Mudlake - Willkommen in der Hölle

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

The White House Inn

Das Motorrad war auf dem Gepäckträger festgezurrt, der Bus strebte auf der staubigen Landstraße seinem abendlichen Ziel entgegen. Die Sonne stand bereits zur Hälfte hinter dem Horizont, die Schatten wurden länger. Selbst nach Sonnenuntergang lag die bleierne Hitze wie eine Last über dem Land. Im Bus war Ruhe eingekehrt. Wer nicht schlief, schwitzte an die Scheiben gelehnt vor sich hin. Sie hatten einen Schweinemastbetrieb mit riesigen Hallen passiert. Der Fahrtwind hatte den Güllegestank durch die offenen Fenster gepresst. Jetzt stand er wie zäher Brei im Bus und wollte nicht mehr weichen.

Hope schreckte aus einem unruhigen Schlaf auf, weil Cherryl sie mit dem Ellbogen anstieß.

»Hast du die Typen gesehen?«

Hope rieb sich die Augen. »Hab geschlafen, verdammt … welche Typen? Und warum stinkt’s hier denn? Hast du …?«

»Quatsch, nichts hab ich!«, erwiderte Cherryl. »Sind an ’ner Schweinezucht vorbeigefahren. Deshalb stinkt das jetzt so.«

»Hast du mich geweckt, um mir das zu sagen? Dein Ernst?« Hope sah aus dem Fenster. Die Sonne versank gerade vollends hinter dem Horizont. Aus den Schatten wurde Dunkelheit. Die endlosen Maisfelder verwandelten sich in einen sich träge wiegenden Ozean, angefüllt mit Finsternis.

Cherryl schüttelte den Kopf. »Nee! Wegen der Kerle bei der Schweinefarm.«

»Hä?«

»Ja, da waren welche vor den Ställen …«

»Was war denn mit denen?«

»Die standen neben ’nem rostigen Truck, gafften uns nach. Echt gruselige Vogelscheuchen, sag ich dir.« Cherryl rieb sich fröstelnd die Arme. »Da war was in ihrem Blick …«

Hope rutschte nach oben, um sich aufrecht hinzusetzen. »Cherryl, das ist nicht witzig.«

»Wenn ich’s dir sage. Wie wilde Hunde … fast … animalisch.«

Hope rollte mit den Augen. »Klar. Und das hast du alles beim Vorbeifahren festgestellt. In ’ner Sekunde.« Hope wurde jetzt ebenfalls kühl. Sie dachte an das zurück, was sie im Maisfeld erlebt hatte. An die unsichtbare Präsenz. Wäre Cherryl doch nur ruhig gewesen. »Im Mais ist alles möglich …«

Cherryl sah sie erschrocken an. »Was? Hope? Alles klar mit dir?«

Hope fing an, diabolisch zu grinsen. »Ich sagte, im Mais ist alles möglich.«

»Jetzt machst du mir Angst.«

»Das war meine Absicht!«

Sie passierten ein Ortsschild, aber es war bereits zu dunkel, um zu erkennen, was auf ihm geschrieben stand. Kurz darauf schaltete Kindermann einen Gang nach unten und die ersten Häuser tauchten auf.

Häuser?

Eher Hütten …

Schwarze Vögel, die in den Bäumen sitzen … uns anstarren, weil sie uns erwarten … Wollen sie uns etwas zurufen, das wichtig ist?

Eine Warnung vielleicht?

In der Tat saßen Krähen in den Bäumen neben der Straße.

Wo sollen sie auch sonst sitzen? Sammeln sich auf ihren Schlafbäumen für die Nacht … nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste.

Die Totenvögel, die ich rief … Sie sprechen zu mir, rufen mir zu, ihre Augen eine nervöse Warnung. Wir sollten nicht hier sein …

Ihre Gedanken spiegelten sich in den schwarzen Knopfaugen der Vögel. Doch die saßen viel zu weit entfernt und außerdem war es dunkel. Die Augen, die sie sah, waren in ihrem Kopf. Hope schüttelte die düsteren Gedanken ab.

Es war Zeit, sich von alldem zu befreien. Nach dem Ausflug nach South Dakota würde sie das Waisenhaus mit einem vorzeigbaren Schulabschluss verlassen und ein neues Leben beginnen, wenn es gut lief, sogar einen Psychiater aufsuchen, wenn sie das Geld dazu hatte. Ein Leben ohne die Schatten der alten Geister.

Nicht in dieser Nacht. Ich werde mich den Bildern nicht hingeben, ihnen keinen Glauben schenken.

Ich werde einfach nur ein Mädchen sein, lachen und albern …

Im gelben Licht der Straßenlaternen sahen die Holzhäuser schäbig und heruntergekommen aus. Fast wie in einer Geisterstadt, denn niemand befand sich auf der Straße. Keiner saß wie bei Städtchen üblich vor den Häusern, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten. Wie der Interstate bestanden die Straßen in der Ortschaft aus gewalztem Schotter. Durch das veränderte Fahrgeräusch waren jetzt alle aufgewacht und drückten sich die Nasen an den Scheiben platt, denn jeder wollte wissen, wo sie die Nacht verbringen würden.

»Ganz sicher in ’ner beschissenen Turnhalle«, motzte Lissy und rieb sich den Schlaf aus den Augen.

»In ’ner Kirche«, mutmaßte Cherryl. Sie hatte sich einen Schminkspiegel an den Vordersitz gehängt, damit sie sich ihr Make-up nachziehen konnte.

Hope kicherte und warf Lissy einen vielsagenden Blick zu. »Ich sag Gemeindehaus. Hundertprozentig!«

»Ihr liegt alle drei so was von falsch«, tönte Brady und schaute über die Rückenlehne. »Wir werden in ’nem horrormäßigen halb zerfallenen Haus übernachten, so sieht’s aus, Mädels. Der Slasher schärft schon sein Beil!«

Hope schlug gegen die Rückenlehne. »Du bist so ein Idiot, Brady Banner!«

»Hey, verdammt!« Cherryl warf Hope einen wütenden Blick zu. Der Lippenstift auf ihrem Mund war verschmiert, als hätte sie mit einem der Jungs wild geknutscht. »Wegen dir kann ich’s jetzt noch mal machen!«

Lissy gluckste und wedelte mit der Hand. »Für unsere Beauty-Queen ist der Abend somit gelaufen!«

Cherryl fauchte genervt. »Ihr seid so was von blöd …«

Der Bus bremste und bog nach links in die Main Street ab, um gleich darauf nach rechts auf den Parkplatz einer eindrucksvollen viktorianischen Villa zu fahren.

Hope klappte der Unterkiefer nach unten. »Nee, oder?«

»Manchmal hasse ich es, wenn ich recht habe«, ertönte von vorne Bradys Stimme.

Das viktorianische Haus mit seinen Erkern und Türmchen wirkte nur auf den ersten Blick wie eine noble Villa. Aus der Nähe fügte es sich in das marode Gesamtbild der Stadt nahtlos ein. Die Farbe war abgeblättert, das Holz darunter spröde und grau. Die Fenster wirkten stumpf und die Gardinen dahinter grau wie altes Leinen. »Dann doch lieber die Turnhalle«, stöhnte Cherryl und steckte ihre Schminksachen in die Umhängetasche zurück.

»Na, vielleicht ist es drinnen ja ganz nett.« Hope klang nicht gerade überzeugt.

»Willkommen in Purgatory, Iowa!«, verkündete Schwester O’Hara von vorne. »Alles aussteigen und vor der Veranda aufstellen. Wir übernachten im besten Hotel am Platz, dem White House Inn.«

»Da will ich gar nicht erst die anderen Hotels sehen«, höhnte Brady.

Jamie lachte, denn der Witz war wirklich gut.

»Quatscht nicht rum, packte eure Sachen und lasst nichts im Bus liegen«, schnauzte Schwester O’Hara sie an und wedelte hektisch mit der Hand Richtung Ausstieg, um sie anzutreiben.

»Boah …« Cherryl stöhnte. Sie stieg hinter Lissy aus dem Bus. »Hier draußen ist die Luft ja noch schlimmer als in der Blechkiste.«

Hope hob ihre geknotete Bluse an, um sich Luft zuzufächeln, was wegen der breiigen Hitze ihr keine lüsternen Blicke der Jungs einbrachte.

»Kann dir helfen, wenn du willst«, tönte Brady neben ihr.

»Ach, verpiss dich doch einfach, kann dein Gelaber jetzt echt nicht ertragen.« Hope war genervt und sehnte sich nach einer ausgiebigen Dusche, doch sie bezweifelte, dass dieses Haus einen solchen Luxus zu bieten hatte. Zur Not würde ein nasses Tuch helfen, ihre Haut vom klebrigen Schweiß zu befreien, damit sie sich wieder menschlich fühlte.

Lissy stieß Hope an. »Schau mal, das Fenster.«

Hope folgte ihrem Nicken und sah, dass die Gardine hinter dem Fenster neben der Fliegentür zur Veranda wackelte. Sie bekam eine Gänsehaut, während sie sich vorstellte, von drinnen beobachtet zu werden. Kurz darauf öffnete sich quietschend die innere Tür und die Fliegentür schwang nach außen. Eine Frau mittleren Alters trat auf die Veranda. Sie war groß und schlank und sah in dem schwarzen, mit roten Rosen bedruckten Kleid gut genug aus, dass einer der Jungs durch die Zähne pfiff. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, hatte sie die Vierzig bereits hinter sich. Ein harter Zug umspielte ihre Mundwinkel, ihre Augen wirkten klar, aber streng. Das blonde Haar fiel in leichten Locken über ihre Schultern und hatte einen dezenten grauen Schimmer.

»Das ist Mrs. Iversson, Kinder«, stellte Schwester O’Hara die Frau vor.

»Dann müssten Sie Schwester O’Hara vom New Yorker Waisenhaus sein«, stellte die Frau fest, überquerte die überdachte Veranda und stieg die drei Stufen zu der Ordensfrau herunter, um ihr die Hand zu geben. Dann drehte sie sich zu den versammelten Jugendlichen um. »Und ihr seid die Gören, die mal Landluft schnuppern wollen, ja?«

Mrs. Iverssons Stimme hatte diesen rauen Klang von zu vielen Zigaretten und einer Menge Alkohol und wollte nicht zu ihrem adretten Äußeren passen. Hope warf Lissy einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts. Selbst die Dumpfbacke Brady hielt für den Moment die Klappe.

»Das White House Inn ist mein Haus«, begann Mrs. Iversson ihre Ansprache. »Es steht auf meinem Grund und Boden. Die Regeln sind einfach.« Ihr Blick wanderte über die verschwitzte, müde Schar und blieb an Jason haften, der sich die letzte Zeit über unauffällig verhalten hatte. In einer Weise, dass Hope ihn fast vergessen hätte.

 

»Es gibt Dreierzimmer für die Jungs und ebenso für die Mädchen. Auf jeder Etage gibt es ein Badezimmer mit heißem und kaltem Wasser. Dort findet ihr auch die Toiletten«, erklärte die Iversson.

»Die Mädchen schlafen oben, die Jungs im Erdgeschoss. Wer sich mit wem ein Zimmer teilt, liegt ganz bei euch … Seid alt genug, um das selbst auf die Reihe zu bekommen«, ergänzte Schwester O’Hara. Die Frauen standen jetzt nebeneinander und Hope stellte fest, dass beide dieselben verkniffenen Fältchen um die Augen hatten.

»Zweihundert Meter die Straße runter gibt’s ’nen kleinen Laden, wenn ihr was braucht«, erklärte Mrs. Iversson.

Brady und Jamie stießen sich mit den Fäusten an und grinsten.

»Das ist das Stadtzentrum, dort spielt sich unser Leben ab. Es gibt das Hawkeye und das JD’s, wo man essen und trinken kann.« Mrs. Iversson nickte, als wären es lohnenswerte Ziele. »Und wir haben ein Kino. Es ist klein und hat ’nen schlechten Sound, aber es ist ’ne nette Abwechslung …«

Brady hob die Hand und schnippte mit den Fingern. »Hab da mal ’ne Frage, Ma’am!«

Schwester O’Hara nickte, bedachte ihn aber mit einem warnenden Blick. »Nur zu, Brady.«

»Okay … was läuft’n für’n Programm?«

»Wir werden nicht lange genug hier sein, um das herauszufinden«, stellte Schwester O’Hara mit wissendem Unterton fest.

Mrs. Iversson lächelte verschmitzt. »Heute ist Nachtvorstellung. Star Wars!«

Brady stieß Jamie an und grinste. »Bingo!«

Cherryl setzte ihr Unschuldslächeln auf und hob die Hand. »Schwester O’Hara?«

»Ja, Kindchen?«

Cherryl seufzte bedrückt. »Das ist doch sozusagen unsere Abschlussfahrt, nicht wahr?«

»So kann man es sagen, ja.«

»Wäre es da nicht nett, wenn Sie uns, na ja … mehr Freiraum gönnen würden? Ich meine, wir sind alt genug, um zu wissen, was …«

Schwester O’Hara hob die Hand und unterbrach sie in ihrem Redefluss. »Brauchst nicht weiterzureden, Cherryl, ich habe verstanden.« Ihr strenger Blick streifte über die erwartungsvollen Gesichter. Und es war tatsächlich ein Zwinkern, mit dem sie ihren nächsten Satz ankündigte. »Dann will ich mal Gnade vor Recht walten lassen und gewähre euch Ausgang bis elf Uhr.«

Brady sprang in die Luft. »Yeah, wie geil ist das denn?«

Cherryl stieß Hope in die Rippen. »Höre und lerne von der Meisterin, Baby!«

Lissy kicherte albern und Jamie grinste wie ein Honigkuchenpferd. Die anderen stießen einander an und lachten.

Hope war darüber erleichtert, weniger Zeit in dem unheimlichen Haus verbringen zu müssen.

Taschen hochbringen, frisch machen und sehen, was geht …

Beunruhigend war allerdings der Blick, den Schwester O’Hara mit Mrs. Iversson wechselte. Die beiden Frauen schien etwas zu verbinden, eine Bekanntschaft vielleicht, obgleich dies recht unwahrscheinlich war. Dann war der Moment vorbei und Hope schlüpfte hinter den anderen Mädchen in die muffige Düsternis jenseits der Fliegentür. Sie tauchte in etwas Weiches ein, das sie vollends in sich aufnahm. Das White House Inn atmete sie ein.



McCall’s Prairie Market and Store

Vivian stand auf dem Gehweg vor dem McCall’s Prairie Market and Store und genoss die laue Luft der Nacht. Grillen zirpten in den Büschen und irgendwo bellte ein Hund. Nicht mehr lange, und der Mond würde über die Dächer der Häuser kriechen und alles in sein kaltes, silbernes Licht tauchen. Bis dahin musste das Licht der Straßenlaternen reichen, um zu sehen, was abging. Das Geplapper vieler Stimmen hatte sie nach draußen gelockt. Der Bus, der seit Tagen das Thema Nummer eins war, hatte Purgatory endlich erreicht. Er parkte vor dem White House Inn und spie einen Schwall Teenager auf den Platz vor dem viktorianischen Haus. Die Iversson stand neben einer Nonne und unterhielt sich mit ihr in dieser unangenehm ausladenden Art, die Vivian nicht mochte. Die Ordensfrau wirkte hingegen ruhiger, schien die Aufsichtsperson der Jugendlichen zu sein.

Die Iversson … ’ne unberechenbare Irre …

Auf eine gewisse Weise tat Vivian die Ausflugsgruppe leid. Im White House Inn ging es nicht mit rechten Dingen zu. Die alte Ruth behauptete, dass in der Kirche der Geist eines Dämons hauste, der Gutes ins Böse kehrte. Im White House Inn schlug jedoch sein Herz. Darunter, vom schwarzen Grund verborgen, wucherten armdicken Strängen gleich die pulsierenden Adern, die alles verbanden. Durch die das Böse in jedes verdammte Haus fließen konnte. Vivian schüttelte über solchen Schwachsinn nur den Kopf. Das White House war eine Absteige, in die sich nur selten Reisende verirrten, aber es war mit Sicherheit kein Horrorhaus. Wer durch Purgatory fuhr, biss lieber die Zähne zusammen und sah zu, dass er Sioux Falls oder in der anderen Richtung Sioux City erreichte, anstatt hier anzuhalten. Dennoch prahlte die Iversson damit, dass in ihrer Honeymoon Suite, die nach vorne raus auf den Balkon ging, viele Kinder gezeugt worden seien. Vivian stieß die Prahlerei ab. Sie hatte mit ihrem Dad darüber geredet, doch der lachte nur wissend und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Gib nicht viel auf das Geschwätz der Iversson, die hat nicht mehr alle Tassen im Schrank«, hatte er gesagt. Damit war die Sache für ihn abgetan. Ganz geglaubt hatte sie ihm nicht, denn die Iversson hatte ihre Finger viel zu tief in den Machenschaften Purgatorys drin und war zudem eng mit den Carlins befreundet, die wie die McCalls eine der alten, einflussreichen Familien bildeten.

Ich werde das Quäntchen Wahrheit unter all dem Dreck finden – und wenn ich bis ans andere Ende der Welt graben muss!

Sie beobachtete, wie die Jugendlichen ihre Rucksäcke und Taschen aus dem Bauch des Busses zogen und über die Veranda das Haus betraten.

Wärt besser weitergefahren … Das hier ist kein Platz für euch. Ihr werdet begreifen, was ich meine, wenn es Nacht wird in Purgatory.

Einer der Jungs schien ein Außenseiter zu sein. Er verschwand mit dem dicken Busfahrer hinter dem gelben Fahrzeug und schob kurz darauf ein Motorrad auf die Straße. Keine amerikanische Maschine, eher klein und altmodisch. Die Iversson trat an ihn heran. Sie redeten eine Weile, schließlich streckte sie ihren Arm in Vivians Richtung aus.

Zeigt ihm wohl den Weg zur Tankstelle der Carlin-Brüder, dachte Vivian und schnaufte schwer. Die lag ein Stück weiter die Straße runter, gleich neben der Kirche. Während der Laden den Anfang des Zentrums bildete, symbolisierte die Tankstelle das Ende. Dort, wo man besser nicht hinging.

Vivians Muttermal juckte. Das tat es immer, wenn sie nervös war. Wie ein Fremdkörper hockte es auf ihrem Nacken, war groß, schwarz und hässlich.

Abgestempelt von einem bösen Geist …

Wenn man sie darauf ansprach, nannte Vivian es ihr Sklavenzeichen. Es hatte die Form einer Acht und war wulstig wie eine Narbe. Darunter prangte ein Kleeblatt aus schwarzen Knollen, die ein Kreuz ergaben und aussahen wie die Arbeit eines stümperhaften Tätowierers.

Es wäre leicht, die Tasche zu packen und sich im Bus zu verstecken, wenn er morgen abfährt … aber ich befürchte, dass seine nächste Fahrt die auf Carlins Schrottplatz sein wird, wo das Unkraut sein ausgeschlachtetes Gerippe überwuchert.

Vivian wusste, dass der Bus am nächsten Tag nicht abfahren würde. Und am Tag darauf auch nicht. Nicht dorthin, wo sie hinwollten, sondern hinter die Werkstatt auf das weitläufige Gelände der Carlins, wo sich unter dem Gestrüpp ein kleiner, mit Efeu überwucherter Autofriedhof versteckte.

Ein Truck kam die Straße herauf, fuhr in die Tankstelle und parkte neben dem kastenförmigen Gebäude. Es war der von Buck Carlin. Sie kniff die Augen zusammen und konnte Conor sehen, wie er auf der Beifahrerseite ausstieg, sich zwischen die Beine griff, um sein Gemächt in eine angenehmere Position zu ziehen, und im Gebäude verschwand. Auf der Fahrerseite stieg Buck aus, blickte die Straße zu dem Bus herunter, schien sie im Licht der Straßenlaternen zu entdecken und nickte knapp, wie es eben seine Art war. Vivian tat es ihm gleich. Sie mochte die Carlins nicht.

Allesamt degenerierte Hinterwäldler …

Buck war der Einzige, mit dem man wenigstens halbwegs vernünftig reden konnte. Aber die anderen – Gott bewahre! Conor stellte ihr schon länger nach und sie hatte Mühe, seine aufdringlichen Annäherungsversuche abzuwehren. Es würde der Tag kommen, an dem sie es nicht mehr konnte, und er würde sich holen, wonach er verlangte. Und Jet, nun, da war diese Sache vor einem Jahr mit dem kleinen Jungen, der bei Mrs. Iversson zu Gast gewesen war. Jet hatte große, starke Hände und die Motorik eines Schaufelbaggers. Der Zwischenfall hatte den Bezirkssheriff auf den Plan gerufen, doch der Prediger konnte alles regeln und Jet kam mit einer Verwarnung davon. Vivian hatte erfolgreich verdrängt, was aus dem Jungen und seinen Eltern geworden war.

Buck lief zur Kirche, betrat sie durch den der Tankstelle zugewandten Seiteneingang und verschwand aus Vivians Sichtfeld. Sie rieb sich fröstelnd die Arme, obgleich es selbst nach Einbruch der Nacht drückend heiß war.

Jetzt steckt er dem Prediger, dass der Bus angekommen ist.

Sie lachte bitter.

Als wenn er das nicht längst wüsste!

Der Prediger hatte das alles von langer Hand geplant. Selbst der Tag der Ankunft des Busses stand bereits Wochen zuvor fest. Das wusste sie, weil sie ein Gespräch zwischen ihrem Dad und dem Prediger im Laden belauscht hatte. Er hatte davon gesprochen, dass die große Suche endlich ein Ende nehmen würde. Die Männer hatten gelacht und eine Menge Whiskey getrunken.

Vivian erschrak, als sie ein leises »Hey!« von der anderen Straßenseite hörte. Es war der Junge, der sein Motorrad zur Werkstatt schob. Sie blickte unsicher auf, verschränkte die Arme, nickte scheu. »’n Abend!«

Der Junge blieb stehen, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sein Shirt war verschwitzt und sah nach einer langen Reise auf den staubigen Straßen Iowas aus. Aber anders als die Hinterwäldler, die sie kannte, wirkte er deswegen nicht weniger anziehend. Verschmitzt lächelte er sie an. »Sorry, wenn ich dich erschreckt habe.« Er nickte in Richtung der von Neonlampen beleuchteten Tankstelle. »Ist das dort vorne Carlin’s Werkstatt?«

Vivian sah zu dem Bau mit den Zapfsäulen und wunderte sich über die Frage, denn das Schild darüber war selbst bei Dunkelheit nicht zu übersehen.

Könnte ihn einfach woanders hinschicken, weg aus der Stadt. Schließlich gehört er nicht zu denen aus dem Bus, hat nichts mit den Machenschaften hier zu tun.

Sie wusste nicht, warum, aber es kamen ihr die Worte des Predigers vom letzten Sonntag in den Sinn.

Gott hat uns den schwarzen Boden geschenkt, mit dem Blut derer von außerhalb fruchtbar gemacht, auf dass wir eine reiche Ernte einfahren, Jahr für Jahr.

Das waren seine Worte gewesen. Er hatte sie damit zutiefst verunsichert.

Das Blut derer von außerhalb …

Vivian sah den harten Mann mit dem wettergegerbten Gesicht direkt vor sich, wie er mit seinen kalten, grauen Augen auf sie herabstarrte.

Was der eine als Gott bezeichnet, ist des anderen Teufel …

Sie hatte nicht verstanden, was er damit meinte. Nur die Alten hatten wissend genickt und gemurmelt, dass die Auserwählten in die Stadt kommen würden und die Suche bald ein Ende hätte.

Immer wieder diese Suche …

Das Quäntchen Wahrheit …

Ich sollte Ruth in ihrer Hütte besuchen. Sie wird es wissen … Sie weiß einfach alles …

Vivian wusste in diesem Moment nur, dass es mit dem Bus zu tun hatte. Dass es die eine große Sache war, um die sich in Purgatory alles drehte.

Vivian räusperte sich verlegen. »Sorry. Das sind die Carlins, ja. Conor sollte in der Werkstatt sein, ist eben heimgekommen«, beantwortete sie seine Frage.

 

Der Junge nickte. »Uff, prima. Hoffe, die können den Fehler finden. Das Bike bei der Hitze zu schieben, macht echt keinen Spaß.« Er blickte die Straße zurück zum Bus. »Die haben mich auf der Interstate aufgelesen. Hatte bereits befürchtet, dass ich im Freien übernachten muss – und glaub mir, ich bin verdammt froh, dass es nicht so ist.«

»Ist echt nicht ratsam, in den Maisfeldern zu pennen«, gab Vivian zurück, sah mit einem schnellen Blick zur Ladentür. Drinnen war alles ruhig. Ihr Vater war im Kühlhaus beschäftigt und ihre Mutter tat das, was sie eben so tat. »Da gibt’s ’ne Menge schräger Geschichten drüber …«

Sie beschloss, sich dem Jungen vorzustellen. So konnte sie mehr über den Bus und der offensichtlich wertvollen Fracht herausfinden. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und überquerte die Straße, bis sie vor dem Motorrad stand. Mit einem gezwungenen Lächeln streckte sie ihm die Hand entgegen. »Ich heiße übrigens Vivian.«

Der Junge wischte sich die Hand an seiner Jeans ab und reichte sie ihr. »Jason … Jason Bullock.« Sein Händedruck war angenehm fest. Nicht gierig und grob wie Conors oder schwammig wie der seines Bruders Jet, der sie an weiche Butter denken ließ. Sie dachte an Buck und dass der niemandem die Hand gab.

Komischer Kauz. Wie unterschiedlich Geschwister doch sein können …

Oder auch nicht …

»Und du wohnst die Nacht über im White House?« Kaum ausgesprochen, kam Vivian ihre Frage unangebracht vor. Sie stöhnte entschuldigend auf. »Sorry, das war jetzt aufdringlich.«

Jason sah erneut zurück und zuckte mit den Schultern. »Ist ja kein Geheimnis. Mrs. Iversson war so nett, mir ein Zimmer anzubieten. Aber was ist mit dir? Arbeitest du in dem Laden?«

Vivian war nicht besonders gut in dieser Art von Gesprächen. Die Konversation in Purgatory beschränkte sich normalerweise auf das Wetter, den Mais, die Schweinezucht und Fleischproduktion. Auch dabei fasste man sich kurz. Mit Fremden redete sie selten. Über was auch? »Gehört meinen Eltern … und ja, da steh ich hinter der Theke.«

»Habt ihr Bier?«, wollte Jason mit einem verschmitzten Lächeln wissen.

Vivian nickte. »Klar.«

Jason deutete zum Hawkeye, dass zwischen dem Laden und der Werkstatt auf der linken Straßenseite lag. Aus einem bestimmten Grund schien er sich nicht von ihr lösen zu können. »Und dort bekomme ich auch was zu essen?«

»Besser, du holst dir ’n Sandwich bei uns.« Sie rang sich zu einem Lächeln durch. »Dir würd’s als Fremder im Hawkeye nicht gefallen … sag ich jetzt mal so.«

Außer du willst im Hinterzimmer enden …

Jason sah sie einen Augenblick nachdenklich an, nickte schließlich. »Okay, wenn du das sagst, schau ich später bei dir vorbei.«

»Was ist das überhaupt für ein Bus?«, kam Vivian auf den eigentlichen Grund des Gesprächs zurück. »Schulausflug?«

»Hm, soweit ich weiß, sind die von ’nem Waisenhaus und auf dem Weg nach South Dakota … Sommercamp oder so was in der Art …«

»South Dakota liegt aber in der anderen Richtung«, sinnierte Vivian und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen.

Jason hob desinteressiert die breiten Schultern. »Glaub, die sind über Sioux City gefahren, da ist es nur ein kleiner Abstecher hierher. Wen juckt’s?«

Vivian war über Jasons Verhalten verwundert. Der sogenannte Abstecher verlängerte die Fahrt um viele Stunden. Sie fing an, über Dinge nachzudenken, über die sie besser nicht nachdenken sollte. Und dennoch …

Ich weiß, dass es kein Zufall ist, dass die hier gelandet sind.

»Und wo, sagtest du, wolltest du hin, Jason?«

»Ich sagte noch gar nichts«, antwortete der Motorradfahrer und lachte. »Wer weiß, womöglich genau hierher …«

Vivian sah scheu zum Laden und zuckte zusammen, weil sich im Obergeschoss ein Vorhang bewegte.

Verdammt, Mum …

Vivian stellte sich vor, wie sie sich zum Fenster geschleppt hatte. Laufen konnte sie längst nicht mehr. Jedenfalls nicht wie ein normaler Mensch. Aber was war schon normal in Purgatory? Nicht auszudenken, wenn sie das Gespräch beobachtet hatte. »Ich geh besser rein … werd nicht fürs Schwätzen auf der Straße bezahlt.« Sie drehte sich um, lief los, doch Jason ergriff ihren Arm.

»Weil im Moment viel los ist …« Überrascht von seinem Übergriff, zog er die Hand zurück. »Sorry, ich wollte das nicht …« Er lächelte sie verlegen an. »Es ist nur, wie soll ich’s sagen … Würd mir wünschen, später mit dir im Laden weiterzureden.«

Vivians Hand berührte kurz die seine. »Mach, das du aus der Stadt verschwindest«, stieß sie leise, aber nachdrücklich hervor. »Halt dich von den Einheimischen fern, von denen im Bus … und … vor allem … von mir!« Vivian ließ ihn stehen, überquerte die Straße und ging zur Ladentür. Dort sah sie über die Schulter zurück. »Viel Glück mit dem Motorrad, Jason!«

»War nett, mit dir zu plaudern, Vivian«, rief er ihr verwirrt hinterher, aber da hatte sie bereits die Ladentür erreicht und schlüpfte ins sichere Innere.

Hätte besser ihm Glück wünschen sollen anstatt dem Motorrad … denn du hast das bitternötig …

Vivian sah auf die Uhr. Sie hoffte, dass er ihren Rat befolgen und verschwinden würde. Er war nett und süß, aber ein Fremder. Es war besser, ihn zu vergessen, denn die von außerhalb waren nicht von langer Dauer.

Sie versuchte, auf angenehmere Gedanken zu kommen. Zum Beispiel auf ihren bevorstehenden Feierabend. In einer Stunde würde sie endlich den Laden schließen, nach oben in ihr Zimmer gehen und sich dem Brief von Mary-Ann widmen. Sie würde die Shirts anprobieren, Musik hören und dieses verdammte Kaff für einen Moment vergessen. Einfach Mädchen sein. Das hörte sich nach einem ziemlich guten Plan an.

»Viviaaaaan!« Das Gekreische ihrer Mutter machte all ihre Pläne zunichte. Es dröhnte durch das Haus, das Vivian für einen Moment dachte, die Hölle hätte sich geöffnet.

»Ich hab zu arbeiten!«, blaffte sie nach oben, wusste aber, dass sich eine Martha McCall nicht damit zufriedengeben würde.

»Viviaaaaan!«

Vivian traten Tränen in die Augen. Ihr Magen krampfte, weil es ihr aufs Äußerste widerstrebte, nach oben zu steigen und das Zimmer ihrer Mutter zu betreten. Mit unsicheren Schritten ging sie zur Ladentür, um das Schild auf »Geschlossen« zu drehen. Auch wenn sie Angst hatte, sie musste es tun. Es gab keine andere Möglichkeit. Sie musste es tun.

Vivian ließ sich mit dem Hinaufsteigen Zeit, die sie nutzte, um sich auf den Anblick vorzubereiten, der sie dort oben erwartete. Ihre Mutter war ein Beispiel dafür, was es bedeutete, den Zorn des Predigers auf sich zu ziehen.

Alles dreht sich in Purgatory um diesen Mann. Selbst die Uhren richten sich nach ihm. Er ist der Geist …

Mein Gott, ich denke wie Dad …

Ich sollte besser überhaupt nichts denken …

Ich muss funktionieren …

Aber ich will’s nicht!

Ihre Mutter bewohnte das Zimmer am Ende des Flurs, das sie nur in besonderen Ausnahmefällen verließ. Vivian fragte sich, warum sie es ausgerechnet heute getan hatte.

Sie weiß von dem Bus und wollte es mit eigenen Augen sehen …

Sie weiß es, weil sie mit dem Prediger verbunden ist …

Je näher sie der Tür kam, desto intensiver roch sie den beißenden Gestank, der aus dem Raum dahinter strömte. Dad versorgte sie, wie er dazu in der Lage war. Er hielt sie sauber, wusch ihren Körper, salbte ihre wunde Haut. Anfangs aus Liebe, doch inzwischen tat er es nur, weil er sich ihr gegenüber verpflichtet fühlte.

Diesem Monster? Dass ich nicht lache! Wohl eher dem Prediger …

Sie achtete darauf, nicht auf die Schleimspur zu treten, die kurz vor der Tür begann, wo sie in dem Raum dahinter am Fenster die Bewegung gesehen hatte. Sie führte bis zu dem Zimmer ihrer Mutter. Ein Geschmier aus schlechtem Blut und eitrigem Ausfluss. Das Zeug lief ihr aus den Löchern, vor allem aber aus denen zwischen ihren Beinen. Vivian stöhnte auf. Es würde Stunden dauern, das klebrige Zeug von den Holzdielen des Flurs zu putzen. Sie verabschiedete sich von den Gedanken, sich ihrem Paket widmen zu können.

Niemand kann von mir verlangen, dass ich diese … Kreatur … liebe …

»Viviaaaaan!«

So nah an der Tür hörte es sich bedrohlich an. Dumpf und hohl klang ihre Stimme, durchsetzt von grenzenlosem Hass. Aber wenigstens schien sie sich nicht direkt hinter der Tür aufzuhalten.