Israel als Urgeheimnis Gottes?

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From the series: Bonner dogmatische Studien #59
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Die Debatte über die Gründe, Hintergründe und Abgründe dieser Entwicklung ist ufer- und bodenlos. Die wenigen Sätze, in denen ich die wichtigsten Etappen skizziert habe, sind nicht als Vereinfachung, sondern als Hinweis auf die dramatischen und vielfach verwobenen Bedingungen gedacht, unter denen Przywara dem Judentum begegnete. Nirgendwo wird deutlicher, dass es eine Welt der Brüche und Gegensätze gewesen ist.

In diese Periode fällt aber auch eine intensive Identitätssuche innerhalb des Judentums selber. Przywara begegnete nicht einem einheitlichen Judentum, sondern den Vertretern seiner Strömungen. In einem späten Aufsatz zeichnet Przywara die vielen Facetten des zeitgenössischen Judentums, mit dem er zeit seines Lebens in Berührung kam206. Es sind zuerst die famosen jüdischen Religionsphilosophen Herman Cohen, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Leo Baeck, deren Werke er las und mit deren Thesen er diskutierte. Vor allem Leo Baeck war Przywara auch freundschaftlich verbunden, wovon ihre respektvollen und warmherzigen Briefe zeugen207. Kontrapunktisch zu der Strömung eines tendenziell liberalen und humanistischen Judentums erwähnt er aber seine Begegnung mit Hans-Joachim Schoeps, der den Plan ersann, „gegenüber dem liberalen westlichen Judentum, wie Moses Mendelssohn es begründet hatte, ein objektiv heroisches Judentum zu stellen“208. Er hegte sogar den „noch kühneren Gedanken“, „das ‚Heroische‘, wie der Nazismus es als seine ‚innere Religion‘ propagierte, in einem neuen Judentum als echt Heroisches zu erwecken“209. Unmittelbar nach dem II. Weltkrieg machte er sich zum schillernden Anwalt des Monarchismus, der Preußischen Tradition und der jüdisch-preußischen Symbiose.

Dem gegenüber erwähnt er aber seine jahrelange Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Edith Stein, die einer bereits weitgehend säkularisierten Familie entstammte210 und dann ganz bewusst ihren Weg in die Katholische Kirche fand. Edith Stein steht in diesem Zusammenhang zuerst für die vielen säkularen Juden sowie auch für diejenigen, die, sei es aus tiefer Überzeugung, sei es um der vollkommenen Assimilierung willen, christlich wurden. Aber auch sie wird in das Gegensatzgefüge mit Simone Weil eingespannt. Ihre Schriften, mit denen er wenige Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges in Berührung kam, wertet Przywara als eine genuin jüdische, prophetische Stimme in der Nachkriegszeit. Allerdings entstammte Simone Weil einerseits einer säkularisierten jüdischen Familie, andererseits distanzierte sie sich, nicht zuletzt durch scharfe antisemitische Äußerungen, von allem Jüdischen211.

An dieser Stelle geht es nicht um eine historische Rekonstruktion von Przywaras Kontakten mit den besagten Personen und Werken, die, soweit relevant, im Laufe der Arbeit themenbezogen berücksichtigt werden. Vielmehr möchte ich hier für den Aspekt von Przywaras Wahrnehmung des Judentums sensibilisieren. So muss z.B. am Anfang dieser Arbeit eine der entscheidenden Fragen lauten: Inwieweit kann der intensive Kontakt zu Edith Stein als Begegnung mit dem Judentum gelten?212 Diese Problematik verdeutlicht sich an Przywaras Aufsatzsammlung Ringen der Gegenwart aus den 20er Jahren, in der Przywaras Auseinandersetzung mit jüdischer Religiosität und Denken Judentum und Christentum zu finden ist. Die Positionen der schon erwähnten Denker werden dort als für das ganze Judentum repräsentativ besprochen. Ganz unabhängig davon bedankt sich Przywara im Vorwort besonders bei zwei Personen, die ihm „durch mancherlei Anregungen und Aussetzungen zur Gestalt dieser Sammlung mitgeholfen haben“213, Edmund Husserl und Edith Stein. Beide sind jüdischer Abstammung. Man hat aber nicht den Eindruck, Przywara sah sie damals im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Judentum. Um noch ein Beispiel heranzuziehen: Przywaras Denken in Zeiten der „katholischen Wende“ und darüber hinaus vollzieht sich unter dem Einfluss der Phänomenologie, deren Vertreter und deren Positionen zitiert, positiv oder ablehnend besprochen werden. Erst in den 50er Jahren spricht Przywara im Hinblick auf drei Philosophen jüdischer Abstammung und christlichen Bekenntnisses – Georg Simmel, Edmund Husserl und Max Scheler – über die „drei großen vergessenen Juden“214 und interpretiert ihr phänomenologisches Denken vor diesem Hintergrund. Im Hinblick auf all diese Personen fällt auf, dass ihr Jüdischsein von Przywara erst spät thematisiert und als einer der symbolischen Momente der Begegnung mit dem „Mysterium Israel“ gedeutet wird, in denen das „wesentlich Sachliche, das durch sie hindurch-tönt“, der „jüdische […] Geist“215, zugänglich wird.

Das Wichtigste dazu kann man folgendermaßen formulieren: In Przywaras Welt sind Juden und Mitbürger jüdischer Abstammung bedeutsam, insofern es verschiedene Strömungen innerhalb des Judentums, säkulare Juden und solche, die einer christlichen Konfession beigetreten sind, gibt. Aber es gibt auch das Jüdische schlechthin, dem Przywara in zahlreichen Vorstellungen, Theorien oder Vorurteilen, die alle den Juden an sich oder das Jüdische auf den letzten Punkt bringen und im Ganzen der Wirklichkeit verorten wollen, begegnet. Das Spektrum reicht hier von biblischen, patristischen und weiteren theologischen und kirchlichen Äußerungen der Ära vor Nostra Aetate, über die Meinung der Aufklärung, die die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden förderte und gleichzeitig für die jüdische Religiosität nichts übrig hatte, bis zu politischen Kampfparolen und vulgären, rassistischen Beschimpfungen216. Nichts scheint an Przywara spurlos vorbeigegangen zu sein. In seinem Bemühen, das Mysterium Israel zu deuten, ist er ein Kind seiner Zeit und bleibt in ihr einerseits bedenklich verhaftet, um andererseits ganz neue Denkhorizonte zu erahnen und aufzuzeigen.

Stellt man sich aber die Frage nach dem spezifischen Blickwinkel, aus dem Przywara seine Welt und darin die Juden und das Jüdische betrachtete, so müssen wir noch einmal auf seine Äußerung über die Kindheit und Jugend in Kattowitz zurückkommen. Przywara wuchs in einem „urkatholische[m] Elternhaus“ auf, aber „in der freidenkerisch-liberalen Umwelt des damaligen Kattowitz von Handel und Industrie“. „Interkonfessioneller Kindergarten, Simultan-Mittelschule und das freimaurerisch-jüdische Gymnasium waren die Stätten“, an denen sein Katholizismus „sich früh seiner selbst bewußt ward“217. Zweifelsohne kam Przywara mit bestimmten Aspekten des spezifisch katholischen Antijudaismus und der katholischen Wahrnehmungsweise des jüdischen Einflusses auf die Gesellschaft in Berührung, die mit der generellen katholischen Haltung zu Fragen des politischen und kulturellen Lebens zusammenhingen. Hier und da sahen sich die Katholiken im Kulturkampf einem gemeinsamen Angriff des liberalen Protestantismus und Judentums ausgeliefert, was sich z.B. in einigen anti-jüdischen Stimmen in den katholischen Zeitschriften niederschlug218. Gelegentlich wurde auch die Benachteiligung der Katholiken im Kulturkampf mit der früheren Verfolgung der Juden verglichen219. Unmittelbare Begegnungen zwischen Juden und Katholiken waren rar. Im Rückblick auf die braunen Jahre schrieb der mit Przywara befreundete Reinhold Schneider: „Am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, daß das nicht geschah“220.

Um die Welt zu verstehen, in der der katholische Theologe und Religionsphilosoph Erich Przywara auf das Judentum und darüber hinaus auf das Mysterium Israels blickt, möchte ich die bewusst kontrovers formulierte These des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes zitieren. Es scheint mir umso angebrachter, als Taubes einer der wenigen, dazu noch jüdischen, Intellektuellen war, die für Przywaras Alterswerk Interesse zeigten, wofür seine Briefe zeugen, auf die ich in Przywaras Nachlass stieß. Diese Korrespondenz erfährt eine rätselhafte Wende. Der erste Brief Taubes‘ ist vom Interesse an Przywaras Werk, aber auch von spürbarem Schmerz geprägt. Przywara rede, so Taubes, über alle möglichen Erscheinungsformen des Dämonischen in der Welt, verschweige aber das Schicksal der Juden und die Verantwortung der Deutschen in diesen Jahren221. Przywaras Antwort auf diesen Brief ist ausweichend: „Natürlich werden Sie von Ihrem Standpunkt vieles nicht unterschreiben. Denn mir kam es darauf an, Faschismen und Bolschewismen ernst zu nehmen, trotz aller Bekämpfung“222. An dieser Stelle bricht die Korrespondenz ab. Ob einige Briefe verlorengegangen sind, oder ob eine persönliche Aussprache stattgefunden hat, konnte ich nicht ausfindig machen. Auf jeden Fall mutet der Brief, den Taubes einige Jahre später an den betagten Przywara schrieb, fast lobeshymnisch an. Es sei immens wichtig, dass Przywara sein Werk fortsetze223.

Soweit ich es sehen kann, findet der Name Przywara keinen Platz in Taubes‘ Schriften. Nun aber zu seiner These, die indirekt auf Przywara angewandt werden kann. In seinen letzten Vorträgen warnt Taubes vor den simplifizierenden Interpretationen des deutschen Geisteslebens im Kontext der Verwicklung in den Nationalsozialismus. Explizit fragt er, warum einige geniale Denker katholischer Provenienz, er bezieht sich vor allem auf Heidegger und Schmitt, der Faszination des Nazismus erlagen. Im Zuge der Antwort sagt er:

„Die deutsche Kultur der Weimarer Republik und der Wilhelminischen Zeit war protestantisch und ein wenig jüdisch gefärbt. Das ist ein factum brutum. Die Universitäten waren protestantisch. Ich mein‘, es gab katholische Reservate, da irgendwo in München so eine Gegenuniversität, und dann – was weiß ich: Bonn und so weiter, aber das zählte doch nicht, schon gar nicht in Exegese. Catholica non sunt legenda224.

 

Über die Intellektuellen katholischer Provenienz äußert sich Taubes:

„Sie sind auf dem Parkett der deutschen Universität nicht sicher und erobern sich einen Platz in einem Gestus der Zerstörung und Vernichtung des Vorangehenden, nämlich des protestantisch-jüdischen liberalen Konsensus […]. Das sind Menschen, die von einem Ressentiment geleitet sind, das ist das erste, die aber auch mit dem Genie des Ressentiments die Quellen neu lesen. […] Und da kam etwas ganz Phantastisches raus, ob richtig oder falsch, jedenfalls […] anders“225.

Ich möchte hier keineswegs diese These, über die sich wohl streiten lässt, direkt auf Przywara anwenden. Sie scheint mir aber irgendetwas von der Ambivalenz seines Denkens widerzugeben, die sich ja auch daran zeigt, dass Przywara, der in seinen späten Jahren über den Monarchisten Schoeps in höchsten Tönen sprach, das Interesse von „dessen Antipode in nahezu jeder Hinsicht“ 226, des Anarchisten Taubes, erweckte.

In Przywaras Werk lassen sich zwei Pole der denkerischen Auseinandersetzung mit dem christlich-jüdischen Verhältnis bestimmen. Zum einen ist es die religionsphilosophische Auseinandersetzung der jüdischen zeitgenössischen Autoren und Ansätze einer interreligiösen Debatte, deren wesentliche Momente auf die Mitte der 20er Jahre fallen, wenn auch mit dieser Periode nicht aufhören. Bestimmend hierfür sind die Denkfiguren der Polarität und der analogia entis. Zum anderen ist es die offenbarungs- und geschichtstheologische Sicht auf Israel, die ab den 30er Jahren immer bestimmender wird und zuerst seine Theologie ad intra prägt, um erst indirekt ad extra auf Israel zu zielen. Es ist aber bei jeder Etappe ein Denken, das dem Geheimnis der unerforschlichen Wege Gottes in Welt und Geschichte dienen will, das Paulus angesichts des Verhältnisses zwischen Juden und Heiden ausgesprochen hat.

„Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt. Und wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber infolge ihres Ungehorsams Erbarmen gefunden habt, so sind sie infolge des Erbarmens, das ihr gefunden habt, ungehorsam geworden, damit jetzt auch sie Erbarmen finden. Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen (Röm 11, 29–36)“.

1 G. WILHELMY, Vita, 5. Vgl. dazu G. HAEFFNER, Erich Przywara, 137f. Zur Erstorientierung in Przywaras Leben, Werk und Denken siehe darüber hinaus vor allem H.U. VON BALTHASAR, Erich Przywara, in: H.J. SCHULTZ (Hrsg.), Tendenzen; DERS., Erich Przywara, in: L. ZIMNY (Hrsg.), Erich Przywara; P. MOLTENI, Al di là degli estremi; TH.F. O’MEARA, Erich Przywara. Viele vertiefende Einsichten in Przywaras Werk habe ich dankenswerterweise folgenden Arbeiten entnommen: B. GERTZ, Glaubenswelt; DERS., Kreuz-Struktur; M. SCHNEIDER, „Unterscheidung der Geister“; bes. 26–78; A. SCHÜTZ, Die mehrdimensionale Theo-Logik; K.-H. WIESEMANN, Zerspringender Akkord, bes. 274–400; F. WULF, Christliches Denken; M. ZECHMEISTER, Gottes-Nacht.

2 Oberschlesien, in: IuG, 12. Die Werke von E. Przywara werden in dieser Arbeit ohne Autorenangabe zitiert. Die mit Abkürzungen angegebenen Werke werden nicht mit ebd. ersetzt. An dieser Stelle sei angemerkt, dass in allen Zitaten von Przywaras Werk die dort verwendete, manchmal eigenwillige und den allgemeinen Regeln zuwiderlaufende, Rechtschreibung genau wiedergegeben ist. Als anlässlich der geplanten Herausgabe seiner Gesammelten Werke Przywara gewisse Korrekturen, vor allem bei Groß- und Kleinschreibung, nahegelegt wurden, wies er sie entschieden ab, indem er H.U. von Balthasar sein „Sprach-Credo“ wissen ließ. Darin heißt es: „Auch und grad diese Schreibweise ist Bestandteil meiner Aussage und zwar einer fundamentalen und umfassenden. […] Hierin ist es mir absolut unmöglich [den Änderungsvorschlägen entgegen zu kommen], ich würde diesen Änderungen niemals mein Imprimatur als Autor geben können“ (Brief an H.U. von Balthasar vom 20. Juni 1962, zit. in: M. LOCHBRUNNER, Hans Urs von Balthasar, 91–93).

3 Oberschlesien, 11.

4 „Im Elternhaus herrschte jener spartanische Lebensstil, den ein Vorwärtskommen in damaliger Zeit forderte: Mutter und Sohn mußten im sich vergrößerenden Geschäft in der Hauptstraße der Stadt die Kassen führen; die Schularbeiten konnten nur in der Tabakabteilung des Kolonial- und Delikateßgeschäftes zwischen Verkauf und Abrechnungen bewältigt werden, wobei beste Schulnoten gleichwohl als selbstverständlich erwartet wurden. Gemeinsame Mahlzeiten gab es nur sonn- und feiertags, dann löste man einander ab in einer Zeit, die keinen Mittagsladenschluß, dagegen spätabendliche Öffnungszeiten kannte“ (G. WILHELMY, Vita, 8).

5 Was ich Kattowitz danke, 218.

6 Ebd., 217.

7 Oberschlesien, 14.

8 G. ALY, Warum die Deutschen?, 99. Siehe auch ebd., 211, wo es als für die „allgemeine deutsche Entwicklung typisch“ gesehen wird, dass diese „zwischen gewaltigen Kraftakten und krisenhaften Stillstand schwankte“.

9 Vgl. D. HABERLAND, Schlesien, 409.

10 Oberschlesien, 14.

11 Ebd., 15.

12 Ebd., 11.

13 Handschriftliche Notiz Verzeichnis der Vorträge 1920–1938.

14 Oberschleisen, 12.

15 Die religiöse Krisis, 47. Siehe auch Gottgeheimnis der Welt, 133.

16 Im apokalyptischen Chaos nach dem Ende des II. Weltkrieges sah Przywara in schlesischen Vertriebenen ein Sinnbild: „Das ‚Reich‘ ist von Westen und Osten her Flucht und Vertriebenheit geworden. Diese Realität unerbittlich darzustellen gegenüber allen Illusionen eines westlichen Rheinbund-Deutschland, – das ist der Sinn des Reichslandes Schlesien in ‚Flucht und Vertriebenheit‘“ (Oberschlesien, 16).

17 G. WILHELMY, Vita, 7.

18 Dazu siehe G. ALY, Warum die Deutschen?, 79–82. Z.B: „Vor 1945 lebten die Deutschen zwischen Kurischem Haff und Vogesen, zwischen Belt und Schelde, Böhmerwald und Salurner Klause und weit die Donau hinunter. Sie bildeten das größte Volk Europas. Genau in der Mitte gelegen, gingen über deutsches Territorium besonders viele Völkerverschiebungen, Kriege und Religionszerwürfnisse hinweg. Folglich wurden die Deutschen das am gründlichsten gemischte, in seinen Stämmen sehr verschiedenartige, an seinen Rändern am wenigsten klar definierte größere Volk Europas“ (ebd., 80f).

19 Zum 50. Geburtstag von Reinhold Schneider. „Als echter Oberschlesier des Industriebezirks habe ich lange Zeit geglaubt, meine Heimat nur als Hemmnis ansehen zu müssen, mit dem man ringt und so reift“ (Was ich Kattowitz danke, 217). Laut Przywara war die Kultur Oberschlesiens „zugleich unentwickelte polnische Kultur“ und „erstorbene deutsche Kultur“ (Oberschlesien, 12).

20 Wie weit verbreitet der Eindruck war, an der östlichen Grenze des Deutschen Reichs begegneten sich wirklich fremde Welten, kommt in einer lapidaren Notiz eines Breslauer Juden zum Ausdruck, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seinem Tagebuch folgendes über seine Reise von Kattowitz in das naheliegende, seinerzeit aber in Russland-Polen liegende Sosnowiec beschreibt: „Das ist an und für sich eine ganz kurze Reise, aber in Wirklichkeit eine Fahrt von Europa nach Asien“ (W. COHN, Verwehte Spuren, 80.

21 ANB, 37.

22 K.H. NEUFELD, Kategorien des Katholischen, 295.

23 G. WILHELMY, Vita, 34. G. Wilhelmy beruft sich auf ein „spätes Wort“ von Przywara, dass der „eigentliche Ursprung seiner geistigen Entfaltung“ ein religiöser, „ja, mystische[r] Ursprung“ war (ebd.). Dahingehend kann auch Przywaras Würdigung seines Novizenmeisters Johann Baptista Müller SJ verstanden werden. Przywara verdankte ihm „das Erkennen der geheimen Liebe zur Liturgie […], sowie die Strenge ihrer sorgfältigen Durchführung als Hofdienst seiner göttlichen Majestät“. Die zweite damals empfangene Lehre bestand in der Haltung der Werkzeuglichkeit und Bereitschaft zur Anonymität im Geist des ‚Non sum‘ des hl. Johannes des Täufers. Als Drittes prägte sich bei Przywara das Verständnis des priesterlichen Dienstes im Sinne des hl. Ignatius ein: Als Freund des göttlichen Bräutigams im Dienst „zur Hochzeit zwischen Gott und Welt hin“ sich restlos verausgaben, „unbekümmert um Erfolg oder Mißerfolg“ (ebd., 9f). Auch M. Schmid meint, es war „unschwer zu erkennen, daß das Noviziat Przywara vermutlich für sein Leben geprägt hat; die Weisung, der er folgte, war die Dienstgesinnung“ (M. SCHMID, Erich Przywara, 8).

24 CM, 202–214.

25 „Darum ist ignatianische Frömmigkeit auch Konvertiten fast unmöglich oder auch solchen Katholiken, die aus der Eiswüste eines modern atomisierten Individualismus in die warme Stube kirchlicher Gemeinschaft zurückfinden“ (Majestas Divina, 514).

26 Vgl. ebd., 512. Siehe dazu auch: M. ZECHMEISTER, Gottes-Nacht, 70f.

27 Oberschlesien, 15.

28 Die Idee des Jesuiten, 253.

29 H.-B. GERL-FALKOVITZ, Die Newman Rezeption, 441. Siehe auch DIES., Il ‘ver sacrum catholicum‘.

30 Katholizität, 40.

31 Die fünf Wenden, 118.

32 Der Ruf von heute, 96.

33 Die fünf Wenden, 117. Guardini wird 1933 über den Geist seiner aus der Mitte der damaligen Empfindung gesprochenen Worte folgendermaßen urteilen: „Der Ansatz ist zu einfach genommen; die ausgesprochene Hoffnung nicht tief genug in der Wirklichkeit begründet; das negative Moment nicht in der ganzen Bedeutung gesehen, die es hat“ (R. GUARDINI, Vom Sinn der Kirche, 16).

34 Die religiöse Krisis, 46.

35 Vgl. Ignatianisch, 15.

36 Pius X., 88.

37 Vgl. K. SCHATZ, „Stimmen der Zeit“. Siehe auch: DERS., Geschichte, 87–94.

38 K.H. NEUFELD, Kategorien des Katholischen, 299.

39 K. SCHATZ, „Stimmen der Zeit“, 147f.

40 Ebd., 150.

41 Ebd., 151.

42 Ebd., 155. Beim Zensor handelt sich um Johannes B. Rabeneck SJ. Von dieser Maßnahme waren neben Przywara auch sein Mitbruder und Redaktionskollege Peter Lippert SJ betroffen.

43 Ebd., 156.

44 Wege zu Newman, 31f.

45 B. GERTZ, Glaubenswelt, 129.

46 H, 875, Anm. 12. Auch wenn er sich in Nachhinein als gefährlicher Gegner des Nationalsozialismus bezeichnet, was auch der kollektiven Selbstwahrnehmung von „Stimmen der Zeit“ zu entsprechen scheint, wird man die Einschätzung von P.S. Peterson berücksichtigen müssen, die damaligen Machthaber sahen es nicht so und ließen die Zeitschrift bis 1941 erscheinen (vgl. P.S. PETERSON, Once again).

47 St. Ignatius, 24.

48 K. BARTH – E. THURNEYSEN, Briefwechsel, II, 652.

49 „Die zur Welt hin gesendete Kirche ist es der Welt schuldig, eine geistige Sprache zu finden, die von der Zeit grundsätzlich verstanden werden kann. Sie muß im Gespräch stehen mit dem Denken der Zeit, jeder Zeit. Kirchenväter und Hochscholastiker bleiben dafür das Vorbild; Meister für unsere Zeit waren Erich Przywara und Joseph Maréchal mit ihrer Kunst verstehender Deutung und Transposition“ (H.U. VON BALTHASAR, Zu seinem Werk, 36).

50 K. RAHNER, Laudatio, 270. H.U. von Balthasars zeichnet Przywaras Rolle für seine theologische Entwicklung in folgenden Worten: „ein unvergeßlicher Wegweiser; eine solche Verbindung von Tiefe und Fülle, ordnender Klarheit und all-umfassender Spannweite ist mir nie mehr begegnet“ (H.U. VON BALTHASAR, Zu seinem Werk, 76).

 

51 K. SCHATZ, Geschichte, 76.

52 H, 311.

53 Zu den wenigen Enthüllungen über sein persönliches Schicksal gehört die so verblüffend knappe wie schmerzliche Antwort, die der betagte Przywara „ohne Zögern“ auf die Frage gab, ob er auch einmal glücklich im Leben war: „Das Noviziat war die einzige glückliche Zeit meines Lebens“ (G. WILHELMY, Vita, 33). Die glückliche Welt der religiösen Ideale endete für Przywara mit einem schmerzlichen Ereignis, das den Abgrund des Gegensätzlichen in Przywaras persönlichen Leben aufriss und „ihn ein Menschenleben hindurch verfolgen“ sollte. Inmitten seines philosophischen Studiums in Valkenburg in Holland erreichte Przywara 1911 ein Telegramm seines Vaters, die siebenundvierzigjährige und ans Krankenbett gefesselte Mutter möchte, da sie krank ist, ihren Sohn noch sprechen. Von seinen Ordensoberen „wird er nicht im Gehorsam hingeschickt, um seiner Kindespflicht und der einfachsten Nächstenliebe und Krankenhilfe zu genügen, sondern gefragt, ob er es für nötig halte“. Von der Situation sichtlich überwältigt und mit dem Gehorsamsideal konfrontiert, antwortete der junge Ordensmann, dass er es nicht wisse, sie sei öfters krank gewesen, und stellte die Entscheidung in Ermessen seiner Oberen. Przywara fuhr nicht nach Kattowitz. Wenig später verstarb seine Mutter, der ihm am nächsten stehende Mensch, und er blieb mit dem Vorwurf, ihren letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben (vgl. ebd., 10).

54 H.U. VON BALTHASAR, Erich Przywara S.J. Zum 75. Geburtstag.

55 H. FRIES, Erich Przywara, 69.

56 G. WILHELMY, Vita, 22. Vgl. M. SCHMID, Erich Przywara, 16.

57 G. WILHELMY, Vita, 25

58 Am 7. April 1942 später schreibt Edith Stein an Angela Stadtmüller: „Dass es P. Prz[ywara] nicht gut geht, hörte ich auch aus Valkenburg. Man meint dort, daß er in M[ün]chen ist, weiß aber nicht, in welchem Haus. Wenn Sie die Möglichkeit hätten, Ihm Grüße zu übermitteln, wäre ich dankbar. Vielleicht interessiert es ihn, daß ich an einer „Kreuzeswissenschaft“ zu Ehren des hl. Vaters Johannes arbeiten darf und daß ich bei allen Arbeiten am wirksamsten von Valkenburg unterstützt werde“ (E. STEIN, Selbstbildnis in Briefen, II, 539f). Drei Wochen später, am 29. April 1942, bekommt sie eine Auskunft von Anna Dursy: „Ich mußte in letzter Zeit so oft an Sie denken, besonders wenn ich an Przy[wara] dachte, den ich im Februar gesehen. Es ist mir, als stünden gerade Sie beide im ganz besonderen Maße im Crucis Mysterium. Es war sehr schmerzlich, Przy. so zu erleben. Daß er vorher lange in Wörishofen war, wissen Sie wohl? Nur seinen Händen merkte man die Nervensache an. Sie zittern“ (ebd., 553).

59 Die bescheidenen Eindrücke, die Przywara bei den Anwohnern von Hagen hinterließ, kontrastieren stark mit den Zeugnissen, die ihm Rahner oder von Balthasar ausstellten. Herr Bierling vom Gasthaus am Kirchplatz 8, Hagen, 82418 Riegsee, erinnert sich an ‚Prof. Przywara‘, der abends in die Gaststätte zu kommen pflegte, um in seinen Büchern zu lesen. Er entzündete dazu eine mitgebrachte Kerze, da er elektrischen Strom nicht verbrauchen wollte. Jeden zweiten Tag bestellte er ein halbes Liter dunklen Biers und bat, ihm die eine Hälfte davon heute, die andere morgen auszuschenken. Genauso gut erinnert man sich daran, dass er jeden Tag und bei jeder Witterung im am Haus nahegelegen Weiher zu baden pflegte (Gespräch am 18. August 2013). Um dieselbe Person wird es sich auch bei M. Lochbrunner handeln, der von einem Gespräch mit einem Bauer am 5. April 2008 berichtet, der in der Hagener Kirche Messnerdienste versieht und die gleichen Erinnerungen an Przywara wiedergibt. Lochbrunner beschreibt noch das Gespräch mit einer Familie aus Hagen, die sich an Erich Przywara erinnert (vgl. M. LOCHBRUNNER, Hans Urs von Balthasar, 32f).

60 B. GERTZ, Erich Przywara, 575. Menschen, die mit Przywara persönlich oder mit seinem unmittelbaren Umfeld in dieser Periode zu tun hatten, berichten alle von dem Schatten der Krankheit, in dem Przywara lebte. Er wurde „immer wieder bedrängt durch extreme Schwankungen seiner psychischen Gesundheit“ (G. HAEFFNER, Erich Przywara, 137). Es war ein „unter tiefen physischen und psychischen Verschattungen gelebtes Leben“ (G. WILHELMY, Vita 34). Die einzige ärztliche Bescheinigung, auf die ich in Przywaras Nachlass stieß, bezieht sich auf Przywaras Gesundheitszustand in der letzten Phase seines Lebens, in der er schon zu keiner literarischen Tätigkeit mehr fähig war, und spricht unter anderem von „cerebrosklerotisch bedingter Involutionspsychopathie“ (Ärztliche Bescheinigung, ausgestellt am 15. April 1971 von Dr. med. Hans Willkomm, Chefarzt vom Gemeindekrankenhaus in Murnau).

61 Vgl. M. LOCHBRUNNER, Hans Urs von Balthasar, 61, 73.

62 Ebd., 135.

63 Ebd., 29. Laut von Balthasar war Przywaras Krankheit „für das Umkippen der Analogie in eine Widerspruchsdialektik“ verantwortlich (ebd., 135).

64 Ebd., 134.

65 Weiter schreibt von Balthasar: „Und das literarische Lebenswerk türmt sich zu solchen Höhen und umarmt solche Horizonte, dass sein Übermaß den pressierten Leser von heute entmutigt: der Auftrag wie seine Ausführung scheinen beide zu groß für diese Zeit“ (H.U. VON BALTHASAR, Erich Przywara S.J. Zum 75. Geburtstag, 112).

66 R. Schneider, der zu den wenigen gehörte, die sich mit Przywaras Alterswerk auseinandersetzten und der dessen Anliegen teilte, schrieb in diesem Geist: „die Heimtücke der Wahrheit spricht sich aus, kraft der kindhaften Freiheit eines Mannes, der alle Feuer durchlitten hat und die Bosheit der Eiferer, der da ist und nicht da und das Glück und Leid eines Sehers und Beters genießt; der sich dem totalen Skandal und Widerspruch, der Wahrheit, die Christus ist, ohne Kaufvertrag überläßt und, woran ihm natürlich nichts liegt, in der Herausforderung des platten Verstandes nicht zu übertreffen ist“ (R. SCHNEIDER, Pfeiler in Strom, 304). Auch hier knüpft er an die Erfahrung seiner Geburtserde an. In der oberschlesischen Seele gibt es „eine gesteigerte, ja nicht selten übersteigerte Wachheit, die Wachheit des Postens, – freilich eine Wachheit, die in die Nacht hinaus und hinein schaut“ (Oberschlesien, 14).

67 M. Schmid hatte den Eindruck, „daß Przywara in seiner Krankheit dieses Konzil, zu dessen Vordenkern in der ersten Reihe er doch zweifellos gehörte, nicht mehr wirklich rezipieren konnte“ (M. SCHMID, Erich Przywara, 26).

68 So zum Beispiel dankt er 1950 dem Herausgeber der Zeitschrift Besinnung für die Würdigung anlässlich seines sechzigsten Geburtstags und beklagt, dass sein Lebenswerk vergessen scheint (vgl. Brief an den Herausgeber). Symptomatisch für diese Haltung und die damit verbundene Frustration ist Przywaras Brief an den Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 16. Juni 1956, in dem er gegen die Liberalisierung des Wohnungsgesetztes protestiert. In dem Brief beruft sich Przywara auf Begegnungen mit Adenauer im Rahmen der Jugendbewegung zu Beginn der 30er Jahre und schreibt: „Mein Name wird Ihnen ja nicht unbekannt sein…“. Am 31. August 1956 schreibt er noch einmal, um sich zu beklagen, dass er vom Bundeskanzler Adenauer keine persönliche Antwort, nur eine amtliche von seinem Sekretariat bekommen hat. Dieser Brief bleibt ohne Antwort (Abschriften von beiden Briefen in: ArchDPSJ 47–182–798).

69 Alter und Neuer Bund und Mensch bleiben Fragmente als erste Teile eines auf zwei Teile gedachten Ganzen, und Christentum gemäß Johannes nur der Beginn eines Christentum gemäß der Offenbarung (vgl. G. WILHELMY, Vita, 32f).

70 K. RAHNER, Laudatio, 272.

71 Die Frage ist fundamental auch in diesem Sinn, da sie das Fundament der ignatianischen Exerzitien bildet.

72 Vgl. Analogia entis I, 21. Zum Ganzen siehe H. WULF, Erich Przywara; B. GERTZ, KreuzStruktur, 555f.

73 Weg zu Gott, 114.

74 Vgl. z.B. Neue Philosophie, 308; Analogia entis I, 70.

75 Vgl. H.U. VON BALTHASAR, Erich Przywara, in: L. ZIMNY (Hrsg.), Erich Przywara, 5.

76 Der Ruf, 104.

77 Ebd., 103.

78 H, 309.

79 Ebd. Vgl. auch M. ZECHMEISTER, Gottes-Nacht, 17.

80 Gott in uns, 554.

81 „Wenn wir nun zusammenfassen: Was haben wir anders gefunden, als dass der Ursprung der scheinbaren Gottesleugnung der neuzeitlichen Philosophie vielmehr ein ‚Gott alles allein‘ ist? Ihr Atheismus oder Pantheismus nur Erscheinungsform eines ursprünglichen ‚Theopanismus‘ – um den guten Ausdruck Rudolf Ottos zu gebrauchen. Das ‚Ich alles allein‘ anthropozentrischer und das ‚All alles allein‘ kosmozentrischer Philosophie nur Wandlungsform des ursprünglichen ‚Gott alles allein‘, wie es die Ursprungszeit der Neuzeit erfüllte. Auf der einen Seite das Ethos und Pathos des ‚Gott-Ich‘, wie es sich gegen eine zerrüttete Ideal-Weltordnung des Mittelalters leidenschaftlich erhob; auf der anderen Seite, gerade durch die Weltverachtung und Weltverdammung dieses Ich-Glaubens, das Ethos und Pathos des machtwillkürhaften ‚Gott-Welt‘, der Willens-Willkür-Gott in der Erscheinung der nicht mehr logosdurchleuchteten, sondern allein irrational machtdurchherrschten Willens-Willkür-Welt; – und als letzte die tiefe dunkle Tragik das Spinoza-Ethos des unergründlichen Schicksals, aber nun nicht lösbar durch einen sich-selbst-aufgebenden ‚amor intelectualis Dei‘ – sondern Gott selber als Alogos, die Rätsel-Finsternis-zeugende Ur-Rätsel-Finsternis. Undurchdringliches Schicksal, lösungslos, erlösungslos“ (Gott, 265).