Israel als Urgeheimnis Gottes?

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From the series: Bonner dogmatische Studien #59
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1.2 Denkweg und Denkfiguren

1.2.1 Erich Przywaras eine Frage: Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt

Ereignet sich Przywaras Denken in enger Verschlingung mit seiner Existenz und seiner Welt, so ist es zugleich ein betont formales Denken. Przywara verstehen zu wollen, erfordert deshalb, neben der existenziellen Dimension auch die Denkfiguren zu beleuchten, die für seine Aussagen grundlegend sind. In der Umbruchsituation nach dem I. Weltkrieg, in der Przywara sein Wirken begann, sah er sich vor die fundamentale Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Welt gestellt71.

Da die Wirklichkeit aus den Fugen geraten ist, können nach seiner Überzeugung ihre Gegensätze in eine produktive Spannungseinheit nur dann zusammengefügt werden, wenn das ganze Gegensatzgefüge, die endliche Welt also, in das rechte Verhältnis zum absoluten Gott eingeführt wird. Um einen Wiederaufbau zu beginnen, müssen zuerst die Fundamente aller geistigen Strukturen freigelegt werden.

Die Frage nach Gott und Welt stellt Przywara als Frage nach dem Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Dass die Welt Gottes Schöpfung ist, bedeutet für ihn zuerst, dass sie vom Schöpfer abhängig und auf ihn hingeordnet ist. Diese Abhängigkeit denkt Przywara dynamisch, als eine sich zwischen den Bewegungen des Ausgangs aus Gott und des Wiedereingangs in Gott ereignende Realität. Schöpfung bedeutet für Przywara aber auch, dass die Welt eigenständig ist. Sie wandelt vor Gott. Die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt fokussiert sich also auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Abhängigkeit der Welt von Gott und ihrer Eigenwirklichkeit vor Gott.

Przywara ist überzeugt, dass alle philosophischen und existenziellen Fragestellungen der ausgehenden Neuzeit nur vor diesem theologischen Hintergrund zu beantworten sind. Umgekehrt muss sich aber auch die Theologie bewusst werden, dass allen ihren inhaltlichen Aussagen immer formale Diskursstrukturen vorausgehen. Um den Wissenschaftsstatus einer Disziplin zu rechtfertigen, müssen ihre formalen Prinzipien geklärt werden. Auch Religionsphilosophie und Theologie haben eine spezifische, ihrem Gegenstand entsprechende Methode, die unbedingt beachtet werden muss72. Diesen formalen Strukturen der Gottesrede gilt Przywaras Leidenschaft. Er ist überzeugt, man müsse zuerst die Frage der Religionsphilosophie und Theologie überhaupt beantworten, bevor man sich in eine inhaltliche Auseinandersetzung begibt. Nur so kann eine befreiende Lösung für die verfehlten und „peinlichen“73 Fragestellungen, die so manchen erbitterten wie kontraproduktiven theologischen Debatten zugrunde liegen, herbeigeführt werden.

Die Gegenwart zeichnete sich in Przywaras Ansicht durch zwei scheinbar gegensätzliche Richtungen aus, die das Verhältnis zwischen Gott und Welt zu bestimmen suchen. Przywara bezeichnete sie als Pantheismus und Theopanismus74. Was ihn interessiert, ist die Architektur und der Grundimpetus dieser Denkrichtungen. Die Parolen, in denen sich die Hauptanliegen dieser Strömungen verdichten, hießen, seiner Analyse entsprechend, „Welt allein“ oder „Gott allein“. Das Verhältnis zwischen Gott und Welt wird entweder als einseitige Immanenz oder als einseitige Transzendenz, als Identität oder als Widerspruch aufgefasst. Echte Begegnungschancen zwischen ihnen werden hier aber schon im Keim erstickt, da die beiden Richtungen die Unterschiede und somit die Spannung zwischen Schöpfer und Geschöpf aufheben. Das Herzstück des christlichen Glaubens, das Paradoxon der Menschwerdung Gottes, wird entstellt. Bald wird Gott vermenschlicht, bald wieder der Mensch vergöttlicht.

Auf den ersten Blick scheint sich die Neuzeit durch Gottesleugnung und -verdrängung zu charakterisieren. Genauer betrachtet empfindet der neuzeitliche Mensch die Welt als absolut, zieht das Göttliche an sich heran und macht es zu einem immanenten Weltelement, zum Horizont aller Fragen und zur Chiffre des Daseins75. In der Philosophie, wie bei Kant oder Hegel, wird über Gott gesprochen, aber er wird in gewaltige Systeme eingeschlossen. Diese Verweltlichung und Vermenschlichung Gottes vollzieht sich aber auch in der Theologie, vor allem bei Schleiermacher und dem liberalen Protestantismus, wo Gott in die Innerlichkeit des Menschen eingeschlossen wird. Was am Ende bleibt, ist „Gott als Mittler zu meiner Seligkeit und Ruhe“76. Es geht nur noch darum, „Gottes habhaft zu werden in eine irdische Beruhigtheit“77. Gott ist somit eine Dimension der Welt, er ist ganz in der Welt und so ist auch die Welt und der Mensch alles.

Die Neuzeit bedeutet aber zugleich ein von Fortschrittsoptimismus berstendes Weltgestaltungsprojekt. Dieser Glaube an die absoluten, in der Welt und im Menschen schlummernden Möglichkeiten wurde durch die Katastrophe des I. Weltkrieges zutiefst erschüttert. Die als sicherer Hort geglaubte Welt flog ja „in Fetzen“ auseinander. Auf einmal steht die Welt als elend da, was viele dazu bewegt, woanders nach Sinn und Erfüllung zu suchen. „Als im Weltkrieg die Weltseligkeit der ganzen Neuzeit zusammenbricht in ein neues Chaos, bricht vulkanisch die Frage um Gott auf“. Ein „leidenschaftlicher Theozentrismus“78 wird erneut zum geistigen Grundmotiv der Zeit und Przywara verschreibt sich diesem von Barth initiierten Protest gegen alle Versuche, sich Gottes zu bemächtigen.

Diesem Theozentrismus, wie er sich in der Stunde der Nachkriegszeit manifestiert, attestiert Przywara jedoch eine verhängnisvolle, weltverachtende Einseitigkeit. „Gott wird leidenschaftlich bejaht, aber als Glorie über der Welt, nicht als Macht und Vollmacht in der Welt“79. Dadurch enthüllt sich die Gottesidee dieses Theozentrismus als eine Verklärung der Wirklichkeit, die die Frage ausblendet, wie die sinneshafte, reale Welt der Raum der Gotteserfahrung sein kann. Die Kultur und das Tun der Menschen werden radikal entwertet und verlieren den Bezug zu Gott. Durch diese Einseitigkeit kann der Theozentrismus nicht die heilende Überwindung der Vergöttlichung der Welt sein, da die Welt de facto als Gott-los betrachtet wird. Der völlig ‚Andere‘, wie Gott hier gesehen wird, ist eine „reine ‚Negation‘“, „das Nein zur Kreatur alles alleinwirklichen und alleinwirksamen Ja“80. Gott ist ganz über der Welt. Gott ist alles, die Welt verschwindet in ihm.

Das, was nach zwei gegensätzlichen Lösungen aussieht, sieht Przywara jedoch als zwei Momente des einen dialektischen Umschlags, für den Luthers Protest gegen die verweltlichte Kirche steht und der die Geburtsstunde der Neuzeit kennzeichnet81. Hier meint Przywara den Geburtsfehler der Neuzeit gefunden zu haben. Indem die Reformation dem selbstherrlichen Humanismus der Renaissance die universale Sündenverfallenheit des Menschen entgegenstellt und Gnade als das alleinwirksame Prinzip erfasst, spricht sie dem Menschen jegliche Eigenwirksamkeit ab. Es ist ausschließlich der gerechtmachende Gott, der im restlos korrupten Menschen wirkt und alles Menschliche wird lediglich zur „Erscheinungsform“ Gottes82. Auf diese Weise meint Przywara in der Einseitigkeit des Theozentrismus die Fundierung der Identität zwischen Gott und Mensch, das Prinzip des „In-Eins-Fallen von Gott und Geschöpf“83 feststellen zu können, das sich im „beständigen Umschlag von völliger Negation des Geschöpflichen zu seiner völligen Vergöttlichung“84 zeigt. „Die innere Dialektik reformatorischer Religiosität enthüllt sich geradezu als Urgrund der Dialektik der Neuzeit“85. Die zwei extremen Lösungen, Pantheismus und Theopanismus, münden also in eine unmögliche Konfusion, wie es die Geschichte der gegenseitigen Beeinflussung von Theologie und Philosophie bezeugt86.

Überwunden werden kann diese fatale neuzeitliche Dialektik zwischen Pantheismus und Theopanismus nur aus dem Ur-Katholischen Prinzip der „Einheit Gottes mit der Welt und Unterschiedenheit von ihr“87 heraus, dass sowohl die transzendente Welterhabenheit Gottes als auch die immanente Gegenwart Gottes in der endlichen Welt atmet. Nur so kann die faktische Welt eines ständigen Wandels mit Geduld und Nüchternheit bejaht und angenommen werden.

Die Fraglichkeit der vereinfachenden Beurteilung des lutherischen Grundprinzips und seiner tatsächlichen Auswirkungen auf die Neuzeit wird Przywara im Laufe seines Denkweges selbst aufgehen. Dieser Aspekt wird nicht nur korrigiert, sondern einen erheblichen Einfluss auf sein Denken gewinnen. Entscheidend ist hier jedoch der Grundimpuls von Przywaras Denken, das mithilfe seiner Positionierung zwischen den zwei Extremen formuliert wird. Die Unbedingtheit, nach den letzten Strukturen des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch zu fragen und alle noch so verdeckten Formen der Identität zwischen Gott und Mensch zu demaskieren, bestimmt jedoch Przywaras Denken auf all seinen Etappen und in jeder inhaltlichen Bezogenheit. Die auf die erste Formulierung der Diagnose des grundlegenden Problems der Gegenwart folgenden Jahrzehnte, durch Krisen und Radikalismus gekennzeichnet, wie auch die persönlichen Brüche werden Przywaras Fragen nach dem unfassbaren Begegnungspunkt zwischen Gott und Welt immer zuspitzen. Die ausgehende Neuzeit ist eine Umbruchsituation, in der alle, auch die religiösen Verdeckungen schonungslos beseitigt werden müssen. „Die Aufklärung hat alles aufgeklärt, bis auch der Abgrund wieder klar ist“88.

1.2.2 Polarität

Der erste methodologische Ansatz, den Przywara herausarbeitet, um das Verhältnis zwischen Gott und Welt, und weiter zwischen allen innerweltlichen Gegensätzen zu bestimmen, heißt Polarität. Die Überwindung der Atomisierung des neuzeitlichen Weltbildes und die Versöhnung der antagonistischen Wirklichkeit kann nicht durch ein neues Entweder-Oder herbeigeführt werden. Das Losungswort des Katholizismus heißt nicht Gott oder Welt, sondern Gott und Welt, was ja auch eine grundsätzliche Bejahung der Wirklichkeit mit sich bringt. Die Welt ist nicht Gott, aber die Welt ist der Raum, in dem sich Gott offenbart.

 

Alles, was konkret und lebendig ist, ist auch gegensätzlich und befindet sich im ständigen Wandel. Das gilt vor allem für den Menschen als Inbegriff der geschaffenen Welt. Er existiert zwischen den Gegensätzen Leib und Geist, Mann und Frau, Individuum und Gemeinschaft89 eingespannt und ist nie nur das eine oder nur das andere. Folgerichtig kann der Mensch nur in der jeweiligen Gegensatzspannung gesehen werden: „erst das Zueinander beider ist ‚der Mensch‘“90. Vor allem gilt aber, dass der Gott der Menschwerdung ein Gott „so ungeheurer Spannung der Gegensätze“91, der „Schwebe“ zwischen den Gegensätzen ist92. Es ist also alles daran gelegen, dass der in Christus erlöste Mensch einsieht, dass „eine echte Lebenslösung und gerade eine Lösung von Gott her nicht gegensätzlich über dem Menschen stehen darf, wie sie vielmehr (gerade als Lösung der ‚Menschwerdung‘!) im Leben sein muß, im Leben als neuer Rhythmus seines Gegensatzspiels selbst“93.

Da diese Gegensätzlichkeit unbequem, ja sogar schmerzlich ist94, versucht der Mensch dieser Last zu entfliehen und klammert sich an nur eine Seite der Wirklichkeit, die ihm jeweils als die Lösung vorkommt. Damit erstarrt aber das Lebendige zum unwirklich Statischen, um dann zum bedrohlich Chaotischen zu werden. Die Not verschlimmert sich dadurch, da der als die Lösung geglaubte Gegenpol in einen immer größeren Widerspruch zu anderen Polen der Wirklichkeit gerät. Eine lebensvernichtende Zerrissenheit nimmt zu, „so wird Fremdvernichtung zu Selbstvernichtung, Riß ins Nichts im Quell des Seins“95. Der gordische Knoten des Realen kann aber auch nicht mit einer Gottesidee durchhaut werden96. Gott muss auch als Macht innerhalb der Wirklichkeit erfahren werden. Wie zwei Titel von Przywaras Polaritäts-Schriften, Wandlung und Gottgeheimnis der Welt97, programmatisch zur Sprache bringen, versucht er vor allem, die Welt in ihrem dynamischen Aspekt ins Verhältnis zu Gottes Transzendenz zu setzen und zu zeigen, wie das wandelbar Gegensätzliche der Welt Raum der Begegnung mit Gott ist. Jeden versuchten denkerischen Ausstieg aus dem Gegensätzlichen, und somit Nicht-Absoluten und Endlichen, bewertet Przywara als Versuch, im Bereich des Geschöpflichen einen festen, ja absoluten Standpunkt zu gewinnen und sich somit vom Schöpfer loszulösen. Dem kreatürlichen Sein muss auch die Gegensätzlichkeit des Bewusstseins entsprechen98.

Deswegen formuliert er auf dem Höhepunkt der „Katholischen Wende“, während der Herbsttagung des katholischen Akademikerverbandes im August 1923, seine These:

„Nicht die ruhelose Antithetik eines ‚Entweder-Oder‘ zwischen Objekt-Subjekt, Werden-Sein, Person-Idee – das ist das Ergebnis unseres bisherigen Miteinanderdenkens und -ringens – nicht diese Antithetik kann uns den Weg der Lösung weisen. Was wir brauchen und was wir heute darum als unser Programm aufstellen, ist eine Philosophie des Ausgleichs, eines Ausgleichs nicht ‚heute für immer‘, eines Ausgleichs vielmehr ‚ins Unendliche weiter‘: Die Philosophie der Polarität, gleichweit entfernt von einer Philosophie ruhelosen Umschlags, wie statischer Mitte, die Philosophie dynamischer Polarität“99.

Die Antwort auf die Not der Zeit muss in der Fähigkeit bestehen, die verschiedenen Ansätze, die jeweils etwas über einen Aspekt des Ganzen aussagen, zu einer Einheit zu bündeln. Diese Einheit ist aber keine Homogenität oder Verabsolutierung bloß eines Standpunktes100. Sie ist nur im Geiste der katholischen Weite möglich, die die polare Verschiedenheit zu schätzen weiß101.

Die polare Denkfigur entdeckt Przywara als die formale Gemeinsamkeit bei den großen Lehrern des christlichen Lebens. Bei Augustinus ist es die Formel „Deus interior et exterior“102 und die Religiosität „eine[r] fürchtende[n] Liebe und eine[r] liebende[n] Furcht“103. Augustinus’ Religiosität zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr „Gesetz und Freiheit, Furcht und Liebe“ einerseits „in äußerster Feindlichkeit“ erscheinen, andererseits aber das Ergebnis doch „Freie Knechtschaft“ und „liebende Furcht und fürchtende Liebe“ heißt104.

Dieselbe Polarität findet sich bei Thomas von Aquin wieder, der das Wesentliche des Problems des Verhältnisses zwischen Gott und Geschöpf, die Frage nach der Spannung zwischen Allwirksamkeit Gottes und Eigenwirksamkeit des Geschöpfes behandelt. Die sich auf Platon berufenden Schulen, die das göttlich Absolute als das eigentliche Sein betrachten, betonen demzufolge einseitig, dass alles, was geschieht, vom Göttlichen her geschehe. Der Aristotelismus, für den das Göttliche im Bewegungskreis des Geschöpflichen untergeht, sieht somit fast nur die Eigenwirksamkeit des Geschöpfes. In Przywaras Sicht wurden die zwei Einseitigkeiten durch Thomas’ von Aquin Lehre von der causa secundae abgelöst und die beiden Prinzipien zu einer Gegensatzspannung zusammengebunden. Das Geschöpf, obwohl vom Schöpfer gänzlich abhängig, wurde mit Eigen-Dasein begabt. Deswegen schließt die Allwirksamkeit Gottes die Eigenwirksamkeit des Geschöpfes nicht aus, sondern ermöglicht es. Gott wirkt alles, aber auch das Wirken des Geschöpfes hat seinen Eigenwert105.

Richtungsweisendes für die theoretische Bewältigung der Erfahrung der Gegensätzlichkeit findet Przywara schon in seinem frühen Thomasstudium, wo ihm die distinctio realis, die Unterscheidung zwischen dem Sosein (Essenz) und dem Dasein (Existenz) im endlichen, geschaffenen Sein aufgeht, die im göttlichen Sein nur eine distinctio rationis ist106. Alles, was existiert, befindet sich im Zustand eines stetigen Wandels. In dieser Erfahrung lassen sich zwei Gegenpole individuieren. Es ist einerseits die Essenz, das wesenhafte ‚Ist‘, das „in der Erfahrung der Fülle des Werdestromes immer stärker in der Fülle seiner seinshaften Unendlichkeit erfahren wird“107. Andererseits ist es aber die Existenz, die Erfahrung des ‚Ist‘ als eines reinen Übergangs zwischen ‚War‘ und ‚Wird‘, als eines „ist-losen Fließens“108. Endliches Sein ist zwischen diesen beiden Polen ausgespannt, da in ihm Essenz und Existenz nicht identisch sind109. Darin offenbart sich Gott als der Einheitsgrund des Geschaffenen. In seiner Wandelbarkeit ist das Geschaffene ein über sich hinausweisendes Gleichnis Gottes.

Die beiden Linien, von Augustinus und von Thomas her, leben in der Neuzeit bei Newman auf. In seinem Begriff des development bekommt die „Essentia-existentia-Spannung Thomas’ und in seiner Religiosität des reverence-love-together die (dem ontologischen Tatbestand korrelate) Religiosität des timere dilligendo et dilligere timendo ihre neuzeitliche lebendige Form“110. Die einzige dem Gottesgeheimnis gerechte Lösung kann also nicht auf dem Weg eines geradlinigen Denkens gefunden werden: Gott der Nähe oder der Distanz, Gott der Liebe oder der Furcht, Immanenz oder Transzendenz, Gott in oder über der Welt. Die Lösung der Polarität heißt: „Gott in uns und über uns“111.

Wie B. Gertz schreibt, ist die Formulierung „Gott in uns und über uns“, die Przywara 1923 in einem Artikel über das augustinische Gottesbild ausarbeitet, „bei Weitem wichtiger, als die dazu gehörenden Ausführungen“112. Das Entscheidende ist hier nämlich die in Gang gesetzte Dynamik, die Przywaras Denken zunehmend prägen wird. Nach von Balthasar kann der Ausgangspunkt Przywaras Denkbewegung als ein „fundamental-ontologischer113 Dynamismus bezeichnen werden. Diese Dynamik im Fundament des Seins drängt auf die Überwindung einer einfachen Polarität von Gleichheit und Ungleichheit zwischen Gott und Geschöpf wie auch eines einfachen Gleichnisverhältnisses zwischen Gott und Welt.

Überwiegt in den früheren Schriften Przywaras der Gedanke eines „christlichen Ausgleichs“114 und Harmonisierung der Gegensätze, so wächst mit der Zeit die Einsicht, dass dieser Polaritätsgedanke das Risiko mit sich bringt, die Kreatur in sich zu verschließen, statt sie auf den unbegreiflichen Gott hin zu öffnen. „Es genügt darum nicht“, schreibt Przywara, „unsere frühere Betonung der ‚Polarität‘ […] zu benutzen für eine Theorie eines ‚schwebenden Ausgleichs’ […]. Die ‚Polarität‘ ist, wie wir von Anfang an scharf betonen mußten, nicht eine immanente, sondern weist als das letzte Aspekt des Kreatürlichen über sich in das Geheimnis des souveränen Gottes“115. Die Spannungen innerhalb des Geschaffenen sind also immer offen, sie bleiben unabschließbar. Erst diese reale und unüberwindbare Spannung im Fundament des Seins, die beunruhigende Widerborstigkeit der Wirklichkeit öffnet den Blick zu Gott. „Das Geheimnis Gottes offenbart sich im Geheimnis der auseinanderfallenden Geschöpflichkeit“116.

1.2.3 Analogie

Przywaras Ringen um den formalen Ansatz des Denkens über Gott und Mensch findet seine Mitte im Terminus, für dessen Aufleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sein Name wohl für immer stehen wird: analogia entis117. Przywara will mit diesem Begriff den allgemeingültigen formalen Denkansatz des Katholischen wiedergefunden und ihn in die philosophischtheologische Problematik der Stunde hineingesprochen haben. Die analogia entis ist für ihn schlichtweg „das Grundprinzip des Katholischen überhaupt, weil sie […] das Grundprinzip zwischen Gott und Geschöpf überhaupt“118 ist. Den entscheidenden Ausdruck für die Überwindung der letzten möglichen Verschlossenheit der Kreatur, die wie Gott sein will, fand Przywara in der Formel des IV. Laterankonzil (1215): „Inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin inter eos maior sit dissimilitudo notanda(DH 806). Przywara übersetzt sie folgendermaßen: „Zwischen Schöpfer und Geschöpf kann nicht eine so große Ähnlichkeit angemerkt werden, daß nicht zwischen ihnen je größere Unähnlichkeit anzumerken sei“119. Versuchen wir uns an den Kern dieser Thematik vorsichtig heranzutasten.

Als Verhältnis von Sosein und Dasein, Essenz und Existenz, das das Wesen des Seins ausmacht, ist das geschöpfliche Sein Analogie des göttlichen Seins, da es ihm durch die Einheit von Sosein und Dasein ähnlich ist. Aber in dieser Ähnlichkeit zeigt sich die wesenhafte Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf, weil „Gottes Einheitsform von Sosein und Dasein ‚Wesensidentität‘ ist, des Geschöpfes Einheitsform aber ‚Spannungseinheit‘“120. Nur über Gott kann man sagen, dass er ist. Das geschaffene Sein schwebt zwischen Vergehen und Werden. Diese Schwebe des geschaffenen Seins hängt nicht in Leere, sondern in Gott, sodass man sagen kann, dass Gott dem Geschöpf als sein Seinsursprung inne ist, aber als der, der über dem geschaffenen Sein ist. Wie wir im vorausgehenden Punkt bereits gesehen haben, drückt Przywara das Verhältnis zwischen Gott und Welt mit der Formel „Gott in uns und über uns“ aus. Dieses „Gründungsverhältnis“121 zwischen Gott und Geschöpf wird aber später mit Hilfe der Formel „Gott in-über Geschöpf“122 ausgesagt, um zu unterstreichen, dass die Immanenz und die Transzendenz Gottes, die Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zwischen Gott und Welt als seinem Abbild nicht gleichgewichtig nebeneinander gestellt werden darf, sondern dynamisch-komparatistisch aufeinander bezogen werden muss.

Przywaras Umdeutung des Grundanliegens des analogischen Denkens ist hier ausschlaggebend. Dieses wurde üblicherweise angewendet, um über die Ähnlichkeit, die trotz aller Unähnlichkeit zwischen zwei Analogaten herrscht, zu sprechen. Dass in diesem Denkgehabe die Gefahr lauert, die beiden Analogate anzugleichen und auf einen gemeinsamen Nenner, auf ein Drittes, zu bringen, ist nicht von der Hand zu weisen. Vor allem im Hinblick auf Gott und Welt muss es als unzulässig gelten. Przywara sagt aber zweierlei: Zum einen unterstreicht er, dass im analogischen Verhältnis die Unähnlichkeit größer ist als die Ähnlichkeit und dass die Analogie als Werkzeug verstanden werden muss, in jedem Verhältnis die Distanz und die Andersheit zwischen den Analogaten zu garantieren. Da zwischen Gott und Welt kein Widerspruch besteht, ist Gott in allem geschaffenen Sein als letzter Grund immanent erfahrbar, aber als der, der transzendent, anders ist. Zum anderen ist die Unähnlichkeit nicht nur größer, sondern je größer. Die Transzendenz Gottes geht dem Menschen nicht neben oder trotz Gottes Immanenz in der Welt, sondern in ihr als eine „dynamische Transzendenz“123 auf. In jeder entdeckten Ähnlichkeit flammt die je größere Unähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf auf, so dass am Ende die Unbegreiflichkeit Gottes steht, die aber wiederum die Ähnlichkeit nicht auslöscht.

 

Die Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf besagt keine Entwertung des letzten. Diese Unähnlichkeit ist „nicht eine solche, die ‚nicht sein sollte‘ (‚Unähnlichkeit‘ der außerkatholischen Transzendentalität), sondern eine solche, die, als wesenhaft für das Geschöpf als Geschöpf, ‚sein soll‘“124. Die Distanz zu Gott garantiert die Eigenständigkeit des Geschaffenen. Przywara geht es darum, den Rhythmus des Verhältnisses der Dienstbereitschaft zwischen Welt und Deus semper maior begrifflich zu umschreiben. Gott ist je immer größer und so ist auch die Haltung der Kreatur die „ständige Bereitschaft des ‚Tones‘ in der Hand des ‚Bildners‘“125.

Der größere Akzent auf den Moment der dynamischen Unähnlichkeit, Distanz und der Andersheit zwischen den Analogaten, gilt sowohl für das Verhältnis zwischen den Gegensätzen der Schöpfung wie für das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Przywara macht darauf aufmerksam, dass schon die aristotelische Analogie den Rhythmus zwischen den Gegensätzen des Kosmos als die schwingende Bezogenheit zwischen Je-Anders und Je-Anders meint126. Der Kosmos ist aus Gegensätzen gebaut, die in „Proportion gegenseitigen Anders-Sein“127 zueinander stehen. In dieser horizontalen Analogie schlummert aber immer noch die Gefahr, die Przywara schon in der Philosophie der Polarität festgestellt hat. Die Welt kann als ein ewiger Kreisumschwung, ein „‚All-Rhythmus‘ als ‚Letztes‘“128 gesehen werden, in der alle Gegensätze zu einer ruhenden „Selbigkeit“129 sich verschließen und auch das Göttliche als letzte Dimension des weltlichen Werdeprozesses einschließen.

Analogie als katholische Grundform bedeutet für Przywara deswegen eine Analogie zwischen der waagrechten und der senkrechten Analogie. Die „lateranensische Analogie der ‚je immer größeren Unähnlichkeit‘ ist das (selber analogiehafte) ‚in-über‘ zur aristotelischen Analogie des ‚je andern zu andern‘“130. Analogia entis besagt also das Zueinander der beiden Rhythmen, wie es schon laut Przywara in der Wortzusammensetzung ana-logia angegeben ist. Die Vorsilbe „ana“ bedeutet „über, nach, gemäß“ des Rhythmus der Einheit der weltlichen Gegensätze. Faktisch trägt sie aber auch die Bedeutung von „anō“ – oben, hinauf, aber auch wieder und je neu – was so verstanden werden kann, dass durch den waagrechten Rhythmus die senkrechte, auf- und absteigende Rhythmik der Analogie zwischen Über und In, Transzendenz und Immanenz, durchbricht (hervorbricht?)131. „Das ‚ana‘ des weltlichen ‚logos‘ ist eine polare Umschwungsbewegung nach einem von oben (‚anō‘) zugemessenen Rhythmus“132. Die senkrechte Analogie ist aber an die waagrechte gebunden, sie hat in ihr ihre Mitte. Der Rhythmus zwischen Gott und Welt pulsiert im innerweltlichen Rhythmus. Ohne diese waagrechte Analogie neigt die senkrechte zu einem „radikal Revolutionären“133, zu einer Dialektik zwischen Gott und Welt.

Das Letzte der Analogie ist also das Hinausschwingen des weltlichen Rhythmus in die Unendlichkeit Gottes. „Der aristotel.[ische] ‚Kreisumschwung des All‘ wird gleichsam über sich hinausgerissen“134 in das Geheimnis der unausforschlichen und unausspürbaren Wege Gottes, das aber auf das Gleichnis dieser Welt zurückweist. Über allem und in allem innerweltlichen Rhythmus waltet der Rhythmus des souveränen Gottes, „von dem erst alles ‚All-Rhythmus‘ ausgeht, in dem er schwingt u.[nd] in den er wieder eingeht“135. Anhand von soeben zitierten konzisen Lexikonartikeln Przywaras versuchen wir in den dort angegebenen fünf Schritten die wichtigsten Konsequenzen von Przywaras Auffassung der analogia entis hervorzuheben.

Das erste und absolut Entscheidende von Przywaras Analogie-Lehre ist also der dynamische Vorrang des Anders (in der aristotelischen Analogie) und der je immer größeren Unähnlichkeit (in der lateranensischen Analogie) vor jeder Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit. Somit mündet die analogia entis in kein System oder eine fassbare Lösung. Schon in der kleinsten Gemeinsamkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf tut sich der Abgrund der Verschiedenheit auf. „Es bleibt nur eine ‚reductio in mysterium‘: Rückführung aller ‚noch so großen Ähnlichkeiten‘ in das ‚βάϑος‘, die unbegreifl.[iche] Über-Höhe u.[nd] Un-Tiefe der ‚je immer größeren Unähnlichkeit‘“136.

Zweitens besagt die analogia entis, dass im Bereich der Metaphysik die reductio in mysterium eine Rückführung jeder Ähnlichkeit zwischen den „Seins-Weisen des All“ in den dunklen und unbegreiflichen „In-Eins-Fall der Gegensätze“137 bedeutet. Da der Rhythmus der waagrechten Analogie zwischen den Gegensätzen immer schon durch den Rhythmus der senkrechten Analogie des „je über hinaus“ bedingt ist, verschließen sich die Gegensätze nie zu einer abgerundeten Gestalt und kommen nie zum Erliegen. Die kreatürlichen Gegensätze genügen und erklären sich nicht selbst. Jede geschaffene Gestalt wird kraft der Analogie aufgebrochen auf das über sie hinaufschwingende Geheimnisvolle, das sie aber zugleich im Dasein erhält. „Analogie als All-Rhythmus bedeutet das Zerbrechen alles endlichen Eigenseins und Eigenstandes, aller ‚Gestalt‘, zum frei faktischen Einschwingen in das kosmische Geheimnis des Gottes, der ‚tötet und lebendig macht‘“138.

Drittens hebt Przywara hervor, dass das IV. Laterankonzil, wenn er über die analogia entis spricht, sich nicht mit irgendeiner Form der natürlichen Beziehung zwischen Gott und Geschöpf befasst, die dann in eine übernatürliche Beziehung der volleren Einheit, in der das Gesetz der Ähnlichkeit Oberhand gewinnen würde, überhöht werden könnte. Analogia entis gilt keiner natürlichen Theologie, die im Gegensatz zur Offenbarungstheologie stehen könnte. Das Konzil formuliert seine Lehre gerade „Aug in Aug zur höchsten, übernatürlichen Einheit und für jegliche Einheit überhaupt. Denn es erklärt dieses Gesetz Aug in Aug zum Supranaturalismus des Joachim von Fiore, für den das Eins im pneumatischen C.[orpus] Chr.[isti] m.[ysticum] mit dem Eins der drei göttlichen Personen zueinander sich ununterschieden bindet“139. Das Konzil spricht über die Einheit der drei göttlichen Personen in sich und über die Einheit der Gläubigen mit und in der trinitarischen Einheit, und gerade dort betont er die Unähnlichkeit zwischen Gott und Geschöpf. Von da aus gilt diese je immer größere Unähnlichkeit für jedes mögliche, auch und gerade für das teologale, Verhältnis von Gott und Geschöpf und wird somit „zum ersten, letzten und allumfassenden Grundgesetz jeder möglichen Theologie. Theologie bedeutet im höchsten Sinn ‚reductio in mysterium‘: Rückführung alles theologisch Angebbaren ins unangebbare Mysterium“140. Jede ‚gefundene‘ theologische Aussage ist soweit eine gültige Aussage über Gott, insofern sie eine reductio in mysterium vollzieht. Przywara denkt die Analogie von der augustinischen Gotteserfahrung her: „Si comprehendis, non est Deus. Wenn Du ihn begreifst, in diesem Augenblick, ist es nicht Gott. Ihn begreifen wollen heißt Ihn leugnen. Das ist das schneidende Wort des vermeintlichen Theologen der Unmittelbarkeit, das wahre Wort Augustinus“141. Przywara will, dass sein Denken der Analogie verstanden wird als Ausdruck für „die ‚einfältige Weisheit‘ davon, daß ‚Gott jeweils größer ist‘, wirklich ‚simpel‘ ist, und eben darum, nach dem Evangelium, ‚geoffenbart zu den Kleinen und Unmündigen, und verhüllt vor den Klugen und Weisen‘“142. Przywara weiß aber auch: „Schon der große Möhler sagte einmal, daß es niemand so schwerfalle, wie den Theologen zuzugeben, daß alles zuletzt unbegreiflich ist“143.

Viertens betrifft die analogia entis nicht nur das Sein, sondern auch die „Erfassung des Seins“. Das menschliche Denken steht nicht über dem Sein, sondern gehört zu ihm und ist durch seine Endlichkeit geprägt. Deswegen entspricht der Analogie im Sein die Analogie im Denken. „Weder in Metaphysik noch in Theologie gibt es die Möglichkeit eines ‚direkten einlinigen‘ Erfassens, sondern einzig den Weg eines ‚analogen‘ Erfassens: durch alle ‚noch so großen Ähnlichkeiten‘ (der Bilder oder Gleichnisse oder Begriffe) hindurch in die ‚je immer größere Unähnlichkeit‘ (eines jeweiligen ‚Ganz Anders‘)“144. Jedes Sein, das real existente Dasein und das ideale Sosein, kann nur analog, als Geheimnis erkannt werden. Przywara stemmt sich gegen jede Abschwächung des Differenzmoments im Erkennen. Schon innerweltlich gilt, dass jedem Begreifen ein Zuwachs an nichtbegrifflichem Mysterium entspricht. Dieses geheimnisvolle „Anders“, dem der Mensch überall erkenntnishaft begegnet, ist jedoch kein direkter Hinweis oder gar Beweis Gottes, sondern hütet das geschöpfliche Denken vor Selbstgenügsamkeit und bewegt es zur Suche145. Das sehnsüchtig suchende cor inquietum erkennt Gott als den, der über allem Erfassen steht: „im selben Akt, in dem der Mensch im Gleichnis der Kreatur Gottes ‚inne‘ wird, wird er Seiner inne als desjenigen, der über allem Gleichnis steht. So ist die letzte Einheit des Kreatürlichen wesenhaft nicht ‚in‘ ihm, sondern ‚über‘ ihm“146.