch wenn er sie sozial- und kulturwissenschaftlich verortet, dennoch in stark linguistischer Tradition steht, zeigt aber z.B. auch, dass Jäger sie an anderer Stelle als „sprach- und sozialwissenschaftlichen Ansatz“ beschreibt, mit dem er die Soziolinguistik ablösen möchte (vgl. Jäger 2009: 51).

Für die Entwicklung seiner Methode hat Jäger sich einerseits von Michel Foucault, vor allem in der Rezeption durch Jürgen Link, andererseits von Alexei Nikolajewitsch Leontjews Tätigkeitstheorie inspirieren lassen. Leontjews Theorie, die „zwischen Subjekt- und Objektwelt unterscheidet“ und die Tätigkeit als vermittelnde Instanz zwischen diesen Ebenen erkennt (Jäger 2009: 111), hilft Jäger, die Verbindung zwischen Subjekt und Diskurs, zwischen Individuum und Gesellschaft zu erklären und auch ein der DiskursanalyseDiskursanalyse angemessenes Textverständnis zu entwickeln (vgl. 2009: 21f.).2 Subjekte bilden sich abhängig von soziohistorischen Bedingungen und sind Produkt menschlicher Tätigkeit; sie konstituieren sich „im und durch den Diskurs“ (2009: 21). Diskurse sind ebenfalls Produkte menschlicher Tätigkeit. Texte sind Diskursfragmente und

„[…] im Sinne der Tätigkeitstheorie Ergebnisse der Denktätigkeit von Individuen. Ihre Produktion beruht auf sozialisatorisch angeeignetem Wissen, den jeweiligen Motiven der sprachlich Handelnden und den verfügbaren Ressourcen der Versprachlichung und sprachlichen Entäußerung“ (Keller 2004: 32).

Während Texte von (in Diskurse „verstrickten“) Individuen geschaffen werden, sind Diskurse überindividuell, d.h. „von der Gesamtheit aller Individuen gemacht“ (Jäger 2009: 148). Jäger definiert sie als „Verläufe oder Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (2009: 158), als „strukturiert“ und „geregelt“, „konventionalisiert bzw. sozial verfestigt“ (2009: 129). Das über Diskurse transportierte Wissen gilt als richtig und wahr, wobei Wahrheit nicht „diskurs-extern vorgegeben“, sondern ein „diskursiver Effekt“ ist bzw. „historisch-diskursiv erzeugt“ (2009: 129). Diskurse spiegeln „gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach [wider], sondern [sie führen] gegenüber der Wirklichkeit ein ‚Eigenleben‘ […], obwohl sie Wirklichkeit prägen und gestalten, ja gesellschaftliche Wirklichkeit zuerst ermöglichen“. Anders gesagt: Diskurse sind „vollgültige Materialitäten“ (2006: 87).

„Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewußtsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit.“ (Jäger 2006: 89)

Die verschiedenen Diskurse eines gesellschaftlichen Gesamtdiskurses sind miteinander vernetzt und bilden ein „diskursives Gewimmel“, das die DiskursanalyseDiskursanalyse unter anderem mithilfe verschiedener Analysekategorien zu entflechten versucht (Jäger/Zimmermann 2010: 15f.):

 Spezialdiskurs: Wissenschaftsdiskurs – im Gegensatz zum Interdiskurs (alle nichtwissenschaftlichen Diskurse) (vgl. Jäger 2009: 159);Diskursfragment

 Diskursfragment: Text(-teil) zu einem bestimmten Thema (vgl. Jäger 2009: 159); in dieser Arbeit z.B. ein Artikel zum Thema „katholische Kirche“ oder genauer zum Thema „Afrikareise des Papstes“;

 Diskursstrang:Diskursstrang gebildet aus mehreren Diskursfragmenten zum selben Thema; in dieser Arbeit werden mehrere Diskursstränge behandelt: z.B. Diskursstrang über die Aufhebung der Exkommunikation der Pius-Bruderschaft, über die Afrikareise des Papstes, über den Kindesmissbrauch durch Kirchenvertreter; Diskursstränge sind miteinander verschränkt, d.h. sie beeinflussen und stützen sich gegenseitig; das gilt für alle Diskursstränge (auch thematisch nicht verwandte) (vgl. Jäger 2009: 160f.); alle Diskursstränge einer Gesellschaft ergeben zusammen den gesamtgesellschaftlichen Diskurs (vgl. Jäger 2009: 166);

 Diskursives Ereignis: Ereignisse, „die medial groß herausgestellt werden und als solche […] die Richtung und die Qualität des DiskursstrangsDiskursstrang, zu dem sie gehören, mehr oder minder stark beeinflussen“; es wird sich zeigen, ob in der vorliegenden Untersuchung diskursive EreignisseDiskursives Ereignis festzustellen sind;

 Diskursebene:Diskursebene soziale Orte, von denen aus gesprochen wird, wie Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag usw. (vgl. Jäger 2009: 163); in dieser Arbeit wird die Diskursebene der Medien, genauer: der Tageszeitungen untersucht;

 Diskursposition:Diskursposition „spezifischer politischer Standort einer Person oder eines Mediums“ (vgl. Jäger 2009: 164).

Nach Jäger ist das „allgemeine Ziel der DiskursanalyseDiskursanalyse“, „ganze Diskursstränge (und/oder Verschränkungen mehrerer Diskursstränge) historisch und gegenwartsbezogen zu analysieren und zu kritisieren“. Da es aufgrund des Umfangs eines DiskursstrangsDiskursstrang und des damit verbundenen hohen Arbeitsaufwandes unmöglich ist, alle Diskursfragmente genau zu untersuchen, rät Jäger zu einer Zweigliederung der Analyse. Nach einer groberen Struktur- bzw. Überblicksanalyse eines Diskursstrangs wird eine Feinanalyse eines typischen Diskursfragments daraus vorgenommen (vgl. Jäger 2009: 192f.). Die Überblicksanalyse besteht im Wesentlichen in der (1) Ermittlung des diskursiven Kontextes, (2) in der allgemeinen Charakterisierung der Zeitung, der die Diskursfragmente entnommen sind und (3) in der Aufschlüsselung der Diskursfragmente bzw. Artikel nach Themen und TextsortenPressetextsorten sowie in der Ermittlung der DiskurspositionDiskursposition der Zeitung in Hinblick auf die jeweilige Thematik (vgl. Jäger 2009: 195f.). Für die Feinanalyse sollen typische Artikel mithilfe bestimmter Kriterien ausgewählt werden. So sollen die typischen Artikel z.B. die Diskursposition der Zeitung enthalten, dem thematischen Schwerpunkt der Zeitung hinsichtlich des betroffenen Diskursstrangs, dem Berichtstil und den formalen Besonderheiten der Darstellung entsprechen (Genaueres siehe Jäger 2009: 193). Die Feinanalyse selbst besteht aus folgenden Analyseschritten:

1. „Institutioneller Rahmen: Jedes Diskursfragment steht in einem institutionellen Kontext. Dazu gehören MediumMedium, Rubrik, Autor, eventuelle Ereignisse, denen sich das Fragment zuordnen läßt, bestimmte Anlässe für den betreffenden Artikel etc.

2. Text-‚Oberfläche‘: Graphische Gestaltung (Photos, Graphiken, Überschriften, Zwischenüberschriften), Sinneinheiten (wobei die graphischen Markierungen einen ersten Anhaltspunkt bieten [sic!], angesprochene Themen.

3. Sprachlich-rhetorische Mittel (sprachliche Mikro-Analyse: z.B. Argumentationsstrategien, Logik und Komposition, Implikate und Anspielungen, Kollektivsymbolik/Bildlichkeit, Redewendungen und Sprichwörter, Wortschatz, Stil, Akteure, Referenzbezüge etc).

Inhaltlich-ideologische Aussagen: Menschenbild, Gesellschaftsverständnis, Technikverständnis, Zukunftsvorstellung u.ä.

4. Interpretation: Nach den unter 1. bis 4. aufgeführten Vorarbeiten kann die systematische Darstellung (Analyse und Interpretation) des gewählten Diskursfragments erfolgen, wobei die verschiedenen Elemente der Materialaufbereitung aufeinander bezogen werden müssen.“ (Jäger 2009: 175; in Originalrechtschreibung)3

Auf der Basis der Struktur- und Feinanalyse wird abschließend eine Gesamtinterpretation des Diskursstranges vorgenommen (vgl. Jäger 2009: 193).

Jäger hat seine Vorgehensweise in zahlreichen Veröffentlichungen immer wieder sehr transparent, leser- und benutzerfreundlich erörtert. Wenn die gewählte Untersuchungsmethode der vorliegenden Arbeit Jägers Kritischer Diskursanalyse auch nicht 1:1 folgt, so ist sie dennoch wesentlich von ihr beeinflusst. Jägers Analyseraster wird mit einigen Anpassungen übernommen (siehe Abschnitt 13.2).

 

Obwohl ich mir bewusst bin, dass diese Methode aufgrund ihrer politischen Ausrichtung, aber auch aufgrund der Beachtung der Textinhalte innerhalb der Linguistik umstritten ist und Jäger sie selbst (vielleicht auch deshalb) nicht als sprachwissenschaftliche Methode im eigentlichen Sinn deklariert, hat mich vor allem ihr Analyseverfahren überzeugt. Der Aufbau der einführenden Kapitel zeigt bereits, dass auch die vorliegende Arbeit keine puristisch linguistische ist. In Abschnitt 2 war die Rede davon, dass heute die wissenschaftlichen Fachgrenzen verschwimmen, weil von den Gegenständen, von der Forschungsfrage ausgehend transdisziplinäre Methoden entwickelt werden müssen. Meine Forschungsfrage macht es notwendig, aus verschiedensten Forschungstraditionen und Wissenschaftsdisziplinen zu schöpfen, um ihr gerecht werden zu können. Nichtsdestoweniger erhebt die Arbeit den Anspruch medienlinguistisch zu sein, da der Schwerpunkt der vorgenommenen Analyse auf dem Sprachgebrauch in den Medien liegt. Ich kann daher gut mit Jäger sympathisieren, der, selbst Sprachwissenschaftler, mit seiner entwickelten Methode über die „Grenzen der Disziplin der Linguistik“ hinausgeht, indem er sie mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Theorien und Instrumenten verbindet (Jäger 2009: 158). Das Ziel meiner Arbeit liegt zwar nicht in einer politischen Gesellschaftskritik, die sich darin zeigt, „Vorschläge zur Vermeidung herrschender Missstände zu entwickeln“, wofür Jäger die Kritische DiskursanalyseDiskursanalyse in der Lage sieht (vgl. Jäger/Zimmermann 2010: 22). Dennoch steht sie medialen Prozessen durchaus kritisch gegenüber, was sich bereits an den Hypothesen ablesen lässt. Gardt (2007), der die Ursache der KontroverseKontroverse zwischen Kritischer Diskursanalyse und Diskurslinguistik in der Dichotomie der erklärenden und der beschreibenden Sprachwissenschaft (nach Chomsky) sieht, befürchtet, dass die linguistische Diskursanalyse „zu einer bloßen Hilfswissenschaft für andere Disziplinen“ wird, wenn die Sprache nicht der eigentliche Untersuchungsgegenstand ist. Die Lösung besteht nach Gardt im Verständnis der Diskursanalyse als Sprachkritik, da sie dadurch ihre „linguistische Identität“ wahren könne (2007: 40f.).

„Eine Aufwertung einer linguistisch fundierten Sprachkritik zu einem integralen Bestandteil der Sprachwissenschaft wird in jüngster Zeit ohnehin gefordert. Wenn Sprachwissenschaftler durch das kritische Kommentieren öffentlichen Sprachgebrauchs tatsächlich stärker in der Gesellschaft präsent sein wollen, sind damit auch jene Vertreter der DiskursanalyseDiskursanalyse angesprochen, deren Arbeiten solche gesellschafts- und ideologiekritischenIdeologie (s. a. Welt- und Wertvorstellungen) Züge tragen.“ (Gardt 2007: 41)

Auch Warnke, Meinhof und Reisigl sehen im Jahr 2012 die Diskurslinguistik stärker integrativ. „[Deskriptive] Zugänge und kritische Verfahren“ seien „als interdependent [zu verstehen]“; beide bedingen sich insofern gegenseitig, als „jede so genannte deskriptive Linguistik […] bis zu einem gewissen Grad auch explikativ und argumentativ“ ist (2012: 381). „Umgekehrt muss eine sich als kritisch verstehende Diskursanalyse an deskriptiver Präzision interessiert sein, sollen ihre Analysen als empirisch geerdete Untersuchungen ernst genommen werden“ (Reisigl 2011, zitiert nach Warnke/Meinhof/Reisigl 2012: 382).

„Die Einbettung von Sprachkritik in eine Kritische DiskursanalyseDiskursanalyse scheint [Jäger selbst] durchaus wünschenswert und auch leicht zu machen“, wie er sich in einem InterviewInterview mit Diaz-Bone äußert – obwohl er sich eine „Weiterentwicklung in Richtung Diskurskritik (und damit Gesellschaftskritik)“ wünschen würde (Diaz-Bone 2006, Absatz 53). Die Anwendung seiner Kritischen Diskursanalyse in dieser Arbeit, die sprachkritisch die Berichterstattung der Tagespresse über die Kirche beleuchtet, indem sie den Einsatz verschiedener sprachlicher Mittel in Pressetextsorten untersucht, scheint mir also durchaus legitim.

5.4 Zusammenfassung

Die Diskurslinguistik beruht auf der Diskurstheorie nach Michel Foucault, geht über Einzeltexte hinaus und beschreibt Strukturen, Muster und Besonderheiten von Diskursen und damit die in diesen Diskursen manifesten Weltbilder und Gesellschaftsdeutungen. In der Diskurslinguistik haben sich im Wesentlichen zwei Richtungen etabliert, eine deskriptive und eine kritische. Erstere sieht ihre Aufgabe in der reinen Beschreibung von sprachlichen Oberflächenphänomenen, zweitere durchaus auch in der Kritik von Machtstrukturen (siehe Abschnitt 5.2). Die vorliegende Arbeit sieht sich in der Tradition der Kritischen Diskursanalyse nach Jäger und macht sich deren sprachwissenschaftlich orientiertes Analyseinstrumentarium zunutze. Dabei wird ein Diskursstrang zu einem ausgewählten Thema nach typischen Diskursfragmenten (d.h. Einzeltexten, z.B. Zeitungsartikeln) durchsucht, die im Anschluss einer Feinanalyse unterzogen werden (siehe Abschnitt 5.3). Konkret widmet sich die vorliegende Untersuchung einem kleinen Ausschnitt des gesamtgesellschaftlichen Diskurses, nämlich dem Diskurs der Tagespresse zum Thema „katholische Kirche“. Die Analyse ist insofern textübergreifend, als dass sie korpusbasiert ist und mehrere Texte desselben Diskurses auf Besonderheiten hin untersucht. Dabei wird vor allem der Sprachgebrauch (Wortschatz und Stil), aber auch der Inhalt selbst in den Blick genommen (Themenfrequenzanalyse, Analyse der implizitenBewertung, implizite und explizitenBewertung, explizite WertungenBewertung). Ziel ist es, diesen Pressediskurs zum Thema „Kirche“ genau zu beschreiben und DiskurspositionenDiskursposition (etwa die einzelnen RedaktionslinienRedaktionslinie) festzumachen. Indem die Berichterstattung in Frankreich und in Österreich miteinander verglichen werden, soll herausgefunden werden, ob aufgrund der unterschiedlichen Geschichte der beiden Länder und damit aufgrund ihres unterschiedlichen Verhältnisses zur Kirche Diskrepanzen zwischen den länderspezifischen Diskursen (die sich ja historisch entwickelt haben) feststellbar sind (siehe Abschnitte 11 bis 13).

In Bezug auf die kontrastive Analyse dieser Arbeit soll hier noch ergänzend ein Artikel von Czachur Erwähnung finden, der sich mit den Bedingungen kontrastiver Diskurslinguistik auseinandersetzt. So sagt Czachur etwa, dass Diskurse auch von der Kultur der jeweiligen Sprachgemeinschaft geprägt werden, d.h. von deren Werten, Normen, von ihrer Geschichte, von politischen und wirtschaftlichen Faktoren (vgl. 2012: 389). Ein Schlüsselbegriff sind hier die Werte, die die „Grundlage der menschlichen Handlung darstellen“. Sie sind „grundlegende menschliche Zielvorstellungen“ und „kulturelle Orientierungsgrößen“ und „bilden den Ausgangspunkt jeglicher sprachlicher Kategorisierung und Konzeptualisierung der Wirklichkeit“ (2012: 390). Wenn es nun darum geht, Diskurse unterschiedlicher Sprachgemeinschaften miteinander zu vergleichen, muss die Kultur miteinbezogen werden. Es müssen „die sprachlich tradierten, diskursiv erzeugten, kulturspezifischen Konzeptualiserungen der Welt aufgezeigt und miteinander verglichen werden“. Anders formuliert macht es sich die kontrastive Diskurslinguistik zum Ziel zu erklären, „warum die eine Gesellschaft gerade das weiß und die andere etwas anderes“ (2012: 391). Dazu benötigt sie ein mehrdimensionales Analyseinstrumentarium (vgl. 2012: 391). Die vorliegende Arbeit versucht diesem Anspruch der kontrastiven Diskurlinguistik gerecht zu werden. Nicht umsonst gehen dem empirischen Teil der Arbeit umfassende Erläuterungen zum gesellschaftspolitischen Kontext (siehe Abschnitte 7 und 8) sowie zu den Presselandschaften der Länder Österreich und Frankreich (siehe Abschnitte 9 und 10) voraus. Auf diese Weise sollen die kulturspezifischen Werte beschrieben werden, die den Diskurs beeinflussen.Semantik

6 (Pragmatische) SemantikBewertung

In diesem Abschnitt werden einige semantische Ansätze aufgegriffen, die vor allem für die Analyse der in den verschiedenen Pressetextsorten vorkommenden implizitenBewertung, implizite und explizitenBewertung, explizite Bewertungen relevant sind. In einem zweiten Schritt werden die sprachlichen Mittel der Bewertung dargestellt.

Egal ob implizte oder explizite BewertungenBewertung, explizite – will man sie einem Text entnehmen, muss man die Bedeutung der Äußerungen erschließen. Hierbei kann auf bisherige Erkenntnisse der Semantik aufgebaut werden. Sie ist „diejenige Teildisziplin der Sprachwissenschaft bzw. Sprachtheorie, die sich mit der Erforschung der Bedeutungen sprachlicher Zeichen und Zeichenketten (Syntagmen, Sätze, Texte) befasst“ (Busse 2009: 13). Wenn man allerdings nach der „Bedeutung von ‚Bedeutung‘“ fragt, ist dies wieder einmal nicht so einfach zu beantworten. Die im Vergleich zur Semantik ältere Semiotik liefert mit ihren Zeichentheorien erste Anhaltspunkte. Nach dem klassischen Zeichenmodell (nach Ogden/Richards) besteht ein sprachliches Zeichen aus drei Seiten: (1) Inhalt bzw. Bedeutung, (2) Ausdruck (physische Gestalt: Laute, Buchstaben) und (3) Gegenstand bzw. Referenz (vgl. Busse 2009: 24). Bedeutung entspricht hier in etwa der geistigen Vorstellung, die mit dem Ausdruck verbunden wird („x steht für …“). Doch ganz so einfach ist das nicht, da bei der Realisation eines Zeichens nie auf alle Bedeutungsaspekte verwiesen wird, sondern nur auf ausgewählte (vgl. Busse 2009: 24f.). Die erste dezidiert linguistische Zeichentheorie verdanken wir Saussure. Ihm zufolge besteht ein Zeichen aus zwei Seiten, nämlich dem signifié (das Bezeichnete, die Inhaltsseite) und dem signifiant (das Bezeichnende, die Ausdrucksseite), die beide aus einem physischen Akt der Vorstellung resultieren (vgl. Busse 2009: 27). Die Zuweisung einer Bedeutung zu einem Ausdruck beruht auf den Prinzipien Linearität, Arbitrarität und Konventionalität (vgl. Busse 2009: 28).

Was die Inhaltsseite nun genau umfasst, ist immer noch nicht gesagt und kann auch nicht eindeutig und für alle Zeiten gültig festgelegt werden. In der Semantik werden sprachliche Zeichen und Zeichenketten unter sehr vielen verschiedenen Aspekten beleuchtet. Je nach Zugang, Theorie bzw. Schule (z.B. Begriffstheorien, Vorstellungstheorien, Logische Semantik, Merkmalsemantik, Prototypen-/Stereotypensemantik) kursieren viele verschiedene Termini, um zu umschreiben, was mit „Bedeutung“ ausgedrückt sein will: Abbild, Begriff, Extension und Intension, Rahmen/frame, Bezeichnetes, Merkmalbündel, Stereotyp u.a. (vgl. Busse 2009: 31f.). Diese Vielfalt ist durchaus gut so:

„Wichtig ist für die linguistische Begrifflichkeit im Umgang mit den verschiedenen Ebenen sprachlicher ‚Bedeutung‘ (bzw. der Facetten, welche der schillernde Begriff ‚Bedeutung‘ je nach praktischen Beschreibungszielen und -gegenständen hat) die Wahl der Perspektive auf die Sprache. Es spricht wenig dafür, dass alle denkbaren Blickrichtungen auf das Problem ‚Bedeutung‘ unter einer einheitlichen semantischen Theorie zusammengefasst werden könnten.“ (Busse 2009: 113)

Für die vorliegende Arbeit sind vor allem die Blickrichtungen der lexikalischen SemantikSemantik, lexikalische, der noch jüngeren pragmatischen SemantikSemantik, pragmatische, der Satz- bzw. TextsemantikSemantik, Text- sowie der Kontext-Semantik, Kontext- bzw. FrameFraming-SemantikSemantik, Frame- relevant.

Die lexikalische SemantikSemantik, lexikalische beschäftigt sich mit den lexikalischen bzw. „wörtlichen, kontextunabhängigen Bedeutungen von Wörtern“ (Schwarz/Chur 2007: 17), „die im mentalen Lexikon permanent [gespeichert]“ und „Bestandteil unserer semantischen Kompetenz“ werden (Schwarz/Chur 2007: 29). Hinsichtlich der Bewertungen durch Sprache ist dies insofern wesentlich, als es verschiedene sprachliche Verfahren gibt, Bewertungen vorzunehmen: Einige Bewertungen sind bereits als Konzepte im lexikalisierten Wortschatz enthalten, z.B. die sogenannten Wertwörter. Die lexikalische Bedeutung reicht aber nicht aus, um Bewertungen in der Sprache festzumachen, da grundsätzlich wertneutrale Wörter je nach Kontext und Sprecherintention plötzlich Bewertung enthalten können.

Busse (2009: 94) weist darauf hin, dass die lexikalische Wortbedeutung im Grunde ohnehin ein linguistisches Konstrukt sei, das es zu hinterfragen gelte: „[…] Wortbedeutungen, wie sie in Wörterbüchern beschrieben werden, sind […] konstruierte Entitäten, deren realer ontologischer Status fraglich ist.“ Lexikalisierte Wortbedeutungen können „immer nur schwerpunktmäßig ausgewählte Aspekte erfassen […], niemals aber die Gesamheit der Fülle an Bedeutungsnuancen aller Verwendungsmöglichkeiten einer Wortform wiedergeben“. Types und tokens divergieren. Die traditionelle Wortsemantik widmet sich vor allem der Denotation bzw. der Grundbedeutung eines Wortes und ignoriert weitgehend andere bewertende, konnotative, situative, stilistische oder varietätenspezifische Bedeutungen, ebenso semantische Relationen und satzsemantische Aspekte (vgl. 2009: 95).

 

Dies führt uns zur pragmatischen bzw. praktischen Semantik, die mit Ludwig Wittgenstein davon ausgeht, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache ist. Streng genommen gibt es in einer Sprache demnach keine einheitliche Bedeutung eines Zeichens, sondern der Kontext des Zeichens bestimmt die Bedeutung eines Wortes bzw. Satzes und Textes (vgl. Busse 2009: 61f.). Allerdings sind bei der Sprachverwendung bestimmte Regeln einzuhalten, um das Verständnis bei den RezipientInnen zu gewährleisten (vgl. Busse 2009: 63f.).

Grice weist auf den Einfluss der Intentionen bzw. kommunikativen Absichten der Zeichenverwender auf die Bedeutung hin und unterscheidet diesbezüglich zwischen „Meinen“ (aktuelle Bedeutung) und „Bedeutung“ (lexikalische Bedeutung). Des Weiteren beschreibt er vier Bedeutungsstufen (vgl. Busse 2009: 67f.): (1) zeitunabhängige Bedeutung (lexikalische Bedeutung bzw. type), (2) angewandte zeitunabhängige Bedeutung (aktuelle Bedeutung bzw. token), (3) Situations-Bedeutung (implizierte, z.B. metaphorische Bedeutung) und (4) Situations-Meinen eines Sprechers (das vom Zeichenverwender über die vorher genannten Bedeutungen hinaus Gemeinte, kommunikativer Sinn, pragmatische oder situative Bedeutung, konversationelle Implikatur (vgl. Schwarz/Chur 2007: 29)).

Die aktuellen Bedeutungen sowie die Implikaturen waren lange ausschließlich Gegenstand der Pragmatik (vgl. Schwarz/Chur 2007: 31). Heute wird zwischen Pragmatik und Semantik nicht mehr derart strikt getrennt; nach Busse (2009: 72) ist Pragmatik sogar Teil der Semantik, genauer:

„der Teil der Semantik, der sich verstärkt mit solchen kontext-, gebrauchs- und benutzerabhängigen Aspekten der bedeutungshaften Leistung sprachlicher Einheiten und ihrer Benutzung zu kommunikativen Zwecken befasst, die von den ‚klassischen‘ Modellen der linguistischen Semantik […] nicht erfasst werden.“

Busse rechnet daher die bisher der Pragmatik zugeordnete Analyse der Präsuppositionen, der Implikaturen und der Deixis dem Gegenstandsbereich der Semantik zu (vgl. Busse 2009: 70–72).

Eine Semantik, die über die kontextunabhängigen Bedeutungen hinaus auch die textuelle Einbettung berücksichtigt, untersucht

„die Wechselwirkung zwischen dem, was man ‚Lexembedeutung‘ (Bedeutung eines Wortes als abstrakte Einheit des Wortschatzes, also ohne Betrachtung der Verwendungskontexte in Sätzen, Texten, Äußerungssituationen) nennt, und der Satzbedeutung“ (Busse 2009: 113).

Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte sich die Sparte der SatzsemantikSemantik, Satz-, die sich mit Satzbedeutungen auseinandersetzt (z.B. mit Prädikationen und Referenzen). Von Polenz unterscheidet zwischen (1) dem Aussagehalt oder propositionalen Gehalt und (2) dem Handlungsgehalt oder pragmatischen Gehalt eines Satzes. Der Aussagegehalt bezieht sich auf Dinge in der Wirklichkeit, über die man etwas aussagt. Der Handlungsgehalt bezieht sich auf Illokutionen, Perlokutionen, propositionale Einstellungen bzw. Sprechereinstellungen zum Aussagegehalt. Letztere zeigen sich unter anderem im Bewertungshandeln des Sprechers (vgl. von Polenz 1985; siehe Abschnitt 6.1). Von Polenz stellt fest, dass in nur wenigen Texten keine bewertenden Sprechereinstellungen vorkommen, sogar Nachrichtentexte seien nicht ganz frei davon. Für die Suche nach Bewertungsausdrücken sei es auch notwendig den Kontext miteinzubeziehen, da manche Wörter erst durch den Kontext bewertend werden (vgl. von Polenz 1985: 219).

So zeigte also auch die satzsemantische Analyse, „dass nur ein Minimum der verstehensrelevanten semantischen Aspekte in der Ausdruckstruktur eines Satzes explizitBewertung, explizite ausgedrückt ist“. Die Satzbedeutung ist mehr als die Kombination ihrer Einzelzeichen. Sie hängt von „kopräsenten situationalen, ausgedrückten sprachlichen oder Wissens-Kontexten“ (Busse 2009: 120f.) ab. Die logische Folgerung: „Jede ernst zu nehmende Semantik ist stets eine Semantik der (möglichen) Kontexte, sie wird zur KontextsemantikSemantik, Kontext-“ (Busse 2009: 124). Doch was genau ist eigentlich mit „Kontext“ gemeint? Busse zufolge ist die in der Linguistik gängige Unterscheidung zwischen Ko-Text (sprachliche Umgebung), Kontext (gedanklicher Zusammenhang) und Situation (äußere Aspekte eines kommunikativen Ereignisses; Deixis) für die Semantik nicht zielführend, da selbst materielle Objekte für ein Sprachverstehen epistemisch verarbeitet werden müssen und folglich der gesamte relevante Wissenskontext ein geistiger ist (vgl. Busse 2009: 123). Es sei besser, zwischen verschiedenen Ebenen der Kontextualisierung zu unterscheiden:

„Mit Bezug auf Worteinheiten sind mindestens vier Kontextualisierungsformen semantisch relevant: (a) Die Kontextualisierung von Wörtern im Satz (evtl. erweitert auf Text). (b) Die Kontextualisierung von Wörtern im Wortfeld (lexikalisch-semantischem Feld) bzw. Wortschatz (semantische Relationen). (c) Die Kontextualisierung von Wörtern im Satz- bzw. Prädikationsrahmen. Und (d) die Kontextualisierung von Wörtern in textweltbezogenen Wissensrahmen.“ (Busse 2009: 123)

Die KontextsemantikSemantik, Kontext- führt uns weiter zur sogenannten FrameFraming-SemantikSemantik, Frame-, die nach dem verstehensrelevanten Wissen fragt, das Sprachrezeption erst ermöglicht. Dabei wird davon ausgegangen, dass sprachliche Kommunikation im Grunde ein elliptischer Vorgang ist; d.h., dass die sprachlichen Zeichen nur einen Teil dessen ausdrücken, was für das Verstehen der Aussage notwendig ist. Die vielen Leerstellen werden mithilfe des Wissensrahmens (Frame) aufgefüllt (vgl. Busse 2009: 83f.), den Busse folgendermaßen definiert:

„Ein Wissensrahmen ist eine abstrakte, komplexe Struktur aus Wissenselementen, die durch sprachliche Ausdrücke und/oder Ausdrucks-Ketten aktiviert wird. Sprachliche Bedeutungen sind das Ergebnis dieses Aktualisierungsprozesses. Bedeutungen haben demnach keinen atomaren Charakter; sie bestehen auch nicht aus der Summe atomarer Einheiten, sondern aus einem Geflecht von Wissenselementen, das im Sprachverstehensprozess im Rückgriff auf Hintergrundwissen erschlossen (‚inferiert‘) wird.“ (Busse 2009: 85)

Sowohl FrameFraming- und Kontext-Semantik, Kontext- als auch SatzsemantikSemantik, Satz- bieten interessante Ansätze für die Analyse von Bewertung – vor allem in solchen Fällen, wo Bedeutung erst mithilfe des Kontexts bzw. des Rahmens erschlossen werden kann. Welche sprachlichen Typen und Mittel zur Verfügung stehen, Bewertung auszudrücken, wird im folgenden Abschnitt erläutert.

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