Mudlake - Willkommen in der Hölle

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Bushwhackers Raid

27. September – Centralia

»Alles bereit?«

Cole Younger nickte William T. Anderson zu. »Der Bahnhofsvorsteher hat sich in die Hose geschissen, als er meinen Revolver gesehen hat. Is’ ihm braun aus den Hosenbeinen gelaufen, auf die Bodenbretter getropft. Aber er wird den Zug anhalten, so, wie er es immer tut.«

Auf der gegenüberliegenden Gleisseite der Bahnstation von Centralia lauerte Quantrill mit seinen Männern im Schatten des Mietstalls. Der Überfall auf Lawrence lag über ein Jahr zurück und vieles hatte sich verändert. Anderson folgte seinem Weg durch die Hölle, genau wie Quantrill es vorausgesagt hatte. Nachdem die Bushwhackers die zweihundertzwanzig braven Bürger von Lawrence im Namen des Krieges massakriert, verstümmelt, vergewaltigt und skalpiert hatten, meldeten sich in Andersons Kopf Stimmen zu Wort. Stimmen, die aus dem tiefsten Schlund der Hölle wisperten, dass er weitermachen sollte. Nein, dass er es musste, weil es kein Zurück mehr gab, denn dies war der nur der Anfang. Der Tropfen auf den Stein, der stetig fallen musste, um ihn auszuhöhlen. Die Stimmen forderten mehr: mehr Blut, mehr Qual, mehr Opfer. Es entstand ein Sog, der gefüttert werden wollte.

Und Anderson war bereit zu liefern. Der Krieg war ihm stets ein verlässlicher Acker gewesen, Säbel und Pistolen die passenden Werkzeuge, um ihn zu bestellen. Der Süden brachte das Argument, das er brauchte, um seine Gräueltaten zu rechtfertigen. Die Legitimation. Anderson führte inzwischen seine eigenen Reiter, die Missouri Partisan Rangers, ein wilder Haufen bärtiger, zu allem entschlossener Männer, deren Augen tief in den ausgezehrten Gesichtern lagen und leuchteten wie Mondsteine. Endlich befand er sich mit Quantrill auf Augenhöhe, obwohl dessen Rang deutlich über seinem lag. Es hatte deswegen keinen Streit zwischen den beiden Männern gegeben. Vielmehr war die Intention seines Vorgesetzten eine andere und sie kamen sich nicht mit ihren Interessen in die Quere. Während für Quantrill der Sieg der Südstaaten das höchste Ziel überhaupt zu sein schien, um nach dem Krieg in die Politik zu gehen, folgte Anderson seinen eigenen, düsteren Pfaden, die die unheimlichen Stimmen ihm diktierten.

Seine Spur zog sich wie ein mit Blut gefüllter Fluss durch Kansas und Missouri, hinterließ ausgebrannte Städte und verstümmelte Körper an seinen Ufern. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn Bloody Bill Anderson. Bald galt es als schlechtes Omen, seinen Namen laut auszusprechen. Als würde man damit einen Dämon aus dem siebten Kreis der Hölle heraufbeschwören, der nach Blut und Fleisch gierte.

»Heute werden wir ein Exempel statuieren, das in die Geschichte eingehen wird«, raunte Anderson seinem Freund Cole Younger zu. »Der Zug der Northern Railroad wird nie in Macon ankommen. Niemand, der sich in dem Zug befindet, wird Macon erreichen.«

»Mir soll’s recht sein, solange genügend Yankees dabei draufgehen«, knurrte Cole und spuckte einen dicken Klumpen Kautabak in den Dreck. »Allein der Name, Northern Railroad, da könnt ich glatt kotzen …«

»Draufgehen? Zur Hölle, wir werden sie nicht nur töten, wir werden sie auseinandernehmen, bis …«

»Halt’s Maul, Frank!«, zischte Bloody Bill den Mann neben Cole Younger an. Wie sie alle trug der Reiter das Grau der Südstaaten und einen Schlapphut mit breiter Krempe. Wie bei den anderen hingen seine Perkussionsrevolver an einem Gürtel über dem Mantel, um sie jederzeit ohne viel Aufhebens ziehen zu können. Wie unter den Reitern üblich, trug er gleich mehrere der Waffen, denn im Gefecht blieb selten Zeit, diese nachzuladen. Leerschießen und wegwerfen war die Devise. Aufsammeln konnte man sie nach dem Gefecht immer noch.

»Der Zug kommt!«

Ich bin bei dir, raunte eine Stimme in Anderson Kopf. Bin es immer gewesen. In dir. Seit dem Anbeginn deiner Tage.

Nähre mich mit Blut und Seelen, und ich zeige dir deine wahre Bestimmung, die weit über die belanglosen Streitigkeiten der Menschen hinausgeht!

Anderson griff sich an die Schläfen, schwankte im Sattel und wäre womöglich sogar gestürzt, wenn Cole und Frank ihn nicht gestützt hätten. Er schlug ihre Hände weg, weil er sich die Schwäche nicht eingestehen wollte. Vor den Männern musste er stark und unerschütterlich wirken wie ein Fels. »Lasst die Finger von mir, verdammt!«

»Wohooo«, meinte Frank James und hob entschuldigend die Arme. »Spar dir deine Wut für die Yankees, Captain!«

Anderson warf ihm einen vor Hass funkelnden Blick zu. Es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, zwischen Freund und Feind zu unterschieden.

Verliere ich wegen all der Gräuel den Verstand?

Habe ich eine Krankheit im Kopf, einen Tumor, der auf mein Denken drückt?

Anderson schüttelte die Bedenken von sich wie ein nasser Köter den Dreck in seinem Fell. »Lassen wir die Hunde des Krieges auf sie los!«

Schwarz dampfend kündigte der stampfende Zug seine Ankunft an. Die lange Reihe von ratternden Wagen schob sich wie ein tausendfüßiges, schwarzes Insekt die Gleise entlang. Der Bahnhofsvorsteher stand wie vereinbart auf dem Bahnsteig und wedelte eifrig mit seiner roten Flagge, um dem Lokführer zu signalisieren, dass er in Centralia stoppen sollte. Kreischend schlossen sich die Bremsen des Zuges. Der Lokführer öffnete das Dampfventil, der Druck aus dem Dampfbehälter entwich mit einem Zischen. Siedend heißer, wolkiger Wasserdampf stieg auf.

Der Lokführer beugte sich aus dem Fenster und sprach mit dem Mann auf dem Bahnsteig, kaum dass die Lok zum Stehen gekommen war, was im Stampfen der Maschine allerdings unterging. Der ließ die Flagge fallen, drehte sich um, rutschte auf seinen eigenen Fäkalien aus, die sich wie ein brauner Pfad hinter ihm herzogen, und stolperte Richtung Bahnhofsgebäude davon. Der trockene Knall eines Schusses beendete seine Flucht bereits nach dem ersten Meter.

Das war Andersons Signal. Er stieß den johlenden Rebellenschrei aus und gab seinem Pferd die Sporen, das schmerzerfüllt aufschrie, nach vorne und die Böschung zum Bahnsteig hinab sprang.

Die Kriegsmaschine setzte sich in Pferdeschweiß und Pulverdampf gehüllt in Gang. Während Quantrills Männer den Lokführer und den Heizer beseitigten und jeden erschossen, der vom Zug auf den Bahnsteig sprang, nahm sich Andersons Einheit die Personenwagen von der Waldseite her vor. Sie traten die Türen ein, schossen blindlings auf jene, die in den Gängen standen, trampelten rücksichtslos über sie hinweg und trieben die panisch durcheinanderschreienden Fahrgäste durch den Zug und auf die Gleise. Dort erwartete sie bereits ein grinsender Bloody Bill Anderson, umgeben von seinen besten Schützen, die nur darauf warteten, ihre Pistolen, Säbel und Gewehre endlich einsetzen zu dürfen. Doch der ersehnte Befehl stand aus, hing in der Luft wie das Damoklesschwert am seidenen Faden.

Als Anderson sah, dass sich wie erwartet Unionssoldaten unter den Fahrgästen befanden, wandelte sich sein Grinsen zu einer hämischen Grimasse. »Trennt die Yankees vom Rest. Den anderen nehmt ab, was von Wert ist, danach macht mit ihnen, was ihr wollt!«

Der seidene Faden zwirbelte sich auf, wurde dünner. Cole Younger und Frank James übernahmen das Aussortieren der unbewaffneten Unionssoldaten. Sie trieben die teils verletzten Männer wie Vieh hinter den Zug und ließen sie sich in einer Reihe aufstellen. Da von allen Seiten Rebellen sie umgaben, blieb ihnen keine Möglichkeit zur Flucht, also hoben sie ihre Hände und ergaben sich zitternd ihrem Schicksal.

»Wo kommt ihr her, wo habt ihr gekämpft, hm?«, wollte Bloody Bill wissen. Er musste laut brüllen, um das Zischen und Stampfen der Lokomotive zu übertönen. Keiner der insgesamt dreiundzwanzig Unionssoldaten antwortete. Er ritt den ersten von ihnen, einen vollbärtigen Mann, dessen Arm in einer Verbandsschlinge steckte, kurzerhand nieder, ließ sein Pferd kreiseln und es auf seinem Oberkörper eine Parade tanzen.

Einer fasste Mut und trat, wohl in der Absicht, Schlimmeres zu vermeiden, beherzt vor. »Wir sind rechtschaffene Soldaten der Cumberland-Armee unter Generalmajor George Henry Thomas, kommen vom Atlanta-Feldzug. Die Männer fahren nach Hause zu ihren Familien, Sir, um einige Tage mit ihnen zu verbringen. Es ist nicht rechtens, sie davon abzuhalten.«

Cole hob seinen Revolver, um dem mutigen Mann eine Kugel zu verpassen. Anderson galoppierte ihm in die Schusslinie und zügelte sein Pferd dicht vor dem Gesicht des Mannes. »Glaubt ihr, ihr könnt dem Krieg einfach den Rücken kehren, hä? Glaubt ihr das ernsthaft? Dass es eine Art von Arbeit wäre, wie ein Feld zu bestellen oder ein Pferd zu beschlagen?«

»Ich weiß, wer Sie sind, Sir«, stotterte der Mann, trat von einem Bein aufs andere. Es war nicht zu übersehen, dass er Angst hatte. Trotzdem war er nach vorne getreten. Als Leutnant musste er vor seinen Männern und auch für sie geradestehen.

Bloody Bill Anderson sprang vor ihm aus dem Sattel und zog seinen langen, gebogenen Säbel. »Du tust gut daran, mich zu kennen, denn ich bin dein schlimmster Albtraum, Junge!« Die Spitze der Klinge verharrte vor dem rechten Auge des stocksteif dastehenden Mannes. »Wie ist dein Name?«, wollte Bloody Bill wissen.

»Joshua … Joshua Carr, Sir«, keuchte er in verkrampften Ton. »Aus New York, Sir.«

Bloody Bill grinste. »Bist du ein Held, Joshua Carr?«

 

Joshuas Kehlkopf bewegte sich hektisch auf und ab. »Nein, Sir. Nur ein … ich bin ein einfacher Lehrer. Im Frieden bringe ich Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen bei, damit aus ihnen was werden kann.«

»Ein Lehrer, sagst du? Und die hinter dir, diese zweiundzwanzig winselnden Bastarde, sind das deine gottverdammten Schüler?«

»Ich … nun ja … es sind meine Kameraden, Sir.«

Die Klingenspitze kam dem Auge näher. »Was nun, hä? Für was kämpft ihr denn eigentlich? Die Freiheit der Nigger? Das Kapital? Lincoln? Letztendlich England?« Speichel spritzte von Bloody Bills Lippen in Joshuas Gesicht, lief in zähen Fäden hinunter. Sein ungezügelter Hass auf den Norden saß unermesslich tief.

Eine Frau schrie gellend auf der von ihnen abgekehrten Seite des Zuges. Ein trockener Knall beendete ihr Geschrei. Weitere Schüsse, auf die noch mehr Schreie folgten. Quantrill hatte mit dem Aufräumen begonnen.

»Ich … zur Hölle, ich weiß es nicht, Sir!« Tränen rannen aus Joshuas Augen. Seine Knie fingen an zu zittern. Er sabberte, aber es gelang ihm dennoch, aufrecht zu stehen.

Anderson fühlte, wie sich scharfe Krallen in sein Gehirn bohrten, um es aufzuschlitzen, damit es hineingelangen konnte. Es entzog ihm die Kontrolle, war schwarz, finster und böse. Das Wort Hölle musste der Schlüssel gewesen sein, um den Wahnsinn zu entfesseln.

Ich bin da …

»Der Lehrer und seine zweiundzwanzig Schüler der Hölle, das gefällt mir«, raunte er mit deutlich dunklerer Stimme als zuvor, aber laut genug, dass jeder es hören konnte. »Dein Blut wird auf ewig mir gehören, Joshua Carr. Deins und das deiner Brut!«

»Sir, ich …«, flehte der weinende Mann und erwartete mit geschlossenen Augen den Tod.

Bloody Bill Anderson kannte kein Erbarmen. Er ließ den zitternden Mann stehen, ging zu einem rothaarigen, strubbelköpfigen Jungen von höchstens achtzehn Jahren. Er packte ihn am Schopf, zerrte ihn vor Joshua hin, wo er dem Jungen in die Kniekehlen trat, damit er vor ihm auf dem Boden hockte. »Öffne die Augen und sieh zu, Joshua Carr, denn das ist deine erste Lektion.«

Als Joshua seine tränenverschleierten Augen öffnete, hielt Anderson den Rotschopf fest an den Haaren gepackt, stemmte ihm einen Fuß in den Nacken und schnitt ihm mit einer geübten Bewegung von einem Ohr zum anderen quer über die Stirn. Der Junge schrie gellend auf, wehrte sich verzweifelt, doch Bloody Bill drückte ihn mit dem Stiefel in den Staub. Mit aller Kraft zog er den roten Schopf nach hinten. Sein Säbel vollzog seine schneidende Arbeit wie beim Häuten eines Tieres. Der Skalp löste sich vom Kopf des Jungen, dessen erstickte Schreie dumpf und in Wölkchen aus dem Staub klangen.

Joshua Carr sah schluchzend mit an, als Bloody Bill Anderson den Rothaarigen skalpierte, wie es die Indianer taten. Das war das herbeigesehnte Zeichen. Der seidene Faden riss endgültig entzwei, das Damoklesschwert sauste nieder. Andersons Männer sprangen aus den Sätteln und nahmen sich die blau berockten Schüler der Hölle vor, wie ihr Anführer es ihnen vorgemacht hatte. Manchen, die fliehen wollten, schossen sie in die Beine oder den Rücken, aber so, dass sie nicht daran starben. Denen, die ihre Fäuste hoben, schossen sie in Arme und Schultern. Was von der anderen Seite des Zuges unter Quantrills blutiger Arbeit schon schrecklich genug klang, steigerte sich unter den Säbeln und Messern der Bushwhackers zu einem rauschenden Inferno im blutroten Kleid.

Als Bloody Bill mit seinem Handwerk fertig war, ließ er von dem sich windend-wimmernden Jungen ab, ging zu Joshua und setzte ihm die blutige Haut wie eine Kappe auf den Kopf. »Willst du, dass ich das bei dir mache?«

Joshua wurde blass, würgte seine letzte Mahlzeit hervor und erbrach sich vor Andersons Stiefel. Das Blut des Jungen lief ihm aus der warmen Haut in den Nacken und übers Gesicht. »Ne-nein, Sir.«

Bloody Bill nickte zufrieden, griff dem ehemals rothaarigen, jetzt schopflosen Jungen am blutgetränkten Kragen und zog ihn in eine sitzende Position, damit er ihm Ohren, Nase und Lippen abschneiden konnte. Der Junge zitterte wie Espenlaub, spuckte blutigen Speichel, der in zähen Fäden von seinem Kinn tropfte.

Joshua weinte, während ihm Bloody Bill die fleischig-blutigen Brocken in Hemd- und Hosentaschen stopfte und auf diese klopfte, als hätte er ihm ein Geschenk von hohem Wert gemacht. Er war mit den Jungen jedoch noch längst nicht fertig, ging zu ihm zurück und zog ihn auf die Beine. Trotz der Misshandlungen gelang es dem Mann, wie ein Volltrunkener schwankend zu stehen.

Anderson Bushwhackers vollzogen an den Unionssoldaten ihr grausames Werk, das weit über Verstümmelung hinausging, während Quantrills Reiter Zug und Bahnhof anzündeten, um beides unbrauchbar zu machen. Es war ein Gemetzel ohnegleichen. Ein Fanal hemmungsloser Zerstörung, die Ausgeburt eines kranken, hasserfüllten Geistes.

Er zog einen Dolch, trat zu Joshua hin und warf ihm die Waffe vor die Füße. »Ich will, das du ihm die Kehle durchschneidest.« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zog er einen Remington Revolver und richtete ihn auf Joshuas Stirn. »Oder bitte mich darum, abzudrücken.«

Joshuas Augen wurden und der Blutkappe groß. »Sir, ich …«

»Du bist der göttliche Erlöser seiner Qualen. So musst du’s sehen und nicht anders.« Klackend rastete der Schlagbolzen ein.

Der Gedemütigte, der Joshua war, schnaufte durch die Nase ein, wohl um einer aufsteigenden Übelkeit Herr zu werden. Er sah erst Anderson ins Gesicht, dann in das verstümmelte des Jungen und bückte sich schließlich, um den Dolch aufzuheben.

»Gut so«, knurrte Anderson. Das sie umgebende Inferno wurde zur Nebensache, versank in einem Toben aus Nichtigkeit. »Tu, was ich sage, oder ich komme über dich wie der schlimmste aller Dämonen.« Sein mit der anderen Hand geführter Säbel schnitt quer über Joshuas Stirn, um unmissverständlich klarzustellen, dass er es ernst meinte. Joshuas Blut vermengte ich mit dem des Jungen, tauchte sein Gesicht in grelles, nasses Rot, machte es zur maskenhaften Fratze.

Joshua schloss die Augen und stieß zu. Direkt in die Brust des Jungen, der den Stoß willig in sich aufnahm, weil es für ihn in der Tat die Erlösung bedeutete. Gleichzeitig zischte Andersons Säbel durch die Luft und schlug ihm den Kopf ab.

»Sauf, du Hurensohn! Sauf das Blut deines Schülers!«, schrie er wie von Sinnen, während der enthauptete Körper gegen Joshua kippte und ihn aus dem Halsstumpf mit Blut übergoss.

Joshua brach wimmernd in die Knie und warf den Dolch weg, als hätte er sich an ihm verbrannt. Bloody Bill Anderson streichelte gedankenverloren den schmierigen Skalp auf Joshuas Kopf. »So werde ich meine zweiundzwanzig Schüler der Hölle nähren, jetzt wie in späteren Tagen …«



Die Hitze der Jugend

Vivian jauchzte vor Freude. Sie lief um die Ladentheke herum und dem Postboten entgegen, der sich mit dem größten Paket abmühte, das sie je bekommen hatte. Überhaupt war es das erste richtige Paket, das sie in ihren siebzehnjährigen Leben bekam.

Oh bitte, Herr, es muss für mich sein!

Mit einem Ruck riss sie die gläserne Ladentür auf, dass das kleine Glöckchen darüber wild bimmelte und fast durch den Laden flog. »Chuck, endlich!«, keuchte sie dem Postboten aufgeregt entgegen. »Ist das da für mich? Ist es? Ja?« Dabei deutete sie auf das Paket in seinen Händen, in das gut und gerne ein Globus gepasst hätte.

Chuck kam die dreißig Meilen von Sheldon einmal die Woche vorbei, brachte die Post und nahm neue mit. Das tat er bereits, solange sie sich erinnern konnte. Mit seinem dürren Körper und dem schmierigen, nach hinten gekämmten schütteren Haar war er wahrlich keine Augenweide. Für Vivian wirkte er heute jedoch wie ein Gott, der aus Sheldon, Iowa ins verschlafene Purgatory herabgestiegen war, um Heil zu bringen. Oder, wie heute, zumindest Pakete.

Postbote Chuck schob den Klumpen Kautabak von einer Wangentasche in die andere und nickte. »Yeah … is’ in der Tat für dich, Mädchen.« Verwundert besah er den Absender. »Kommt nicht oft vor, dass ich ’n Paket aus Übersee ausliefere … Hast ’n Freund in England, hä?«

»Brieffreundin«, beeilte sich Vivian, ihn zu verbessern, und hibbelte herum, weil er sich an dem Paket festklammerte. Es fiel ihm wohl schwer, sich davon zu trennen. »Komm schon, gib mir das Ding!«, bettelte sie.

Chuck drehte das Paket in den Händen, hob es an und roch an der verknautschten Pappe. »Hm.« Dann hielt er es sich ans Ohr und rüttelte daran. Der Inhalt klapperte. »Sach mal, was is’n das Weiteste, wo du von hier weg warst, Mädchen?«

Vivian verdrehte genervt die Augen. Sie wollte es unbedingt haben, die Pappe aufreißen, darin herumwühlen. Stattdessen stand sie vor dem Laden ihrer Eltern und musste einem Postboten dämliche Fragen beantworten. »Letztes Jahr, Sioux City, als Tante Betsy geheiratet hat. Du weißt schon, diesen Versicherungstypen, der die Farmen abgeklappert hat.« Vivian erinnerte sich nur ungern an den brütend heißen Tag zurück. Sie hatten mit Dads klapprigem Truck den ganzen Tag gebraucht, um sich in einer mit Girlanden dekorierten Turnhalle zu Tode zu langweilen und selbst gemachten Pfirsich-Eistee zu trinken. Hinterher hatte eine Woche lang ihr Magen rebelliert und sie hatte meiste Zeit kotzend über der Toilette verbracht, weil was mit dem Abendessen schiefgelaufen war. »Und du?«

Chuck lachte krächzend. Er hörte sich an wie eine alte Krähe, die Husten hatte. »Vietnam, Mädchen … das feuchte, heiße, verdammt dreckige Nam, wo man sich auf jedem Scheißhaus ’nen Tripper holt. Dein Dad kann ’n Lied von singen, sag ich dir …«

»Eine scheiß Oper aus Tod und Schmerz.« Vivian zuckte zusammen. Ihr Vater stand direkt hinter ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Trotz seiner Körpergröße konnte er sich lautlos bewegen. Ertappt drehte sie sich zu ihm um. »Dad … ich mag’s nicht, wenn du dich so anschleichst.«

Bob McCall wischte sich mit einem Lappen seine blutigen Hände ab. Er hatte hinten im Kühlhaus an den Fleischpaketen gearbeitet, die Chuck wie jeden Freitag mitnehmen würde. Bob konnte in der Tat ein Lied über Vietnam singen. Zehn Jahre hatte er im Dschungel verbracht. 1975 war der Krieg vorbei gewesen und er kehrte als anderer Mensch zurück. Er hatte sein Lachen wie auch sein Leben in Saigon verloren. Bob McCall hatte nie darüber gesprochen, was er dort erlebt hatte, und sich in seiner wortkargen Art in die Arbeit im Laden gestürzt, als wäre er nie weg gewesen.

Bob nickte dem Postboten zu. »Chuck …«

Der schob den Kautabak zurück in die andere Backe. »Bob …«

»Was hast’n da?« Bob zeigte auf das Paket.

»Ist für deine Tochter … von überm Teich … England.«

»England?«

»Jepp.«

Bob nahm Chuck das Paket aus der Hand und sah es unschlüssig an. Sein von der Arbeit blutiger Daumen hinterließ einen verwischten Abdruck auf der Pappe. Dann sah er zu Vivian. »Wie kommst’n an ein Paket aus England, Tochter?«

Die rollte genervt die Augen. »Ach, komm, Dad, weißt du nicht mehr? Die Brieffreundschaftsaktion vorletztes Jahr mit der Schule in London?«

»Und was is’n da drin?«, wollte er wissen. Seinem Gesicht nach zu urteilen, dachte er darüber nach, das Paket aufzureißen, um selbst nachzusehen.

»Du weißt, wie ich über die von außerhalb denke«, brummte er missmutig.

»Dad … bitte …«

»Wie wir alle über die von außerhalb denken!« Er sah den Postboten mit seinen stechenden Augen warnend an.

Chuck wich dem Blick des schweren Eins-neunzig-Mannes aus, sah zu Boden und hob die Hände. »Bin nur der Postbote, Sir. Liefere Pakete aus und nehm andere mit …« Er trat zum Lieferwagen zurück und tat beschäftigt. »Geht mich ansonsten nichts an, was hier geschieht.«

Bob nickte zufrieden und widmete sich seiner Tochter. »Was schreibst du über uns denn so, hm? Von dem Leben hier, der Weite des Landes … den Schweineställen? Sicher nicht von den Maisfeldern …«

Vivian knetete von Angst ergriffen ihre Finger. Ein falsches Wort, und sie würde es bitter bereuen. »Wir haben über Musik geschrieben, Dad … nichts weiter. Mädchensachen halt, nichts von hier, außer dass wir einen Laden haben …«

 

Die schallende Ohrfeige schmetterte ihren Kopf zur Seite. »Selbst das geht die dort draußen nichts an, hörst du?« Er knirschte mit den Zähnen und packte sie an ihrem schwarzen Shirt, sodass es in den Nähten knackte. »Lass dir das eine Warnung sein, Tochter! Ein falsches Wort in die falschen Ohren, und die dort oben fangen an, Fragen zu stellen!«

Er ließ sie los und drückte ihr das Paket gegen die Brust. »Du weißt, dass ich dich liebe. Nimm dein Paket und geh auf dein Zimmer. In zehn Minuten stehst du wieder hinter der Theke!«

Vivians Wange brannte wie Feuer. Sie strich sich ihr schwarzes Shirt glatt, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und lief durch den Laden und nach oben in ihr Zimmer. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schluchzte sie auf. Sie warf das Paket aufs Bett und setzte sich davor auf den Boden. »Die von außerhalb«, äffte sie ihren Vater nach und verzog das Gesicht. »Und wenn du mir mein Blondie-Shirt zerrissen hast, werde ich …«

Nichts werde ich … Er hat recht. Es geht die von außerhalb nichts an, wie die Leute hier ticken. Die würden das eh nicht verstehen.

Verstohlen zog sie den Schuhkarton unter dem Bett hervor und klappte ihn auf. Ihre Finger strichen behutsam über das zusammengerollte Bündel Dollarscheine. Die Zugfahrpläne von Sheldon nach Minneapolis von dort weiter nach New York kannte sie auswendig. »Ich werde von hier verschwinden.« Vivian hasste das Leben in dieser Einöde, in der man abgesehen von sich besaufen nichts unternehmen konnte. Sie sehnte sich dagegen nach Musik, nach jungen Leuten und einem Leben ohne Zwang. Sie zog ein zerfleddertes Magazin mit dem Titel PUNK aus dem Karton. »Eine von außerhalb werden.«

Vivian zog das Paket vom Bett und das Klappmesser aus der Gesäßtasche ihrer dunkelblauen Jeans, das sie bei sich trug, wenn sie im Laden arbeitete. Nervös zog sie sich den schwarzen Pferdeschwanz straff. »Mal sehen, was du mir Schönes geschickt hast, Mary-Ann.«

Sie setzte die Schnitte wie beim Auspacken der Ware, akribisch darauf bedacht, nicht zu tief zu schneiden. Andächtig klappte sie die Kartonage auseinander. »Hölle noch mal, ist das krass!« Der Inhalt verschlug ihr den Atem. Vivian zog die beiden T-Shirts, den Brief und die Musikkassette heraus und sprang aufs Bett. »Wow … einfach nur … wow!«

Vivian legte sich auf den Rücken und faltete das schwarze Ramones-Shirt auseinander. »YES! … der Baseballschläger-Adler!« Das andere Shirt war von Joy Division, einer Band, die sie nicht kannte. »Unknown Pleasures«, flüsterte sie ehrfürchtig und fand, dass es zu ihrer geplanten Flucht passte. Doch dazu fehlten ihr eine Menge Dollarnoten und die konnte sie nur unten im Laden verdienen. Das rief ihr die Zehnminuten-Frist ins Gedächtnis, die sie von ihrem Vater eingeräumt bekommen hatte.

»Fuck, der Laden!« Sie hatte die Frist überschritten. Vivian stopfte alles ins Paket, gab dem Schuhkarton einen Tritt, das er unter dem Bett verschwand, und lief in den Laden zurück. Sie passierte die Tür hinter der Theke und rannte direkt in ihren Vater hinein. Vivian keuchte. »Hab’s nicht vergessen, Dad.«

Sie rechnete mit einer weiteren Ohrfeige, doch Bob McCall lächelte zu ihr herab. »Ich weiß doch, bist ’n gutes Mädchen. Hilf mir mal mit den Kühlboxen, ja?«

Vivian atmete erleichtert auf. Der Inhalt der Kühlboxen war die Haupteinnahmequelle des Gemischtwarenladens ihrer Eltern. Der Eingang zum Kühlraum befand sich hinter der Fleischauslage, eine massive Stahltür mit zwei abgegriffenen Riegeln, die stets geschlossen sein musste, um die Kälte im Innern konstant zu halten.

Sie öffnete die Tür und schlüpfte in die angenehme Kälte des überraschend großen Raums. Mit dem Rücken schob sie die Tür zu und schloss für einen Moment die Augen, damit ihr erhitzter Körper abkühlen konnte. Es war jedes Mal ein kleiner Schock, die Kälte zu spüren. Gleichzeitig war es ein angenehm prickelndes Gefühl, wenn sich der Schweiß abkühlte und die kalte Luft in ihre Lunge strömte. Wenn sie danach in die Wärme zurückkehrte, fühlte sie sich wie ein Eis am Stil.

Vivian stieß sich ab und schlängelte sich zwischen dem von der Decke an Fleischerhaken hängenden Fleisch hindurch, um zur rückwärtigen Wand zu gelangen, wo Dad die Kühlboxen vorbereitete. Sie stieß mit der Schulter gegen eine der Hälften, die dadurch ins Schwingen geriet, eine andere anstieß und die wieder eine, bis schließlich alle schwankten und einen grotesken Tanz aus gehäuteten, fleischigen Torsi aufführten, dass Vivian kichern musste.

Bob McCall hatte das Metzgerhandwerk von seinem Vater erlernt. Er wusste, wo die Schnitte zu setzen waren, wie man die Häute abzog und die Knochen teilte. Auf seinem alten, von Narben überzogenen Arbeitstisch trennte er von dem Schlachtgut zuerst die Extremitäten ab, um sie auszubluten. Das Holz hatte deswegen im Laufe der Jahre eine dunkle, fast schwarze Farbe angenommen. Er zog ihnen die Haut ab und legte sie in einem speziellen Salz ein, das es nur in den Bergen South Dakotas gab. Das Pökelfleisch war einfach der Hammer.

Im nächsten Arbeitsschritt schnitt er die Köpfe ab, achtete aber darauf, dass der Hals am Torso verblieb. Die ließ er, wie sie waren, und steckte sie in gläserne Kästen, die Vivian an Aquarien erinnerten, weil er sie mit einer Art Sirup ausgoss. Wenn er Fleisch in den Kühlboxen verschickte, ging jedes Mal der dazugehörige Kopf mit auf die Reise, denn darauf legte die Kundschaft in der großen Stadt besonderen Wert.

Er brach den Körpertorso auf und nahm ihn aus, wie es ein Metzger machte. Hier wurde nichts in den Abfall geworfen. Selbst die Haut verarbeitete er zu Hundekauknochen. Für Großstädter mochte der Arbeitsbereich im Kühlhaus nicht hygienisch, die Beile, Hackklingen und Messer antiquiert wirken, doch McCall interessierte das nicht. Hier in Purgatory tickten die Uhren anders, auf Meinungen von außerhalb gab man einen feuchten Dreck.

Unabhängig davon, wie sehr sie das Leben in Purgatory hasste, arbeitete Vivian gerne im Laden ihrer Eltern. Sie half im Kühlhaus, gab dem Mastvieh in der Scheune hinter dem Haus Futter und hätte wahrscheinlich einen der Jungs aus dem Ort geheiratet, wenn da nicht diese Brieffreundschaft wäre. Mary-Ann schenkte ihr mit ihren ausschweifenden Briefen einen Blick über den Horizont hinaus, vermittelte ihr neues Wissen und verdammt coole Musik. Sie hatte in Vivians Kopf mit ihren Zeilen einen Keim gesetzt, der sie dazu trieb, mehr vom Leben zu erwarten als die langweilige, ländliche Einöde.

Heute waren es fünf Kühlboxen, die ihr Vater vorbereitet hatte. Sie lud die mit Eis und Fleisch gefüllten Boxen auf eine Sackkarre, rollte sie aus dem Kühlhaus und durch den Laden zu Chuck, der sie rauchend neben dem Postlieferwagen erwartete. »Verdammt, Mädchen, hast mich in der Hitze ganz schön warten lassen.« Er warf einen schrägen Blick auf die Boxen und öffnete die Hecktüren des Wagens. »Wer frisst nur diesen ganzen Mist?«

Das Geschäft mit dem Fleisch lief inoffiziell. Chuck sah Vivian dabei zu, wie sie die schweren Boxen verstaute, half ihr aber nicht. Lieber gaffte er Vivian auf den Hintern und versuchte, einen Blick in ihr vom Schweiß feuchtes Shirt zu erhaschen, wenn sie sich nach vorne beugte. Ihre Haut dampfte, weil sie kalt war.

»Mein Gott, Chuck, noch nie ’n weibliches Wesen gesehen?«, schnauzte sie ihn leicht säuerlich an und riss von der letzten Box einen Zettel ab, auf dem die Empfängeradresse vermerkt war.

Chuck schnaufte schwer, machte aber keine Anstalten, seinen Blick abzuwenden. »Sorry, Mädchen, is’ nur, dass du zu ’ner verdammt schönen Frau heranwächst.«

Es gab über die Lieferungen keinen Einlieferungsbescheid oder eine Aufsplittung in Warenpreis und Steuer. Die einzige Buchführung bestand aus einem abgegriffenen Heft, das Bob McCall in der Gesäßtasche trug, und dem Zettel mit dem Adressaten, der dem Postboten mit jeder Lieferung übergeben wurde.

Vivian funkelte ihn genervt an. »Geh dich erst mal waschen und besorg dir ’nen vernünftigen Haarschnitt, du stinkst zum Himmel, Mann. Jeder würd sonst meinen, dass du ’n Problem mit Wasser hast.« Chuck war ein Schwein, aber eins, das auf seine eigene Art liebenswert war. Der dürre Kerl tat keiner Fliege was zuleide. Einmal hatte er eine Katze angefahren. Die brachte er mit in den Laden und weinte wie ein Schoßhund. Bob brach dem armen Tier kurzerhand das Genick, um es von seinem Leiden zu erlösen. Ja, auf diese Weise machte man das in Purgatory.