Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen

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3.3 Deklarativ-prozedurale Modelle des Zweitspracherwerbs

Bevor in diesem Kapitel auf zwei Zweitspracherwerbsmodelle eingegangen wird, deren Annahmen auf neurolinguistischen Erkenntnissen beruhen, werden im Folgenden das deklarative und das nichtdeklarative Gedächtnissystem voneinander unterschieden.

Aufbauend auf den grundlegenden Arbeiten von Atkinson und Shiffrin (1968) wird das Langzeitgedächtnis grob in ein deklaratives und ein nichtdeklaratives System unterteilt (vgl. Gruber 2018: 39–61). Bezüglich des deklarativen Systems werden das episodische und das semantische Gedächtnis unterschieden. Ersteres speichert beispielsweise persönliche Ereignisse, wohingegen das semantische Gedächtnis unter anderem Welt- und Faktenwissen aufbewahrt (vgl. Tulving 1972). Ein wesentliches Charakteristikum des deklarativen Gedächtnisses ist, dass die entsprechenden Inhalte bewusst abgerufen werden können. Ullman (2015: 137–138, 152–154, 2016: 956) und Paradis (2009: 12) betonen allerdings, dass es darüber hinaus auch implizite Wissensrepräsentationen beinhalten kann. Es besitzt außerdem die Fähigkeit, viele unterschiedliche Wissensarten innerhalb kürzester Zeit zu lernen. Oftmals reicht dafür schon ein einmaliges Auftreten eines Reizes aus; eine wiederholte Darbietung trägt allerdings zu dessen verstärkten Speicherung bei (vgl. Ullman 2016: 955–956).

Das nichtdeklarative Gedächtnis „beschreibt den Teil des Langzeitgedächtnisses, bei dem die Wiedergabe von Gedächtnisinhalten unbewusst, automatisch und ohne Willensanstrengung erfolgt“ (Gruber 2018: 49). Ein bewusstes Abrufen von Informationen ist nicht möglich. Ein Teil des nichtdeklarativen Gedächtnisses ist das prozedurale Gedächtnis, dem das Lernen von motorischen und kognitiven Fähigkeiten zugeordnet wird (vgl. ebd.: 40). Im Gegensatz zum deklarativen Gedächtnis benötigt es eine wiederholte Darbietung eines Reizes, um Wissensrepräsentationen aufzubauen. Daraus folgt, dass einerseits das Lernen langsamer erfolgt, dass aber andererseits das schon gelernte Wissen schneller und automatisierter abgerufen werden kann als im deklarativen System.

Obwohl beide Gedächtnissysteme miteinander interagieren, können ihnen unterschiedliche neuronale Aktivitäten zugewiesen werden. Aufgaben, die das deklarative Gedächtnis beanspruchen, aktivieren beispielsweise Bereiche im medialen Teil des Temporallappens (v. a. im Hippocampus). Das prozedurale Gedächtnis hingegen zeigt primär Aktivitäten in den Basalganglien und im Cerebellum (Brodmann-Areal 6 und 44; vgl. Ullman 2016: 954–956).

Ullman (2016: 956–958) geht davon aus, dass im Grunde beide Systeme über ähnliche Fähigkeiten verfügen und sich damit einhergehend prinzipiell ähnliches Wissen aneignen können. Dank der schnellen Lernfähigkeit wird gerade am Anfang eines Lernprozesses auf das deklarative System zurückgegriffen, bis sich durch mehrmalige Darbietung eines Reizes auch Repräsentationen im prozeduralen System ausbilden. Das Wissen im deklarativen System scheint dabei intakt zu bleiben.

Als Vertreter der non-interface-Position verstehen Ullman (2016) und Paradis (2009) Prozeduralisierung nicht als die Transformation von explizitem in implizites Wissen, sondern als die simultane Herausbildung von implizitem Wissen in einem anderen Gehirnareal. Dies führt dazu, dass immer mehr auf das implizite/prozeduralisierte und immer weniger auf das explizite Wissen zurückgegriffen wird:

Proceduralization could not refer to the transformation of particular explicitly known rules into implicit computational procedures, but only to the gradual replacement of the use of explicit knowledge […] by the use of implicit competence newly (and independently) acquired through repeated use […]. Acquisition is not […] the proceduralization of explicit knowledge because an implicit procedure does not constitute the faster and faster application of an explicit rule; it operates on the basis of principles of a different type (Paradis 2009: 16; Hervorhebung durch den Verfasser).

Die eben dargestellten neurobiologischen Grundannahmen werden von den deklarativ-prozeduralen Modellen von Ullman (2001, 2015, 2016) und Paradis (2004, 2009) übernommen und auf den L1- und L2-Erwerb angewandt. Im Folgenden wird das Modell von Ullman im Detail dargestellt und auf jenes von Paradis nur an jenen Stellen eingegangen, an denen sich die beiden Modelle unterscheiden. Ullman (2015: 140, 2016: 958) geht im Hinblick auf den L1- und den L2-Erwerb davon aus, dass jede Art von idiosynkratischem Sprachwissen mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Dies betrifft beispielsweise einfache Inhaltswörter inklusive deren (phonologischer) Form, Bedeutung, zugrunde liegender grammatikalischer Informationen sowie deren Form-Bedeutungs-mappings.1 Außerdem werden auch unregelmäßige morphologische Formen, Redewendungen etc. in diesem System gespeichert (vgl. Ullman 2016: 958).

An dieser Stelle unterscheiden sich die Modelle insofern, als Paradis (2009: 12–22) den Unterschied zwischen Lexikon und Vokabular betont (für überblicksartige Darstellungen zum mentalen Lexikon vgl. Levelt et al. 1999: 4; Müller-Lancé 2003; Raupach 1997: 21): Ersteres bezieht sich – so Paradis – auf die impliziten grammatikalischen Eigenschaften der lexikalischen Items (= lemma-stratum bei Levelt et al. 1999: 4), und somit explizit nicht auf die Form-Bedeutungs-Assoziationen, die er Vokabular nennt (= form- und conceptual-stratum; vgl. ebd.). Laut Paradis (2009: 12) werden die grammatikalischen Eigenschaften des Lexikons im L1-Erwerb mithilfe des prozeduralen, das Vokabular sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb durch das deklarative System erworben. Beide Modelle haben Vor- und Nachteile: Paradis kann die Unterscheidung zwischen explizit/implizit bzw. deklarativ/prozedural aufrechterhalten und muss im Gegensatz zu Ullman nicht erklären, warum die implizite grammatische Information des lemma-stratum im deklarativen System abgespeichert sein sollte. Ullmans Modell hat allerdings den Vorteil, dass es die einzelnen Strata eines lexikalischen Eintrags des mentalen Lexikons – aufgrund der vermeintlich unterschiedlichen Speicherung im deklarativen bzw. im prozeduralen Gedächtnis – nicht getrennt voneinander behandeln muss.

Im Allgemeinen schreibt Ullman (2016: 958–959) dem deklarativen System eine enorme Bandbreite an Lernmöglichkeiten zu, sodass im Prinzip nicht nur idiosynkratisches Wissen, sondern auch regelbasierte Aspekte einer Sprache mithilfe dieses Systems (implizit oder explizit) gelernt werden können. Laut Ullman (2015: 141) hängt jede Art von implizitem und probabilistischem Lernen (z. B. Sequenzlernen) sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb prinzipiell vom prozeduralen System ab. Allerdings unterliegt das prozedurale System einer sensiblen Phase (vgl. Grotjahn 2005; Herschensohn 2013; Johnson/Newport 1989 für einen allgemeinen Überblick zum Faktor Alter), sodass laut Ullman (2001: 108–111) ein wesentlicher Unterschied zwischen dem L1- und dem L2-Erwerb darin besteht, dass Grammatik vor der Pubertät mithilfe des prozeduralen Systems gelernt wird, wohingegen sich Spracherwerb ab dem frühen Erwachsenenalter durch einen stärkeren Rückgriff auf das deklarative System auszeichnet (vgl. auch Paradis 2009: X):

Whereas earlier learners rely largely on procedural memory for grammatical computations, later learners tend to shift to declarative memory for the same ‘grammatical’ functions, which are moreover learned and processed differently than in earlier learners. Thus processing of linguistic forms that are computed grammatically by procedural memory in L1 is expected to be dependent to a greater extent upon declarative memory in L2 (Ullman 2001: 109).

Dieser stärkere Rückgriff auf das deklarative System im L2-Erwerb hat laut Ullman zwei Auswirkungen: (1) Durch den fehlenden Zugriff auf das prozedurale System werden die sprachlichen Formen memoriert und wie andere Lexeme im mentalen Lexikon gespeichert. Nur durch die Fähigkeit des deklarativen Gedächtnisses, Muster von auswendiggelernten Formen auf neue zu übertragen, entsteht Produktivität in der L2. (2) Einige grammatikalische Regeln können zwar mithilfe des deklarativen Gedächtnisses gelernt werden, unterscheiden sich aber möglicherweise wesentlich von den L1-Regeln. Sowohl Ullman (2001: 110) als auch Paradis (2009: XI) nehmen jedoch an, dass mit höherem Sprachniveau in der L2 der Zugriff auf das prozedurale System erhöht werden kann.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass laut den beiden deklarativ-prozeduralen Modellen jede Art von idiosynkratischem Wissen sowohl im L1- als auch im L2-Erwerb mithilfe des deklarativen Systems gelernt wird. Regelbasierte Aspekte und probabilistisches Lernen beruhen hingegen vermehrt auf dem prozeduralen System, das allerdings einer sensitiven Periode zu unterliegen scheint, was dazu führt, dass L2-Lerner ab dem frühen Erwachsenenalter vermehrt auf das deklarative System zurückgreifen. Dies kann den Mangel des prozeduralen Systems zwar bis zu einem gewissen Grad kompensieren, aber nicht vollständig ausgleichen.

3.4 Unterschiede zwischen dem L2- und dem L3-Erwerb

In den letzten Kapiteln wurde bis auf wenige Ausnahmen immer vom L1- und vom L2-, aber nur selten vom L3-Erwerb gesprochen. Lange Zeit sah man keine Notwendigkeit, zwischen dem Erwerb einer L2 und jenem einer L3 zu unterscheiden. Sharwood Smith (1994: 7; Hervorhebung im Original) beispielsweise definiert eine Zweitsprache folgendermaßen:

‘Second’ language will normally stand as a cover term for any language other than the first language learned by a given learner or group of learners […] irrespective of the number of other non-native languages possessed by the learner.

 

Der Terminus Zweitsprache1 (L2) wurde (und wird) als Begriff verwendet, der alle Sprachen miteinschließt, die sich ein Individuum nach dem Erwerb einer L1 aneignet (vgl. Hammarberg 2010: 92–93). Die fehlende terminologische Differenzierung lässt darauf schließen, dass die zugrunde liegenden Prozesse beim Erwerb einer L2 und jenem einer L3 als nicht unbedingt unterschiedlich angesehen wurden (bzw. werden) (vgl. Jessner 2006: 14). Diese Ansicht wird von der sich in den 1990er-Jahren herausbildenden Drittspracherwerbsforschung kritisch hinterfragt. Anlass dafür sind mehrere Studien, die zeigen, dass sich bi- und multilinguale Personen von monolingualen unterscheiden (für einen neueren Überblick vgl. Cenoz 2013: 74–77; De Angelis 2007: 115–120; Hirosh/Degani 2018; Jessner 2014: 180–181; Jessner/Megens/Graus 2016: 193–194; Peukert 2015: 1; Ruiz de Zarobe/Ruiz de Zarobe 2015: 398). Ein wesentlicher Unterschied ist beispielsweise, dass multilinguale Lerner auf mehrere Transferbasen zurückgreifen können. Außerdem haben sie „eine nachweislich höhere Bewusstheit in Bezug auf die Sprache(n) selbst als auch auf die eigene Mehrsprachigkeit und auf das eigene Lernen inklusive der eigenen Lernstrategien“ (Hufeisen 2003: 97). Hufeisen (2000: 209–214, 2010) versucht, diese Unterschiede im sogenannten Faktorenmodell2 herauszuarbeiten. Mit jeder neu gelernten Sprache werden weitere Faktoren, die den Erwerb beeinflussen, in das Modell integriert. Die wesentlichen Aspekte werden im Folgenden kurz angesprochen.

Das Faktorenmodell geht davon aus, dass die L1-Aneignung vor allem von neurophysiologischen Faktoren wie beispielsweise der generellen Spracherwerbsfähigkeit und von bestimmten lernerexternen Faktoren wie der Lernumwelt oder dem Input abhängt. Gemäß Hufeisen (2010: 202–203) kommen beim Lernen einer L2 weitere Einflussfaktoren hinzu:

 Zusätzliche lernerexterne Faktoren wie Art und Umfgang des Inputs

 Emotionale Faktoren wie Motivation oder (Lern-)Angst

 Kognitive Faktoren wie das metasprachliche Bewusstsein oder diverse Lernstrategien

 Linguistische bzw. sprachliche Faktoren (die L1 als erste Transferbasis)

Nun gibt es aber laut Hufeisen auch zwischen dem Lernen einer L3 und jenem einer L2 qualitative und quantitative Unterschiede. Zu der eben genannten Liste fügen sich beim L3-Lernen noch weitere Faktoren hinzu, zu denen unter anderem der Komplex der sogenannten ‚Fremdsprachenspezifischen Faktoren‘ zählt, den Hufeisen (2010: 201; Hervorhebung im Original) folgendermaßen beschreibt:

Sprachlernerfahrungen sind vorhanden, eventuell ein expliziertes und anwendbares Wissen darüber, wie an den neuen Sprachlernprozess erfolgversprechend herangegangen werden kann, eine vermutlich größere Gelassenheit gegenüber dem (wieder einmal) Neuen und Fremden. […] Diese […] Fremdsprachenspezifischen Faktoren […], die sich erst ab einer L2 einstellen und entwickeln, aber mit dem Lernen einer L3 wirksam werden können[, machen] […] den wesentlichen Unterschied zwischen dem Lernen einer L2 und dem Lernen einer L3 aus […].

Wie Abbildung 4 veranschaulicht, handelt es sich bei den fremsprachenspezifischen Faktoren beispielsweise um individuelle Fremdsprachenlernerfahrungen sowie um Fremdsprachenlernstrategien als auch um die Lernersprachen bzw. interlanguages (vgl. Selinker 1972) der bereits gelernten Sprachen, sei es die L2 im L3-Erwerb oder die L3, L4, Lx im L4-, L5-, Lx-Erwerb:

Abb. 4:

Lernen einer L3 im Faktorenmodell – fremdsprachenspezifische Faktoren (vgl. Hufeisen 2010: 204)

Im Unterschied zum L2-Erwerb, in welchem nur auf eine Sprache, die L1, zurückgegriffen werden kann, haben die L3-Lernenden zusätzlich noch mindestens eine weitere Sprache, die sie als Transferbasis nutzen können. Wie in Kapitel 3.3 dargestellt, beruht das Lernen einer L2 stärker auf dem deklarativen Gedächtnissystem als das Lernen einer L1. Damit geht einher, dass in einer L2 im Normalfall ein sowohl quantitativ als auch qualitativ stärker ausgeprägtes explizites Wissen vorhanden ist. Obwohl sich das L2-/L3-Lernen im Hinblick auf den Rückgriff auf das deklarative Gedächtnissystem gleicht, unterscheidet es sich dadurch, dass auf ein zusätzliches Sprachsystem (jenes der L2) zugegriffen werden kann, welches naturgemäß viel explizites Wissen bereitstellt.

Die eben dargelegten Unterschiede zwischen dem L1-, dem L2- und dem L3-Erwerb machen es notwendig, die Begrifflichkeiten der Erst-, Zweit- und Drittsprache voneinander abzugrenzen. Die häufige Praxis, alle Sprachen, die nach der L1 gelernt wurden, unter dem Terminus Zweitsprache zu subsumieren, greift zu kurz, da sie den im Faktorenmodell dargestellten Unterschieden nicht gerecht wird (vgl. Hammarberg 2010: 92–93). Oftmals wird für die Unterscheidung zwischen den gelernten Sprachen eine rein chronologische Darstellung herangezogen. Die erste gelernte Sprache wird als L1, die zweite als L2, die dritte als L3 usw. bezeichnet (vgl. Hammarberg 2010: 93). Diese Vorgehensweise ist insofern problematisch, als es häufig schwierig ist, eine chronologische Auflistung vorzunehmen, zumal Spracherwerb oftmals simultan stattfindet (vgl. Hammarberg 2010: 93–94, 2017: 7–9). Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Arbeit eine andere Definition angewendet. Eine Drittsprache wird als jene Sprache definiert, die in der aktuellen Lebenssituation der Lernenden, die bereits über eine oder mehrere Erst- bzw. Zweitsprachen verfügen, erworben wird und der keine L1-Erwerbsprozesse zugrunde liegen:

[T]he term third language (L3) refers to a non-native language which is currently being used or acquired in a situation where the person already has knowledge of one or more L2s in addition to one or more L1s (Hammarberg 2010: 97; Hervorhebung im Original).

Diese Definition ermöglicht es, den L3-Begriff als eine Erweiterung der L2-Kategorie zu verstehen. So kann sich der Terminus L3 beispielsweise in einem Forschungskontext auf jene L2 der Probanden beziehen, die im Rahmen der Studie als Zielsprache im Fokus steht. Laut Hammarberg (2010: 97) hat die Verwendung dieser Terminologie den Vorteil, dass alle Sprachen, denen keine L1-Erwerbsprozesse zugrunde liegen, unter dem traditionellen Begriff der L2 subsumiert werden können und nur die im Fokus stehende Sprache als L3 bezeichnet wird. Termini wie L4, L5 etc. sind nicht nötig, was wiederum eine gewisse terminologische Klarheit schafft. Im Falle der vorliegenden Arbeit handelt es sich somit beim Spanischen um eine Dritt- oder Tertiärsprache (L3). Alle anderen nicht nativen Sprachen werden als Zweit- oder Sekundärsprachen (L2) bezeichnet; es handelt sich dabei um das Englische, das Französische und das Lateinische.

3.5 Konklusion: L2- ≠ L3-Erwerb

In den letzten Kapiteln wurde Lernen im Allgemeinen und Sprachlernen im Speziellen als ein auf allgemeinen kognitiven Prozessen beruhender, hochkomplexer und dynamischer Vorgang beschrieben, der von unterschiedlichen Faktoren wie beispielsweise Frequenz, Salienz oder Prototypikalität beeinflusst wird. In Anlehnung an die deklarativ-prozeduralen Modelle von Ullman und Paradis wird außerdem davon ausgegangen, dass das Langzeitgedächtnis in ein deklaratives und ein nichtdeklaratives (v.a. prozedurales) System unterteilt werden kann. Diese Modelle nehmen an, dass L2- und L3-Lernen im Unterschied zum L1-Erwerb vermehrt auf dem deklarativen System beruht, vor allem was die Aneignung von grammatikalischen Phänomenen betrifft. Durch den Erwerb einer L2 werden somit unter anderem explizite grammatikalische Wissensrepräsentationen im deklarativen Gedächtnis aufgebaut, die beim Erwerb einer L1 üblicherweise fehlen. Hufeisen betont im Faktorenmodell deshalb, dass sich das Lernen einer L3 von jenem einer L2 unterscheidet, da L3-Lerner neben den fremdsprachenspezifischen Faktoren unter anderem auch auf diese expliziten Wissensrepräsentationen der L2 zurückgreifen können bzw. von diesen beeinflusst werden. Dadurch ist das metasprachliche Bewusstsein von L3-Lernenden besser ausgeprägt, was einen der wesentlichen Unterschiede zwischen multi- und monolingualen Menschen ausmacht. Im Faktorenmodell wird unter anderem darauf eingegangen, dass der L3-Erwerb vom sprachlichen Vorwissen der Lernenden beeinflusst wird. Dieser Einfluss einer Sprache auf eine andere wird traditionellerweise als Transfer bezeichnet. Wie Transfer genau definiert wird, von welchen Faktoren er abhängt und wie er modelliert werden kann, wird im nächsten Kapitel näher beleuchtet.

4 Transfereffekte im Zweit- und Drittspracherwerb

Der Terminus Transfer stammt nicht wie häufig angenommen aus Lados (1957) Werk Linguistics Across Cultures, sondern ist bereits bei Wilhelm von Humboldt (‚hinübertragen‘, lat. TRANSFERRE) oder bei Hugo Schuchardt (‚übertragen‘) zu finden. Die erste englische Verwendung des Terminus transfer findet sich schließlich in einem Artikel von William Dwight Whitney aus dem Jahre 1881 (vgl. Odlin/Yu 2016: 5–6). Transfer1 wird in Anlehnung an Odlin (1989: 27) als „the influence resulting from the similarities and differences between the target language and any other language that has been previously (and perhaps imperfectly) acquired“ definiert. Sharwood-Smith (1994: 198; Hervorhebung im Original) beschreibt ihn als „the influence of the mother tongue on the learner’s performance in and / or development of a given target language; by extension, it also means the influence of any ‘other tongue’ known to the learner on that target language“. In Anlehnung an diese beiden Zitate kann Transfer demnach als der Einfluss einer Sprache auf eine andere Sprache definiert werden. Er kann prinzipiell auf allen sprachlichen Ebenen stattfinden und ist oft auf sprachstrukturelle Ähnlichkeiten oder Unterschiede zurückzuführen. Je nachdem, ob er sich positiv oder negativ auf die Zielsprache auswirkt, wird er als positiver oder negativer Transfer bezeichnet.

Das Ziel der Transferforschung ist es, zu beschreiben und zu verstehen, wie sich sprachliches Wissen auf die Produktion, das Verständnis und den Erwerb einer Zielsprache auswirkt (vgl. De Angelis 2007: 19). Die nachfolgenden Darstellungen fokussieren primär, wie Transfer den Erwerb einer Zweit- bzw. einer Drittsprache beeinflussen kann. Nachdem der Begriff an sich definiert wurde, wird im nächsten Kapitel auf die Anfänge der Transferforschung eingegangen. Im Anschluss werden die wichtigsten Einflussfaktoren diskutiert. Dazu zählen unter anderem die Sprachtypologie oder das Sprachniveau. In Kapitel 4.3 werden schließlich aktuelle Transfermodelle beschrieben und einige Studien diskutiert, die empirische Evidenz für die entsprechenden Modelle liefern.