Licht über weißen Felsen

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»Mr Crazy Eagle, wieder einmal auf Besuch bei uns? Hat die Universität auch schon Ferien?«

Sie gab Geld heraus. Wakiya zählte es bedächtig und legte es dem Mann mit den toten Augen in das geöffnete Portemonnaie. Dabei schossen die Gedanken wie sich kreuzende Blitze durch Wakiyas Kopf. Crazy Eagle? War das Davids Vater, der fern von der Reservation noch das Studium der Rechte begonnen hatte und nur in den Ferien und selbst da nur selten zu seiner Frau Margot und seinem Sohn David heimgekommen war? War der Mann mit den toten Augen dieser Ed Adlergeheimnis, von den Geistern »Verrückter Adler« genannt, da sie um die Geheimnisse nicht wussten?

Warum ließ er sich nicht von seinem Sohn David helfen, der doch hier war?

Was wollte er von Wakiya?

Der Blinde ließ sich Wakiyas Korb reichen und legte zwei von den bezahlten Fleischpaketen in diesen.

»Das ist für deine Mutter, Wakiya, für dich und deine Geschwister. Du hast deine Sache gut gemacht.«

Wakiya stieg das Blut bis zu den Schläfen. Er schaute auf die beiden Fleischpakete. Soviel Fleisch auf einmal hatte es in der Hütte daheim noch nie gegeben. Wie hatte der Mann mit den toten Augen Wakiyas geheimen Wunsch erraten können? Es gab zweierlei Augen, äußere und innere. Wakiya war glücklich.

Dann kam das, was er immer gefürchtet hatte, mit schrecklicher Gewalt hervor. Seine Glieder fingen an zu zucken und er stöhnte. Während Mrs Whirlwind, Margot Crazy Eagle und Miss Lawrence herbeieilten, packte Wakiya die Krankheit, schleuderte ihn und warf ihn hin, und er hörte noch die Schreckensschreie der anderen, bis er dann nichts mehr wusste, als dass er gequält und gerissen wurde und um sich schlagen musste, obgleich er es nicht wollte.

Während Wakiya selbst gar nichts mehr wahrzunehmen vermochte, hatten Mrs Whirlwind und Miss Lawrence die Kinder der beiden Klassen rasch aus dem Laden hinausgeführt. Manche Kinder der ersten Klasse hatten noch nichts in ihren Korb gelegt oder den Korb in der Verwirrung mit zum Bus genommen. Die beiden Frauen hatten genug zu tun, um zu sammeln und zu ordnen, während Margot und Ed Crazy Eagle bei Wakiya knieten, ohne den schweren Anfall mehr brechen zu können.

Die Kassiererin geriet in eine unvernünftige Aufregung. »Um Himmels willen, schaffen Sie ihn fort! Schaffen Sie ihn augenblicklich weg! Wie kann man ein solches Kind überhaupt zur Schule schicken – und dann noch hier im Laden …! Wie verantwortungslos! Was ist das überhaupt? Es ist ja furchtbar!«

Als der Anfall endlich nachließ, brachte Margot Crazy Eagle das Kind, das noch nicht wieder bei sich war, in ihren bereitstehenden Wagen. Blass setzte sie sich an das Steuer, neben sich David, während ihr Mann hinten saß und Wakiya auf seinen Schoß gebettet hielt.

So kam Wakiya zum ersten Mal in das Haus seines Freundes David.

Es dauerte lange und war schon Abend, als er wieder um sich schauen und seine Umgebung betrachten und beobachten konnte. Es war ihm dabei noch unheimlich zumute, da er sich nicht daheim in der Blockhütte wiederfand.

Endlich aber ließ er es gern geschehen, dass David bei ihm saß und seine schlaff gewordene Hand hielt.

Durch das Fenster sah Wakiya die Abendsonne am Horizont, den runden Schild, die Blutfarbe. Er trank etwas Wasser aus einem Becher. Die Familie Crazy Eagle bewohnte ein Haus bei der Agentursiedlung, wo es eine Wasserleitung gab wie in der Schule. Margot war Krankenschwester und Fürsorgerin; das erklärte sie Wakiya jetzt. Sie kannte seine Muttersprache. Aber Ed, der blinde Mann, der aus einem anderen Stamm kam, kannte diese Sprache nicht.

Die beiden erzählten Wakiya dies und das leise, um ihn von seiner Erinnerung an den Anfall abzulenken. Wakiya hörte wie über eine weite, leere Strecke hinweg zu und schaute unentwegt in das Gesicht mit den toten Augen.

»Wer hat dir die Augen genommen, Crazy Eagle?«

»Der Schmutz und der Sand. Wir waren arm daheim, Wakiya, und hatten noch weniger Wasser als du und deine Mutter.«

Wakiya dachte nach. »Der Alte war auch blind.« Diese Worte sagte er in seiner Muttersprache. Margot und Ed schauten sich an, und Margot übersetzte. Es gab mehr als einen Blinden und viele Augenkranke. Ed und Margot konnten nicht wissen, wen Wakiya meinte, und sie wollten nicht in ihn dringen.

Wakiya aß einen Happen Fleisch. Er lag auf der Küchenbank; die anderen saßen am Küchentisch bei ihm. Die Möbel glänzten weiß und die Fenster hatten weiße Rahmen wie in der Schule. Wakiya ging wieder in sich zurück. Doch konnte er von dem Gedanken, dass Ed Adlergeheimnis blind sei und doch fern von der Reservation die Worte und Schliche der Geister lernte, nicht loskommen. Er wollte etwas fragen und wusste doch nicht, wie und was. Sie saßen alle um ihn herum; er war aber nicht gewohnt, in dieser Weise im Mittelpunkt zu sein. Rings um ihn war alles fremdartig, und er wusste nicht, wie er hier wieder heraus und nach Hause kommen könnte. Er dachte auch an den Alten und daran, wie er selbst die verlorenen Augen wiedergefunden hatte und dass er das dem Alten nicht mehr sagen konnte. Der Alte ruhte schon lange im Grab, die Geister aber herrschten.

»Teacock ist ein böser Geist.«

Margot und Ed schauten sich wieder verwundert an. Sie konnten nicht ahnen, auf welchen Wegen Wakiyas Gedanken auf den Namen dieses Lehrers gestoßen waren. Vielleicht war Byron Bighorn von ihm gescholten worden, und das Erlebnis wühlte noch in ihm?

Teacock war nicht nur Mathematiklehrer; er hatte sich zu einer Art Befehlshaber in der ganzen Schule gemacht und wurde von den meisten Schülern, ja, auch von manchem Lehrer gefürchtet und gehasst. Margot wusste das. Fragend schaute sie David an, der sie verstand und ihr zu Hilfe kam.

»Warum denkst du denn jetzt an den, Wakiya? Er unterrichtet nur von der siebten bis zur zwölften Klasse, nicht bei uns Kleinen.«

»Er ist ein böser Geist. Weißt du das nicht mehr, David?«

Die Kinder sprachen jetzt in ihrer Muttersprache. David erinnerte sich wie mit einem Schlag. »Aber er hat Miss Lawrence doch nicht angezeigt, und uns hat er schließlich gelobt.«

Wakiya betrachtete David lange stumm.

Margot Adlergeheimnis fing an, sich auch zu erinnern. »Du kannst das dem Vater erzählen, David. Ich glaube, wir haben ihm das nie berichtet.«

David fand Spaß daran, dem Vater die Geschichte zu berichten. Er sprach jetzt wieder englisch, da er mit seinem Vater überhaupt nur englisch sprechen konnte. Die Stammessprache des Vaters hatte er nicht gelernt. David besaß nicht nur ein gutes Gedächtnis. Die Begegnung mit Teacock hatte ihm großen Eindruck gemacht, und er konnte sich noch an alle Einzelheiten und an alle Worte, die dabei gesprochen wurden, genau erinnern.

» … zum Schluss aber sagte Mr Teacock noch: Schüler, die nicht Englisch lernen wollen, sind auf einem falschen Weg. Sie werden nur zu leicht Diebe und Mörder, wie es Joe King geworden ist, der die schöne Sprache unserer Welt dann im Gefängnis zu lernen hatte und nun ein Auswurf der Menschheit geworden ist.«

David war sehr stolz, dass er alles richtig zu Ende gebracht hatte.

Wakiya spannte seinen Willen an, der in dem geschwächten und kranken Körper trotz allem mächtig war. Es war ihm bewusst, dass er in diesem Augenblick oder niemals genau erfahren würde, was Teacock über Inya-he-yukan zu sagen gewagt hatte.

»Ich habe nicht alles verstanden.«

David wiederholte die ganze Unterredung, alle Worte Theodore Teacocks geduldig in der Stammessprache. Menschen waren nicht so hastig und ungeduldig wie die Geister.

Wakiya passte genau auf und schrieb alles in sein eigenes Gedächtnis wie ein Krieger seine Nachrichten auf Büffelhaut. Er schrieb mit der unverwischbaren Farbe des Schmerzes.

Ed Crazy Eagle hatte am Ende des englischen Berichts aufgehorcht, er hatte schweigend die Übersetzung abgewartet. Nun fragte er: »Wer ist das, Joe King?«

»Ein Verbrecher, der leider von unserer Reservation stammt.«

Margots Stimme war traurig wie immer, wenn sie etwas Bösem oder einem Hindernis des Guten begegnete. »Er sitzt jetzt wieder in Untersuchungshaft unter schwerem Mordverdacht.«

Wakiya war aschfahl geworden, und Margot fürchtete einen neuen Anfall. Aber das Kind blieb ruhig. »Ich habe wieder nicht genau verstanden.«

»Das brauchst du auch nicht alles zu wissen, Byron. Das sind Angelegenheiten der Erwachsenen, und sie sind trübe genug.«

Wakiya hatte wie jedes in alter Tradition erzogene Indianerkind gelernt, den Erwachsenen nicht zu widersprechen. Aber sein ganzes Gesicht flehte, und niemand wollte die Verantwortung dafür übernehmen, ihn aufzuregen.

David fragte seine Eltern stumm um Erlaubnis und erklärte: »Joe King ist ein böser Mensch. Er soll jetzt einen Geist getötet haben. Darum ist er in Gefangenschaft bei den Geistern.«

Wakiyas bleiches Gesicht wurde plötzlich dunkel. Was sollte er jetzt tun, was sagen? David hatte die schändlichen Worte Teacocks wiederholt, er hatte einen Wehrlosen das zweite Mal berührt, und auch Margot Adlergeheimnis hatte Inya-he-yukan beschimpft. Jene Augen, die wie die Nacht waren mit unbekanntem Licht, schauten Wakiya an, wenn er die Lider schloss. Durfte er schweigen? War das feige? War das Verrat? Was musste er tun, um nicht das Gesicht jener Augen für immer zu verlieren? Alles wollte er hergeben, auch sein Leben, aber nicht die Augen, die er wiedergefunden hatte. Er wollte ganz und in allem bei seinem Bruder sein, dem er begegnet war.

»Ich lerne auch nicht gut Englisch.« Wakiya sprach die Sprache der Geister, damit ihn alle sogleich verstehen konnten. »Ich werde auch einmal Menschen töten.« Und er dachte an Theodore Teacock und war zugleich voll schmerzlicher Verzweiflung über Margot Crazy Eagle, die Wakiya geholfen hatte, als es ihn schleuderte und schüttelte, und die mit ihrem Antilopenblick und ihrem weichen Mund sich doch nicht schämte, Inya-he-yukan zu verleumden und den Geistern, die ihn jetzt gefangenhielten, recht zu geben. Inya-he-yukan war gefangen! Seine Augen stießen sich an den Mauern, die die Geister um ihn errichtet hatten. Vielleicht töteten ihn die Geister. Was konnte es sonst noch zu denken geben? Nichts.

 

Margot, Ed und David Crazy Eagle waren so betroffen, dass sie erst nach langer Zeit wieder ein Wort herausbrachten.

»Kind, Wakiya, was redest du da? Du bist ein guter Schüler. Du kommst jetzt in die zweite Klasse. Nie wirst du einen Menschen töten. Mr Teacock überlegt nicht immer, was er sagt, wenn er zornig ist, und Joe King hat ihn allzu sehr aufgebracht, als er noch in eure Schule ging.«

Noch in eure Schule ging! Inya-he-yukan hatte auf den Stühlen, an den Tischen, in den Räumen gesessen, in denen jetzt Wakiya saß. Wakiya legte den Kopf auf sein Kissen zurück, als ob er schlafen wollte. Er wollte aber nur träumen. Daran konnten ihn weder Steinmauern noch Geister hindern. Träume gingen frei aus und ein. Inya-he-yukan war stolz, groß, stark, schlank wie ein junger Krieger. Er würde seinen Feinden auch als Gefangener zu widerstehen wissen. Wakiya-knaskiya träumte für einen Bruder, der sich in Not befand.

Da Wakiya die Augen nicht mehr öffnete, ließ Margot ihn ruhen und breitete nur eine Decke über das Kind, dessen Mund im Traume lächelte. Sie blieb die Nacht über bei ihm sitzen. David und sein Vater legten sich endlich im Zimmer nebenan zu Bett.

Die Ferien gingen vorüber. Es war ein schlechter Sommer. Stürme und Wirbelstürme brausten übers Land, Bäume brachen, und den Ranchern entstand Schaden an ihrem Vieh. Wakiya konnte nicht oft an seinem Platz in der Prärie sitzen. Er gewöhnte sich daran, in der Hütte auf der Decke zu liegen, wie auch der Vater es in den Jahren seiner Krankheit oft getan hatte. Wakiya-knaskiya hatte erfahren, wie die Geister die Krankheit nannten, an der sein Vater gestorben war – Diabetes oder Zuckerkrankheit – und welchen Namen die Krankheit trug, die ihn selbst quälte – Epilepsie.

Die Unterrichtsstunden begannen wieder, und Wakiya lief den weiten Weg, das dritte Jahr nun, als Schüler der zweiten Klasse. Der Weg fiel ihm so schwer wie je, und gegen das Lernen wurde er gleichgültiger, weil er meist müde war. Jeden Monat einmal kam Margot Crazy Eagle in die Schule, um sich nach Krankheiten der Kinder zu erkundigen. Jedes Mal begrüßte sie Wakiya, aber meist schaute er sie gar nicht an, wenn er kurz und undeutlich antwortete. Den Grund dafür konnte sie nicht finden, und so schob sie alles auf seine Schwäche und seine Krankheit, die ihn von den Altersgenossen mehr und mehr fernhielten. Die anderen Kinder konnten das Entsetzen noch nicht vergessen, mit dem sie Wakiyas Anfall in dem Laden miterlebt hatten. Sie scheuten sich unwillkürlich vor ihm, auch wenn die Lehrerin ihnen zu erklären versuchte, dass sie zu Wakiya besonders freundlich und hilfsbereit sein sollten. David saß beim Mittagessen mit seiner Klasse an einem anderen Tisch, und Wakiya schloss sich seit jener Nacht in Davids Heim gegen ihn auch bewusst ab.

So schlich das Schuljahr dahin, und Wakiyas Leistungen ließen nach. Der einzige Mensch, mit dem er sich in dieser Zeit zusammenfand, war seine Mutter, die sich feindselig von Menschen und Welt zurückzog, seitdem sie fürchtete, Wakiya zu verlieren, wie sie seinen Vater verloren hatte.

Gegen Ende des Schuljahres, im Juni, behielt die Mutter Wakiya drei Tage zu Hause, damit er sich von einem Anfall auf dem Schulweg besser erholen konnte. Als er wieder zur Schule ging, gab sie ihm kein Entschuldigungsschreiben mit, denn sie konnte kaum schreiben, und bis dahin waren Wakiyas Schulversäumnisse durch schwere Hindernisse wie Schnee und Sturm immer von selbst entschuldigt gewesen.

Wakiya meldete sich bei seiner Klassenlehrerin, einem jungen, blonden, eifrigen Geistermädchen. Das Geistermädchen schimpfte sehr, weil Byron Bighorn unentschuldigt gefehlt hatte. Er hörte sich ihre Worte an, antwortete gar nichts und setzte sich wieder an seinen Platz. Aber sie hieß ihn aufstehen, und er musste die ganze Stunde hindurch vorn vor der Klasse stehen, weil er unentschuldigt gefehlt hatte und sich auch jetzt nicht entschuldigen wollte. Wakiya schwieg beharrlich, denn er schämte sich, von seinen Anfällen zu sprechen. Miss Gish aber wusste nichts von Wakiyas Krankheit und auch nicht, welchen weiten Weg er täglich zu laufen hatte. Es war ihr nur eingeprägt worden, dass sie bei indianischen Schülern nicht die geringste Disziplinlosigkeit durchgehen lassen dürfte.

Am Ende des Schultages wurde Byron Bighorn auf das Rektorat gerufen. Dort saß eine ernste, strenge Frau mit brauner Haut und schwarzem Haar. Sie wartete lange auf Wakiyas Erklärung oder Entschuldigung. Als sie nicht mehr zweifeln konnte, dass auch sie von dem Kind keine Antwort erhalten würde, gab sie ihm einen Brief, den er seiner Mutter zu bringen hatte.

Der Tag war schwül. Nachmittags fühlte sich die harte Erde selbst für Wakiyas dickhäutige Fußsohlen heiß an. Er lief langsamer als sonst nach Hause und gab seiner Mutter am Abend stumm den Brief.

Sie öffnete ihn, aber ihre geringen und halb wieder vergessenen Schulkenntnisse reichten nicht hin, um ihn zu lesen. So gab sie den Brief Wakiya zurück. Er las vor und übersetzte nach bestem Wissen.

»Ihr Sohn, Byron Bighorn, ist der Schule drei Tage lang unentschuldigt ferngeblieben und hat auch nachträglich keine Entschuldigung vorgebracht. Die Eltern sind dafür verantwortlich, dass ihre Kinder die Schule besuchen. Bleiben die Kinder unentschuldigt fern, so werden die Eltern mit Gefängnis bestraft. Wir sind leider gezwungen, beim Superintendent Anzeige gegen Sie zu erstatten.«

Die Mutter kam ins Gefängnis! Wakiya aber würde mit den kleinen Geschwistern allein sein – allein würde er Brot, Mehl, Fett holen – allein bis zur Agentursiedlung und zurück laufen müssen – und die Schule wieder versäumen – und selbst auch ins Gefängnis kommen.

Wie Inya-he-yukan.

So mochte eben alles seinen Lauf nehmen.

Wakiya legte sich auf die Decken in der schwülheißen Blockhütte und schaute zum Dach hinauf, durch das der Rauch des Herdofens abzog.

Die Mutter sagte gar nichts. Aber schon vor Anbruch des nächsten Tages kochte sie drei Tagesrationen für die Kinder, schnürte ein kleines Bündel und ging fort. Wakiya machte sich nicht viel später auf den Weg zur Schule. Er hörte die Fragen der Lehrerin an diesem Tag überhaupt nicht und musste eine Strafarbeit schreiben, während die anderen Kinder in der Pause spielten. In der Zeichenstunde durften die Kinder mit Buntstiften malen. Sie konnten sich das Bild, das sie malen wollten, selbst ausdenken. Als manche ratlos schauten, sprach die Lehrerin von dem schönen, schnellen Schulbus, in dem jeden Morgen und jeden Nachmittag kleine Jungen und Mädchen in bunten Hemden und bunten Blusen saßen. Vielen Kindergesichtern war anzusehen, dass sie nun wussten, was sie malen würden, und dass sie sich freuten. Wakiya hatte die Worte der Lehrerin an sich vorbeifließen lassen. Er brauchte keine Ratschläge. Er hatte ein eigenes großes Vorhaben. Sein Gesicht war sehr ernst, und ehe er zu malen begann, saß er einige Minuten da, in sich gekehrt und nur mit seinen Gedanken und Träumen beschäftigt, wie ein Geheimnismann, der einen Zauber beschwören will. Endlich fing er an, mit seinen bunten Stiften zu malen. Seine Augen glühten, und das Blut pulste ihm bis in die Fingerspitzen. Er wollte das Bild malen, das Teacock töten würde. Er wollte den bösen Geist in das Bild bannen und töten. Teacock würde sterben. Sobald das Bild gemalt war, war Teacock tot, auch wenn er vor den Augen der unwissenden Geister noch einige Monde und Sonnen wie lebend umherlief.

Wakiya malte mit der bunten Kreide den getöteten bösen Geist, der seinen Skalp verloren hatte. Als die Bilder am Ende der Stunde eingesammelt wurden, zeigte es sich, dass ein anderer Schüler Tatanka-yotanka gemalt hatte, den einst aufständischen und dann ermordeten Häuptling. Die übrigen Kinder hatten den Schulbus gemalt. Die Lehrerin hätte das von Wakiya gemalte Bild am liebsten verschwinden lassen, weil sie schon wusste, dass sie selbst Schwierigkeiten dadurch haben würde. Aber sie wagte doch nicht, es beiseite zu bringen, sondern schloss es mit anderen Bildern zusammen in den Schrank ein. Die drei besten Bilder des Schulbusses mit seinen kleinen Insassen wurden an der Wand des Klassenzimmers angebracht.

Als Wakiya nach diesem Schultag heimkam, traf er die Mutter an, die einen Teil des vorgekochten Essens aufwärmte. Schweigend aßen Mutter und Kinder miteinander.

Auf dem Nachtlager, während die Kleinen schon schliefen und draußen noch viele Grillen im Grase zirpten, erzählte Eliza Bighorn ihrem Ältesten: »Ich war bei Margot Adlergeheimnis, und sie hat mir einen Brief an den Superintendenten geschrieben. Von dort haben sie mich mit dem Brief zum Gericht geschickt. Ed Adlergeheimnis ist Richter geworden bei uns, obgleich er in einem fremden Stamm geboren wurde. Er hat ausgelernt im Hohen Haus der Geister, alle Schliche und Tücken. Aber er hat mich nicht ins Gefängnis geschickt. Ich brauche nicht ins Gefängnis zu gehen. Er wird das an die Schule schreiben.«

Wakiya atmete tief auf und klammerte sich an die Mutter.

»Noch etwas, hör zu, Wakiya. Ich habe es gehört, als ich beim Superintendenten wartete. Inya-he-yukan, den die Geister Joe King nennen, ist wieder frei. Sie sollen ihn Tag und Nacht befragt haben, so dass er nicht schlafen konnte. Aber er ist ein tüchtiger Bursche, das ist das Blut der Inya-he-yukan. Sie haben ihm nichts bewiesen, und er ist frei.«

»Mutter – kommt er wieder in die Prärie?«

»Wie soll ich das wissen, Wakiya, er geht und kommt wie der Wind. Aber seinen alten Vater wird er bestimmt einmal besuchen, obwohl sich die beiden immer schlagen, wenn sie beisammen sind. Der Alte trinkt zuviel von dem Zauberwasser der Geister.«

Die Mutter hatte keinen anderen Vertrauten mehr als Wakiya, und wenn sie überhaupt sprechen mochte, sprach sie mit ihm.

In der Schule herrschte in den nächsten Tagen große Aufregung. Die Schüler flüsterten und munkelten, und im Lehrerzimmer wurde diskutiert. Das Bild, das Wakiya gemalt hatte, war bekannt geworden, niemand wusste recht, auf welche Weise. Theodore Teacock hatte den Toten als sich selbst identifiziert; er fühlte sich getroffen und beschwerte sich über Lehrerin und Schüler bei der Rektorin. Die Zeichenlehrerin und Wakiya wurden zusammen auf das Rektorat gerufen. Theodore Teacock stand schon dort.

»Sehen Sie sich dieses Bild an! Das ist die Schule des Joe King. Ich bitte, diese Angelegenheit auf das strengste zu untersuchen! Auch Joe King hat mich schon als Schüler bedroht. Jetzt läuft er wieder frei herum; er treibt sich herum, bis sein geschorener Kopf wieder mit Haaren bedeckt ist, dann ermordet er den nächsten Menschen, und vielleicht bin das ich!«

»Vorsorgliche Haft gibt es nicht, Mr Teacock. Es ist nichts geschehen und ich kann gegen Joe King keinen neuen Haftbefehl beantragen.«

Die Rektorin blieb ernst und streng.

»Nichts geschehen! Als ob das Bild hier nicht genügt! Nie kommt ein Kind von acht Jahren selbst auf den Gedanken, mich ermorden zu wollen! Das ist ihm von einem Verbrecher eingegeben worden!«

»Byron Bighorn, hast du Joe King irgendwo getroffen?«

Wakiya schüttelte den Kopf. Mit Joe King hatte er nichts zu schaffen. Der ihm einmal den Wassereimer getragen hatte, das war Inya-he-yukan.

»Es ist nichts zu machen, Mr Teacock. Ich finde die Ähnlichkeit des Bildes mit Ihnen auch nicht eben groß. Ich werde nachforschen, ob den Kindern etwas im Fernsehen gezeigt worden ist. Vielleicht stammen von daher die blutrünstigen Phantasien.«

Theodore Teacock ging, nur halb erleichtert. Wakiya und die Lehrerin wurden auch entlassen.

Wakiya summte vor sich hin, was er sonst nie tat. Es war ihm nicht nur gelungen, Teacock zu töten. Es war ihm gelungen, ihn in Schrecken zu setzen. Wie feige war der mächtige Geist! Er hatte Angst vor Inya-he-yukan.

Beim Abschluss der zweiten Klasse erhielt Wakiya eine sehr schlechte Betragenszensur. Auch seine Leistungen waren wieder merklich zurückgegangen. Doch wurde er noch in die dritte Klasse versetzt.

In den ersten Ferientagen wollten Mrs Whirlwind und Margot Crazy Eagle den Busausflug in die Agentursiedlung und den Einkauf im Selbstbedienungsladen mit den Kindern wiederholen, und sie freuten sich nach den im allgemeinen guten Erfahrungen des vergangenen Sommers, diesmal vier Klassen mitzunehmen. Die Lehrer waren der Meinung, dass der Ausflug zum Erlernen der englischen Sprache angefeuert habe. Wakiyas Klasse sollte wieder teilnehmen. In Wakiya wurden die Schreckenserinnerungen wach. Doch glaubte Margot Adlergeheimnis, dass diese Erinnerungen am besten durch eine neue, gute Erfahrung überwunden werden könnten und auch die anderen Kinder nicht etwa glauben sollten, dass Wakiya nun nicht mehr mitfahren dürfe. Sie wollte Wakiya mit David zusammen in ihren eigenen Wagen nehmen und die Nacht vorher und nachher bei sich behalten, damit er sich möglichst wenig anstrengen musste. Margot Adlergeheimnis wurde zu ihrem besonderen Eifer noch durch eine unausgesprochene Absicht angetrieben. Vielleicht fand sie eine Gelegenheit zu erforschen, was sich Wakiya bei dem Bild gedacht hatte, um das soviel Unruhe entstanden war. Mutter Bighorn gab Wakiya widerwillig die Erlaubnis mitzugehen. Sie wollte nicht Ed Adlergeheimnis kränken, der ihr das Gefängnis erspart hatte. So kam es, dass Wakiya bis zur Straße lief, die in seinen Augen noch immer eine Schlange war, und dort nachmittags von Margot mit dem Wagen in Empfang genommen wurde. Er begegnete ihr kühl, wenn auch nicht eben feindselig. Vielleicht hatte sie ihre falschen und beleidigenden Ansichten über Inya-he-yukan inzwischen geändert.

 

Auf der Fahrt zur Agentursiedlung ging es durch einen heftigen Platzregen hindurch. Die Scheibenwischer wurden mit der triefenden, klatschenden Nässe kaum mehr fertig. Als der Regen aufhörte, blieb der Himmel mit einem drohenden Gelb am Horizont noch verschwommen leuchtend, und für die Nacht wurden weitere Unwetter erwartet. Die Menschen in der Siedlung waren besorgt. Sie sicherten die Fensterläden und verrammelten die Türen, die nicht unbedingt gebraucht wurden. Die Feuerwehr stand in Alarmbereitschaft. Die Büros waren bereits geschlossen.

Wakiya sah sich das alles gleichgültig an. Er war ein Leben in der Wildnis ohne viel Schutz gewöhnt. Als Margot Adlergeheimnis den Wagen in der Garage abstellte, fragte er mit den Augen, ob er etwas tun oder helfen könne. Margot freute sich über die Hilfsbereitschaft des Kindes und kam auf den Gedanken, Wakiya rasch noch zu einem Einkauf zu schicken. Sie gab ihm Geld und bat ihn, ein halbes Kilogramm Margarine in dem Selbstbedienungsladen zu holen, ehe dieser schloss.

Wakiya lief los, das Geld in der Hand.

Der Selbstbedienungsladen lag an einer Ecke der Agenturstraße, die jetzt menschenleer war. Vor dem Laden, ein paar Schritte von der der Hauptstraße zugewandten Schaufensterscheibe entfernt, stand ein junger Mann, groß gewachsen. Er betrachtete nicht das Schaufenster, sondern blickte die Straße hinunter, als ob er jemanden erwarte. Sein weißes Hemd klebte vor Nässe an Brust und Schultern; seine schwarzen Jeans waren durchnässt, und nass war der schwarze Cowboyhut. Der junge Mann musste wohl in dem Sturzregen draußen gewesen sein.

Wakiya spielte mit dem Geldstück in der Hand, als ob er nochmals überprüfe, was er für den geplanten Einkauf auszugeben habe. Halb verdeckt spähte er nach dem Ledergürtel des Mannes und nach einem Messergriff, der am oberen Rand des rechten Schaftstiefels sichtbar wurde. Wakiya erkannte diesen Griff sofort wieder, wenn ihm auch sonst der Mann fremd geblieben wäre. Es war der Griff zu einer schmalen, spitzen Klinge.

Wakiya sah Joe King und sein Stilett.

Wakiyas Herz klopfte, aber er versteckte sich vor sich selbst und seinen brennenden Wünschen und wollte an Joe King vorbei schnell in den Laden huschen. Er wagte nicht einmal, ihm einen Augenblick ins Gesicht zu sehen. Von irgendwoher bedrückte ihn die Angst, dass er Inya-he-yukans Augen nicht darin wiederfinden würde oder dass sie ihn verbrennen müssten, wenn er zu neugierig war.

Aber ein »Hi!« ließ seine Füße anhalten. Er stand da und blickte zu Boden.

»Komm, bring mir eine Schachtel Zigaretten aus dem Laden mit.«

Die Stimme ging Wakiya durch Leib und Glieder, die Worte waren unwichtig. Als er auf den Mann zulief, erkannte er das Gesicht, ein noch junges, mageres Gesicht, scharf aus natürlicher Anlage, schärfer geworden im Leben, und Inya-he-yukans Augen schauten ihn an.

Wakiya nahm das Geldstück. Die Hand, die es ihm gab, war schlank gewachsen. Er lief in den Laden, legte Margarine in den Korb und ließ sich von der Kassiererin eine Schachtel Zigaretten geben. Bei den Zigaretten bekam er noch etwas Geld heraus. Die blonde Kassiererin, die sonst keinen Kunden im Laden hatte, war unaufmerksam und langsamer als sonst. Sie äugte durch die Schaufensterscheibe und murmelte vor sich hin: »Damned, das ist doch Joe King.«

Als Wakiya den Laden verließ, war auf der gegenüberliegenden Seite noch ein zweiter Mann aufgetaucht, ebenfalls groß, breiter in Schultern und Hüften und mit etwas hellerer Haut. Auch er trug die übliche Kleidung, aber in bunten Farben.

Wakiya hatte sich die Fähigkeit bewahrt, das Unausgesprochene zu begreifen, wenn es stark gefühlt und gedacht wurde. Diese beiden jungen Männer, die auf der leeren Straße einander gegenüber standen, waren Feinde. Jeder von ihnen tat, als ob der andere nicht vorhanden sei und nicht bemerkt zu werden brauche. Beide schauten in der gleichen Richtung die Straße hinunter, als ob sie jemanden erwarteten.

Joe King nahm die Zigaretten und den Rest Geld. Seine Mundwinkel waren durch ständige Gewohnheit herabgezogen, hassgeformt, spöttisch. Jetzt spielte ein ungewohntes, zartes, ernsthaftes Lächeln darum; das war Inya-he-yukan. Wakiya fühlte, dass er wiedererkannt war, und auch er lächelte wie ein erster Sonnenstrahl nach grauem Wetter.

»Bei wem wohnst du hier?« Inya-he-yukan sprach die Stammessprache.

Wakiya schämte sich, ohne nachzudenken, warum.

»Ich wohne bei Margot Adlergeheimnis. Aber nur zwei Nächte.« Joe King spuckte aus. Er tat es in Richtung des Mannes auf der anderen Straßenseite; so waren zwei Gegner auf einmal mit der Geste der Verachtung getroffen.

»Bei ihr wirst du ja gehört haben, dass ich ein Dieb und ein Mörder bin.« Aus den dunklen Augen war etwas wie Feuer gekommen, das Wakiya heiß brannte.

»Ich töte auch einen Mann, Inya-he-yukan. Einen Geist.«

Joe King fuhr zusammen, als ob er einen völlig unerwarteten Schlag erhalten habe. Es konnte sonst nicht seine Art sein, sich verblüffen zu lassen. Er wunderte sich wohl nicht nur über Wakiya, sondern ebenso über sich selbst und fragte aus seinem Verwundern heraus langsam, als ob er einen erwachsenen Menschen vor sich habe: »Wen tötest du? Und wie ist dein Name?«

»Mein Name ist Wakiya-knaskiya. Ich töte Theodore Teacocks Bild, das tötet ihn selbst. Er hat dich beleidigt, Inya-he-yukan.«

Der Mann kämpfte mit seiner eigenen zerrissenen Stimmung, er schwankte zwischen Drohung und Lachen.

»Theodore Teacock wirst du nicht töten, Wakiya-knaskiya. Ich will es nicht. Er gehört nicht in den Tod, er gehört an den Schandpfahl. Er gehört nicht dir, er gehört mir. Er muss leben, bis ich ihm vor aller Ohren bewiesen habe, dass er falsch geschworen hat und dass ich nie gestohlen habe. So lange lebt er.«

Wakiya war erschrocken. »Du bist stärker als ich, Teacock ist dein. Du kannst meinen Zauber aufheben.«

»Lauf heim, Wakiya-knaskiya. Es gibt bald einen bösen Sturm.«

Wakiya machte kehrt. Er hörte dabei noch, dass ein altes, knatterndes Auto von fern die Straße heraufkam, und spürte, wie die beiden verfeindeten jungen Männer auf das Geräusch horchten. Inya-he-yukan zog ein einzelnes Streichholz aus der Tasche, brachte es mit einem Schnippen des Daumennagels zum Brennen und steckte sich eine Zigarette an. Er schaute nicht mehr die Straße hinunter, sondern drehte seinem Gegner den Rücken zu und schien die Auslagen im Schaufenster zu betrachten.