Sprachenlernen im Tandem

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3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen

In der Gattungsanalyse wird die Struktur der kommunikativen Vorgänge auf der Grundlage natürlicher Interaktionsdaten untersucht. Dabei handelt es sich um verschiedene Ebenen. Zunächst wird eine Differenzierung zwischen „Binnenstruktur“ textueller Elemente und „Außenstruktur“ sozialstruktureller Aspekte vorgenommen (Luckmann 1986: 203). Dazwischen liegt die „strukturelle Zwischenebene“ (Günthner/Knoblauch 1997: 288). Im Folgenden erläutern wir diese Ebenen.

Unter Binnenstruktur kommunikativer Gattungen sind textinterne Elemente, verbal und nonverbal, zu verstehen. Sie sind konstitutiv für die betreffenden Gattungen. Dazu zählen phonologische Variationen und prosodische Mittel, wie Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Rhythmus, Akzentrierung, Stimmqualität. Die Auswahl einer spezifischen Sprachvarietät (z.B. Hochsprache, Jargon, Dialekt, Soziolekt, Sprachregister) wie auch der Einsatz expressiver Ausdrücke (z.B. mimische, gestische Elemente) gehört ebenfalls dazu. Syntaktische Konstruktionen (z.B. Frageformate, Imperativformen, Pronomen, Passivkonstruktionen, Konjunktionen) sind auf der binnenstrukturellen Ebene angesiedelt. Ferner gehören stilistische und rhetorische Figuren (z.B. Metaphern, Ellipsen, Wortspiele, Lautmalereien, hyperbolische Ausdrücke) sowie die bereits verfestigten Klein- und Kleinstformen (z.B. Sprichwörter, formularische Ausdrücke, idiomatische Redewendungen, verbale Stereotype) zum Repertoire der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. Gliederungsmerkmale sind ebenfalls der binnenstrukturellen Ebene zuzuordnen. Inhaltliche Verfestigungen, die Themen oder Motive betreffen, sowie die Rahmung (wie die Formen des Adressatenbezugs, in/direkte Adressierung der Hörer, das „recipient-design“), die die Beziehung zwischen Sprechenden und Rezipienten indiziert, können konstitutive Merkmale kommunikativer Gattungen sein. Darüber hinaus bildet die Interaktionsmodalität (ernst, spaßhaft, lustig, seriös, fiktiv usw.) ein Merkmal der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. In der Analyse der Binnenstruktur müssen auch die Besonderheiten des Mediums (mündlich, face-to-face, medial usw.) berücksichtigt werden.

Die strukturelle Zwischenebene kommunikativer Gattungen umfasst die Aspekte der dialogischen Konstruktion. Dabei ist die Konversationsanalyse, die sich mit Gesprächsorganisation (wie Redewechsel, Paarsequenzen, Prä-, Post- und Einschubsequenzen, Präferenzstrukturen) auseinander setzt, für die Analyse dieser Ebene besonders wichtig. Darüber hinaus zählen Rituale – wie Kontaktaufnahme und -beendigung, Begrüßung und Verabschiedung, Einladung, Entschuldigung, Danken und Wünschen – auch zum Repertoire der strukturellen Zwischenebene kommunikativer Gattungen.

Die Außenstruktur kommunikativer Gattungen bezeichnet die Beziehungen zwischen Gattungen und sozialen Milieus, kommunikativen Situationen, Geschlechterkonstellationen, Alter und Status der Handelnden, der Institutionen usw. Nach Bergmann/Luckmann (1995) geht es hier um die Strukturebene, die aus dem Zusammenhang zwischen kommunikativen Handlungen und der Sozialstruktur abzuleiten ist.

Zur Außenstruktur gehört erstens die Beziehung zwischen Gattungen und kulturellen Gruppen. Kommunikative Gattungen sind häufig kulturellen Gruppen oder sozialen Milieus (z.B. Familien, Studentengruppen, Sportclubs usw.) zugeordnet. Außerdem zeichnen sie sich auch durch typische soziale Veranstaltungen aus. Mit sozialen Veranstaltungen sind strukturierte Handlungen gemeint, die zeitlich und räumlich festgelegt und teilweise institutionalisiert sind. Dazu zählen z.B. Hochschulseminare, Eltern-Lehrer-Gespräche wie auch informelle Tischgespräche in Familien und unter Freunden. Die Verwendung bestimmter Gattungen in solchen sozialen Situationen fördert die Konstruktion der Gruppenzugehörigkeit bzw. der Identifikation.

Andererseits tragen kommunikative Gattungen zur Herstellung institutioneller Kontexte bei. Beispielsweise zeichnet sich die religiöse Kommunikation durch spezifische Gattungen wie Gebet, Predigt, Gottesdienst usw. aus, während die Kommunikation im universitär-akademischen Bereich aus Gattungen wie Seminaren, Vorlesungen, Vorträgen, Referaten, Klausuren, Kolloquien usw. besteht.

Weiterhin ist die Beziehung zwischen kommunikativen Gattungen und der Sozialstruktur einer Gesellschaft auf der außenstrukturellen Ebene angesiedelt. Viele soziale Beziehungen entstehen durch Kommunikation. Macht, Geld und Wahrheit werden nicht nur durch Wissen zugänglich gemacht. Wichtig ist, dass das Wissen in bestimmten Situationen kommuniziert werden kann (Günthner/Knoblauch 1997: 299). Mit der Zunahme der Bedeutung der Kommunikation sind kommunikative Gattungen, die konstitutiv für soziale Handlungen sind, besonders wichtig. Ihre Distribution in verschiedenen sozialen Milieus und ihre Zugänglichkeit für die Mitglieder der Gesellschaft spielen eine erhebliche Rolle. Der Erwerb kommunikativer Gattungen wird als eine gesellschaftlich kommunikative Kompetenz betrachtet. Das Repertoire einzelner Mitglieder an kommunikativen Gattungen übt wiederum einen Einfluss auf den Zugang zu Milieus, Institutionen, Status, Macht usw. aus.

Die oben beschriebenen Ebenen (die Binnenstruktur, die strukturelle Zwischenebene und die Außenstruktur) stellen die grundlegenden Analyseebenen des Gesamtmusters kommunikativer Gattungen dar. Die Gattungsforschung ist zwar relativ jung, jedoch bestehen bereits verschiedene Studien dazu. Im Folgenden wird ein allgemeiner Überblick über diesen Forschungsbereich geboten.

3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen

Gattungsforschung rückt seit der Entwicklung der Theorie kommunikativer Gattung von Luckmann (1986) zunehmend in das Interesse sowohl der soziologischen als auch der linguistischen Forschung. In zahlreichen Untersuchungen hat sich die soziologische Gattungsanalyse als fruchtbar erwiesen (Günthner/Knoblauch 1994).

Eine der ersten, auf natürlichen Gesprächen basierenden Untersuchungen stellt die Studie Bergmanns (1987) über Klatschgespräche dar. Mit ethnomethodologischer Konversationsanalyse wirft er einen neuen Blick auf diesen Gegenstand. Klatschgespräche als rekonstruktive Gattungen der alltäglichen Kommunikation werden in seiner Forschung als „Sozialform der diskreten Indiskretion“ zusammengefasst. Mit „Sozialform“ ist die Einbettung dieser spezifischen Interaktionsform in die Gesellschaft gemeint. Bergmann (1987) verdeutlicht anhand transkribierter Daten ein Muster der sequenziellen Organisation, in dem sich diese kommunikative Gattung realisiert und reproduziert. Eine Besonderheit dieser kommunikativen Gattung besteht in ihrer Mischung von Diskretion und Indiskretion.

Ulmer (1988) thematisiert Konversionserzählungen auf der Grundlage von 10 Gesprächen mit Konvertiten, in denen diese eine mündliche Darstellung ihrer eigenen Konversion geben. Ausgehend von der Hypothese, dass Konversionserzählungen eine rekonstruktive Gattung bilden, in der vergangene Ereignisse nach einem in der Gesellschaft formalisierten und verfestigten Muster nachgebildet werden, führt er eine empirische Untersuchung mit Hilfe der konversationsanalytischen Methode durch. In der auf rekonstruierten Beispielen basierenden Darstellung verdeutlicht er, dass die Konversionserzählung in drei zeitliche und thematische Teile gegliedert wird. Erstens bezieht es sich auf die Darstellung der vorkonversionellen Biographie. Im Anschluss daran wird das eigentliche Konversionsereignis produziert. Schließlich endet die Konversionserzählung mit der nachkonversionellen Lebensphase. Ferner weist Ulmer (1988) auch darauf hin, dass diese Dreigliederung der Konversionserzählung einem zentralen kommunikativen Problem in dieser Sozialsituation zugrunde liegt. Nach Ulmer (1988) besteht die Schwierigkeit für die Konvertiten darin, „die persönliche religiöse Erfahrung, die vom Erzähler als Ursache und Anlass der eigenerlebten Konversion geltend machen wird, auf plausible und glaubwürdige Weise darzustellen und intersubjektiv zu vermitteln“ (Ulmer 1988: 31). Die Struktur der Konversionserzählung, die gesellschaftlich sedimentiert und historisch gewachsen ist, gewährleistet die Lösung dieses Problems.

Eine umfassende und systematische Studie über informelle kommunikative Gattungen in der Alltagsinteraktion stellt Günthners (2000c) linguistische Arbeit zum Thema Vorwurfsaktivitäten dar. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, „diejenigen Verfahren zu rekonstruieren, die von Interagierenden eingesetzt werden, um den Sinngehalt ihrer Äußerungen erkennbar zu machen bzw. zu erkennen“ (Günthner 2000c: 2). Ausgehend davon wird in ihrer empirischen gesprächsanalytischen Untersuchung anhand 58 aufgezeichneter Gespräche in Familien- und Wohngemeinschaften sowie Telefongesprächen unter Bekannten und Freunden hauptsächlich zwei Ebenen nachgegangen. Einerseits analysiert sie die sprachlichen Formen und Funktionen der alltäglichen Vorwürfe. Andererseits widmet sie sich der Untersuchung kontextuell instituierter interaktiver Herstellung von Gattungen. Das heißt, die Analyse sprachlicher Merkmale der Gattung (z.B. syntaktische, lexikosemantische, prosodische, rhetorisch-stilistische Phänomene) wird nicht isoliert und in dekontextualisierter Form, sondern in Zusammenhang mit der Konstruktion der kommunikativen Muster durchgeführt.

Konkret untersucht Günthners (2000c) Studie drei Realisierungsformen der Vorwürfe:

 Die kommunikative Gattung der in-situ-Vorwürfe. Das sind diejenigen Vorwürfe, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf als Kritik am Verhalten des Gesprächspartners äußert. Bei der Interpretation spielen Intonation, Lautstärke, Stilisierungsverfahren usw. eine bedeutende Rolle.

 

 Die kleine Gattung der Frotzeleien. Damit sind spielerisch-spaßhafte Vorwurfsaktivitäten gemeint. Dabei wird zwar auch Kritik am Verhalten anwesender Personen geübt, aber die Kritik wird mit der Spiel- und Spaßmodalität geäußert.

 Die narrative Gattung der Beschwerdegeschichten. Hier handelt es sich um Rekonstruktionen vergangener Vorwurfsinteraktionen in Alltagserzählungen. Konfliktgespräche zwischen dem Erzähler und einer abwesenden Person werden wiedergegeben. Zur Markierung der Erzählereinstellungen und der fremden Reden werden unterschiedliche sprachliche Elemente und Stilisierungsverfahren eingesetzt.

Günthner (2000c) verdeutlicht in ihrer empirischen Untersuchung, dass die obengenannten kommunikativen Gattungen der Vorwurfsaktivitäten auf bestimmte Verfestigungen verweisen, sowohl auf der Ebene der sprachlichen Merkmale, als auch im Hinblick auf die interaktive Konstruktion der sprachlichen Handlungen. Diese formalisierten Formen gelten als Gattungen, die den Handelnden für die Lösung kommunikativer Probleme in der Alltagsinteraktion zur Verfügung stehen.

Während am Anfang der sprachsoziologisch orientierten Gattungsforschung vor allem sprachliche Handlungen in Alltagsinteraktion den Mittelpunkt bilden, werden später institutionelle kommunikative Vorgänge zunehmend ins Blickfeld genommen. Birkner (2001) widmet sich z.B. der Forschung der Bewerbungsgespräche zwischen Ost- und Westdeutschen. Mit den Methoden der Konversationsanalyse und der wissenssoziologischen Gattungsanalyse untersucht sie, ob sich in dem Bewerbungsgespräch rekurrente Unterschiede im sprachlichen Verhalten von Ost- und Westbewerbern feststellen lassen. Demzufolge führt sie zwei Forschungsstränge zusammen: die Analyse sprachlicher Merkmale bei der Realisierung des Bewerbungsgesprächs als eine institutionelle kommunikative Gattung einerseits und den Vergleich von Ost- und Westbewerbern andererseits. Ihr Korpus besteht aus 41 authentischen Bewerbungsgesprächen sowie Rollenspielen und Interviews mit Personalverantwortlichen.

In Anlehnung an Luckmanns (1986: 203) Differenz der drei Strukturen für die Gattungsanalyse (Binnenstruktur, Zwischenstruktur und Außenstruktur) analysiert Birkner (2001) zuerst das Bewerbungsgespräch als Gattung. Merkmale wie spezifische Strukturen, Formalität, kommunikative Ziele usw. werden anhand des vorhandenen Datenmaterials illustriert. Anschließend werden drei Punkte in Bezug auf Ost/Westdifferenzen besonders ins Auge gefasst:

 die Aushandlung von Gattungswissen

 Antworten auf typische Fragen

 der Umgang mit Nichtübereinstimmung im Gespräch.

Die Analysen zeigen, dass es im Bewerbungsgespräch zwischen einem Ostdeutschen und einem westdeutschen Interviewpartner häufig eine interaktive Bearbeitung von Gattungswissen gibt. Für die Ostdeutschen, die Neulinge auf dem westdeutsch dominierten Arbeitsmarkt sind, bedeutet das Bewerbungsgespräch in westdeutscher Prägung eine große Menge von neuen kommunikativen Normen und Regeln. Probleme, die durch das Fehlen des Gattungswissens entstehen, werden dann im Bewerbungsgespräch durch die interaktive Aushandlung sowie die Deutung des westdeutschen Interviewpartners bewältigt. Bei den Anworten auf typische Fragen im Bewerbungsgespräch (z.B. Selbstattributierung, Gehalt) verweisen Ost/Westdifferenzen nicht nur auf das Gattungswissen, sondern auch auf die konversationellen Stile. Während Westdeutsche zu einer direkten Anwort tendieren, zeichnen sich Ostdeutsche dagegen durch ihre Indirektheit aus. Im Umgang mit Nichtübereinstimmung bestehen auch auffällige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die westdeutschen Bewerbenden wählen häufig einen dissensorientierten Gesprächsstil. Im Gegensatz dazu zeigen sich die ostdeutschen Bewerber eher als konsensorientiert.

Im deutschsprachigen Raum beschränkt sich die linguistische Gattungsforschung nicht auf Gattungen in der deutschen Kultur. Das Forschungsinteresse richtet sich auch auf kommunikative Vorgänge in anderen Kulturen. Kotthoff (1999) analysiert beispielsweise Trinksprüche im Kontext der sozialen Veranstaltung des geselligen Beisammenseins in Georgien. Mit gesprächsanalytischer Methodik zeigt sie das Ritual dieser spezifischen kommunikativen Gattung auf. Die georgischen Trinksprüche sind von einer Abfolge von Handlungen, die in gleicher oder ähnlicher Weise mündlich aufgeführt werden, geprägt. Diese kommunikativen Handlungen sind kulturspezifisch sedimentiert. Zugleich weist die Autorin in ihrer Studie auch darauf hin, dass die Trinksprüche als eine spezifische kommunikative Gattung innerhalb einer Kultur neben den obligatorischen Elementen auch Variationen erlauben (Kotthoff 1999). Nach ihren empirischen Untersuchungsergebnissen können die Trinksprüche „Gebetsformeln, Narrationen, Scherze, Segnungen, Anrufungen an Gott usw. integrieren und dadurch eine je spezifische Nähe zu anderen Gattungen herstellen“ (Kotthoff 1999: 28). Bezogen auf die Funktion zieht sie aus ihrer Untersuchung die Schlussfolgerung, dass die Trinksprüche eine relevante Gattung der „moralischen Kommunikation“ (Kotthoff 1999: 35) sind. Anhand transkribierter Daten weist Kotthoff (1999) auf die implizite oder explizite Vermittlung moralischer Werte in den Trinksprüchen hin.

In Anbetracht der bisherigen Gattungsforschung ist zu beobachten, dass das Konzept der „kommunikativen Gattung“ sich in der linguistischen Forschung auf uneinheitliche Dimensionen bezieht. Während es bei Bergmanns (1987) Klatschgesprächen, Ulmers (1988) Konversionserzählungen und Birkners (2001) Bewerbungsgesprächen um das ganze Gespräch geht, handelt sich es bei Günthners (2000c) in-situ-Vorwürfen, Frotzeleien und Beschwerdegeschichten um Vorwurfsaktivitäten, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf verwendet. Ob unter dem Konzept der „kommunikativen Gattung“ das ganze Gespräch oder ein Teil des Gesprächsverlaufs zu verstehen ist, hängt von der begrifflichen Definition des sprachwissenschaftlichen Gattungskonzepts ab.

In der vorliegenden Arbeit wird eine besondere kommunikative Gattung, „Tandemgespräche“, die zwischen alltäglichen Gesprächen und Unterrichtsinteraktionen stattfindet, untersucht. Dabei stütze ich mich auf ein umfangreiches Datenmaterial. Bevor ich die Tandemgespäche thematisiere, seien im Folgenden die Merkmale der Alltagsgespräche und der Unterrichtsinteraktionen dargestellt.

3.2 Alltägliche Gespräche

Alltagsgespräche bilden als Forschungsgegenstand eine grundlegende und umfassende Kategorie in der Konversationsanalyse. Die führenden Vertreter dieses Forschungsansatzes sehen „in Alltagsgesprächen einen besonders geeigneten Gegenstand, um soziales Handeln im Detail zu beobachten und zu beschreiben“ (Gülich/Mondada 2008: 1). Unter diesem Aspekt betritt die Linguistikforschung Neuland, wenn sie sich der Untersuchung der gesprochenen Sprache und der mündlichen Kommunikation widmet.

Was die Definition der alltäglichen Gespräche betrifft, ist diese Ausrichtung in der Wissenschaft nicht unumstritten. Ehlich (1980) bezeichnet in seiner Studie zum Erzählen im Alltag den Begriff „Alltag“ als „die Lebenswelt der Mehrheit“ (Ehlich 1980: 16). Dazu schreibt er wie folgt:

Erzählen im Alltag zielt auf die Analyse eine Tätigkeit ab, die sich gerade in jener Sphäre des Üblichen, des Gewöhnlichen, des Tagtäglichen abspielt. Alltag ist ein Bereich, der die nicht-literarische, triviale Öffentlichkeit der Massen ausmacht, all jene Monotonie, scheinbare Bedeutungslosigkeit, Unscheinbarkeit, über die sich die Wissenschaften der Kultur lange, der Literaturwissenschaft als Leitwissenschaft folgend, einig waren. (Ehlich 1980: 16)

Für Ehlich (1980) wird „Alltag“ in das allgemeine soziale Leben integriert. Er ist in der Gesellschaft üblich, gewöhnlich und daher scheinbar bedeutungslos bzw. unauffällig, und er unterscheidet sich beispielsweise von der Literatur, die sich durch ihre Besonderheit aus dem tagtäglichen sozialen Handeln heraushebt. Die Literatur dient nach Ehlich (1980: 15) als eine der sogenannten „Illusionsindustrien“, andere Dimensionen dem Alltag gegenüberzustellen.

Im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Alltag und der Arbeit formuliert Ehlich (1980: 15), dass Alltag Werktag und Werktag Arbeit sei. Demzufolge wird also die Arbeitstätigkeit in den allgemeinen täglichen Lebensprozess miteinbezogen.

Eine genauere Definition des Alltagsgesprächs formuliert Lindemann (1990) folgendermaßen:

Traditionell wird dem Alltagsgespräch im Wesentlichen der gesamte Bereich der nicht-offiziellen Kommunikation, vor allem die private Lebenssphäre zugeordnet. Alltagsgespräche werden als spontane, zufällige, lockere und in einem umgangssprachlichen Ton geführte Gespräche verstanden (…), die zwischen Partnern stattfinden, deren Beziehungen zueinander keinen offiziellen Charakter haben, wodurch die sozialen Rollenunterschiede weitgehend in den Hintergrund rücken. Unter Alltagsgesprächen werden beispielsweise Gespräche mit Freunden und Bekannten, Gespräche in der Familie, Partygespräche oder small talks, wie etwa der Schwatz mit dem Nachbarn, oder zufällige Gespräche im Zugabteil verstanden. Aber auch Wegeauskünfte und in den institutionellen und öffentlichen Bereich hineinreichende Einkaufs-/Verkaufsgespräche bzw. Dienstleistungsgespräche im Allgemeinen, werden zu dieser Kategorie gezählt. (Lindemann 1990: 201)

Neben der konkreten Charakterisierung des Alltagsgesprächs (z.B. Spontaneität, Zufälligkeit, Umgangssprachlichkeit usw.) sind in Lindemanns (1990) Definition zwei Lesarten bezüglich der Arbeitstätigkeit zu beobachten. Man kann einerseits die Arbeitstätigkeit aus dem Alltagsgespräch, dem „die nicht-offizielle Kommunikation, vor allem die private Lebenssphäre zugeordnet wird“ (Lindemann 1990: 201), ausschließen. Andererseits können aber Einkauf-/Verkaufsgespräche bzw. Dienstleistungsgespräche, die im institutionellen und öffentlichen Bereich stattfinden, zu dem Begriff des Alltagsgesprächs gezählt werden. Es besteht zwar eine Gegenüberstellung zwischen dem alltäglichen Gespräch und der institutionellen Kommunikation, aber eine scharfe Grenze gibt es dabei nicht.

Schütte (2000) charakterisiert die alltäglichen Gespräche aus einer anderen Perspektive. Nach seiner Meinung sind Alltagsgespräche diejenigen Gespräche, „denen zusätzliche Kriterien zur Gesprächssortenbestimmung fehlen“ (Schütte 2000: 1488). Mit „Gesprächssorten“ meint Schütte (2000: 1488) vor allem folgende Interaktionstypen:

 Institutionelle Kommunikation. Sie zeichnet sich durch ihre Gesprächsregeln für den Sprecherwechsel, die Rederechtsverteilung, die Rolle des Gesprächspartners, die kontextuelle Situation, die Sprechakte und die Sprechaktsequenzen aus.

 Gespräche mit einem Zweck oder einer kommunikativen Funktion. Diese Gesprächssorte dient entweder zu einem bestimmenden Zweck, der im Verlauf der sprachlichen Handlung interaktiv ausgehandelt und ratifiziert wird, oder zur Erfüllung einer kommunikativen Funktion. Dazu zählen z.B. Verkaufsgespräche, Beratungsgespräche.

 Medienkommunikation. Dabei handelt es sich hauptsächlich um „inszenierte Gespräche“ (Schütte 2000: 1488). Die Interaktion dabei dient in erster Linie nicht der alltagsweltlichen Kommunikation, sondern der Vorführung. Die Äußerungen sind „mehrfachadressiert“ (Schütte 2000: 1489), nämlich die die Interagierenden in den Mediengesprächen selbst und das Publikum.

Anders als diese drei Gesprächssorten zeichnen sich Alltagsgespräche nach Schütte (2000) dadurch aus, dass sie nicht vorgeplant und primär zielorientiert sind. Außerdem lassen sich ihnen keine vorherige Rederechtsverteilung oder inhaltliche Eingrenzungen zuschreiben. Im Gegensatz zu den obengenannten Interaktionstypen bieten sie „einen Raum für freies ad-hoc-Formulieren“ (Schütte 2000: 1486).

In den oben genannten Definitionen in der Sprachwissenschaft ist zu beobachten, dass Alltagsgespräche sich nicht erschöpfend definieren lassen. Jedoch kann man auf der Grundlage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Begriff allgemeine wesentliche Merkmale zusammenfassen, die für die Konstruktion der Alltagsgespräche in der Konversationsanalyse konstitutiv sind. Bei der empirischen Analyse der Tandemgespräche werde ich auf folgende vier Merkmale zurückgreifen:

 Alltagsgespräche werden unmittelbar, spontan und interaktiv erzeugt

 

 Die Gesprächspartner in der alltäglichen Interaktion sind häufig gleichberechtigt

 Es gibt in der Regel keine Eingrenzung des Gesprächsthemas

 Sie finden meistens in nicht-offiziellen kommunikativen Situationen statt.

Davon ausgehend wird die kommunikative Gattung der Tandemgespräche, die zwischen den Alltagsgesprächen und der Unterrichtsinteraktion liegt, empirisch anhand der konversationsanalytischen Methode konstruiert und untersucht. Im Folgenden möchte ich die gattungsspezifischen Merkmale der Unterrichtsinteraktion vorstellen.

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