Liebe Familie

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Bis zum Juli sollte das Haus auf seinem alten Platz auseinander genommen werden. Für den August planten sie den Aufbau, recht nah neben dem Hotel. Danach konnten die Innenarbeiten beginnen. Zini hatte schon eine Landschaft entworfen, die auf die Fliesen der Schwimmhalle aufgebracht werden sollte. Sie war sehr glücklich über diesen Auftrag. Da sie die jüngste Hotelbesitzerin war, freute sie sich besonders, sich derart einbringen zu können. Tom erkannte schnell, woran ihr lag, und entschied, sie solle das Motiv entwerfen für die Fliesen. Das begeisterte das Mädchen.

Rena konnte so etwas nicht leisten, doch sie durfte unter den unterschiedlichen Motiven, die Zini zu Papier brachte, wählen. So hatte auch sie ihren Anteil. Felix als Entdecker der Hauses leistete ebenfalls Beistand.

Etwas später rief Markus an. Er hatte es geschafft, seinen Doktortitel noch vor der Hochzeit zu bekommen. „Das heißt dann wohl, dass in deinem neuen Pass nicht mehr Markus Proll steht, sondern Dr. Markus Reuenthal“, lachte einer seiner Freunde während der Feier. „Genau.“ „Was sagen deine Eltern dazu, dass du den Namen deiner Frau annehmen willst?“ „Sie wollen nicht, dass ich sie heirate – ich bin nur konsequent“, erwiderte Markus knapp.

„Muss schlimm sein – ohne Eltern …“, jammerte ein Mädchen. „Nein. Ich habe Sams Eltern, und die sind erste Sahne. Und gute Freunde. Mehr, als wir erwarten können. Denn Sam ist ja eigentlich Waise. Tom hat sie vor 10 Jahren adoptiert, als ihre Eltern tödlich verunglückten. Wir haben jetzt beide gute Eltern in Leo und Tom, nicht, Maus?“ „Ja“, Sam strahlte ihn an: „Und nur noch ein paar Tage, dann ist Hochzeit. – Dann trefft ihr unsere Eltern ja.“ Sie lachte leise. Bisher hatte sie nicht mal angedeutet, wer ihr lieber Papa war.

***

Der Hochzeitstag war ein Freitag, der 23. Mai 2003. Es regnete. Leona stand bereits um halb sechs am Morgen am Fenster und schaute hinaus in den Regen. Tom zeigte kein besonderes Interesse am Wetter, hörte sich ihre Klagen aber gelassen an. Sie seufzte tragisch.

„Es tröpfelt doch nur“, meinte er ruhig. „Tröpfelt? Dann tröpfelt es aber voll heftig.“ „Bis wir besseres Wetter brauchen, ist es noch ein bisschen hin. Und außerdem: The day of days is here“, schmetterte er vergnügt.

Leona wandte den Kopf und lächelte unwillkürlich: „Das, Hase, ist allerdings ein Geburtstagslied“, mäkelte sie. „Macht nichts. Ist doch nicht unsere Hochzeit, Schatz. Komm.“ „Wohin?“ „Hierher. Zu mir. Wohin wohl?“ „Reiß doch nicht ständig Witze.“ „Tue ich gar nicht. Ist meine letzte Chance. Wir kommen nicht mehr ins Bett bis … morgen in aller Frühe. Das sind unsere letzten Minuten, bevor das Chaos über uns hereinbricht, die Katastrophe zuschlägt, bevor uns die Familie mit Haut und Haaren frisst – als Brauteltern. Liebste, lass uns diese Chance nutzen …“

Er hatte stets großes Talent, sie zum Lachen zu bringen. So dumm die Sprüche auch waren, es half. Leona kicherte und krabbelte zu ihm ins Bett. „Also, Süße, wie lange bist du schon wach?“ „Nur ein paar Minuten, Tom.“ „Und warum läufst du zum Fenster? Den Regen siehst du auch von hier aus.“ „Keine Ahnung. Hoffnung? Der Wetterbericht war nicht so schlecht.“ „Komm, wir gehen noch mal alles durch, damit wir nichts vergessen.“

Seine Vernunft tat ihr gut. Alles lief prima, war perfekt vorbereitet. Einzig Felix vergaß eine Kleinigkeit: Er sollte Renas Geige mit in die Kirche nehmen. Doch der Geigenrucksack stand noch auf dem Flur zu Hause, als Rena in die Kirche kam. Sie hätte heulen können vor Wut und Frust über die Vergesslichkeit des Ältesten.

Fred Myers hörte die leise, heftige Diskussion der Geschwister. Felix hatte dazu auch noch sein Auto an einen Schulfreund verliehen, der einige der ältesten Kirchenchor-Damen abholte.

„Serena, komm schnell, ich fahre dich.“ „Aber wir sind spät dran. Die Braut …“ „Sam ist noch nicht fertig. Bleib ruhig, Kind. Wir laufen zu meinem Auto. Das steht da hinten“, zeigte er. Rena raffte ihr langes Kleid und hastete los.

Es war gut, dass sie noch mal in der Waldvilla aufkreuzten. So konnten sie auch Leona schon mitnehmen. Tom sollte seine Tochter fahren. Markus wartete bereits in der Kirche. Sie hatten sich für eine amerikanische Trauung entschieden.

Als sie aus dem Auto stiegen, winkte Fred einen anderen der Leibwächter näher. „Leona, das hier ist Günter Fitzmann. Er begleitet dich in die Kirche. – Serena, soll der Rucksack in meinem Auto bleiben?“ „Ja, gute Idee. Ich packe die Geige aus …“ Ihre Hände zitterten. „Bleib ruhig. Alles klappt. Wir haben noch immer einige Minuten Zeit“, sagte Fred gelassen.

In aller Ruhe nahm er ihr die Geige ab. „Danke. Es ist gut, dass du hier bist und mit uns feierst.“ „Ich feiere nicht, Serena. Ich arbeite“, sagte er: „Und du weißt auch, dass deine Eltern mich bezahlen. Bist du in letzter Zeit gewachsen?“ Er hielt ihr den Arm hin. „Nein. Das sind nur die Schuhe. Und jetzt?“ „Jetzt bringe ich dich an deinen Platz in der Kirche. Nein, ich trage die Geige. Du bist viel zu aufgeregt, du lässt sie nur fallen“, neckte er sie.

Zum ersten Mal kicherte Rena wieder. „Mach ich nicht. Na, egal. Glaubst du, ich wachse noch? Heute sind es echt nur die Schuhe mit den hohen Absätzen.“ „Keine Ahnung. Möglicherweise.“ „Mit fast 17? Ich bin wirklich ein mickriger Spatz.“ „Ist doch egal.“ „Du musst mich schon so nehmen, wie ich bin“, sagte sie bedrückt. „Wie bitte?“ fragte er überrascht.

Rena war ganz ernst: „Es ist nicht nur, dass wir so spät dran sind, Fred, oder die Sache, dass Felix die Geige vergessen hat. Ich glaube, so vor der Gemeinde – und dann die Hochzeit … Ich habe Lampenfieber. So fühlt sich das an.“ Die Hand auf seinem Arm bebte. „Dein Papa singt und du spielst. Ihr macht das doch öfter als jetzt hier in der Kirche. Du musst nichts befürchten. Du kannst es doch.“

Sie zuckte mit den Schultern und richtete ihren ängstlichen Blick auf die geöffnete Kirchentür. „Komm schon, kleiner Spatz, du kannst es. Du nimmst deine Violine, und das Volk erstarrt vor Ehrfurcht über dein Können – in diesem Alter.“ „Ich weiß nicht.“ „Was hast du gesagt, als wir in der Oper bei diesem Konzert waren: Du kannst es auch. Zeig jetzt, dass du es kannst.“

Doris hatte Opernkarten von ihrem Vater bekommen. Doch sie wollte nicht mit Michael gehen, und so waren die Karten bei Rena gelandet. Da Felix entsetzt ablehnte und klassische Konzerte grauenvoll fand, hatte das Mädchen den Bodyguard überredet. Sie hatten einen schönen Abend erlebt. Den ganzen Weg hin und zurück hatte Rena alles erzählt, was sie über die Komponisten und deren Werk wusste.

Zu dem Zeitpunkt war sie sich ihrer Sache sicher gewesen. Jetzt nickte sie nervös und lächelte vorsichtig: „Ich versuche es.“ „Du versuchst gar nichts. Du kannst es“, Fred blieb sehr bestimmt: „Serena, du bist ein wichtiger Teil dieser Hochzeit. Es ist deine Pflicht, es für deine Schwester und deinen Schwager perfekt zu leisten. Also mach es.“

Doch als sie saß und er seinen Wachtposten wieder einnahm, war er zornig über das, was sie ohne jedes Nachdenken gesagt hatte. Für einige Sekunden war es gefährlich gewesen, dieser Satz: Du musst mich nehmen, wie ich bin … In ihrer Unschuld hatte sie nicht bemerkt, wie er dem Missverständnis für einen kurzen Moment aufgesessen war. Seine heftige Reaktion darauf hatte sie nicht mal registriert. Er war froh, dass sie noch ganz Kind war, und entschied, sich besser zu kontrollieren. Niemals wieder, dachte er, wütend über sich selbst.

Pastor Oswald Hirbisch erlebte zum ersten Mal, wie der Brautvater die Tochter dem Schwiegersohn übergab. Er fand herzliche, fröhliche Worte, um das Brautpaar und die Gemeinde zu begrüßen. Er bemerkte heiter, so stoppenvoll sei die Kirche sonst allenfalls zu Weihnachten. Daniela Proll, Markus‘ Schwester, übernahm die Lesung aus der Bibel. Auch Cynthia las einen kurzen Text.

Leona hatte die Eltern von Markus in einer der letzten Reihen entdeckt. Trotz ihrer Ablehnung der Hochzeit waren sie also gekommen. Markus hatte sie ebenfalls gesehen, und auch einige andere Verwandte von ihm waren da. Jedoch nahm nur Daniela auch an der Feier teil. Er lächelte seiner Schwester zu – und Sams Eltern. Es war gut, sie alle auf der eigenen Seite zu wissen.

Rena und Tom gingen direkt nach der Trauung in den Altarraum, während das Paar nach dem Segen aufstand. Tom sang etwas aus dem „Phantom der Oper“ auf Deutsch und Englisch, von oben antwortete Nicole Tarrach. Das wunderbare Duett mit der Violinbegleitung überraschte alle. Keiner hatte mit Nicole gerechnet.

„Markus, dein Taschentuch“, wisperte Sam schluchzend vor Rührung. „Brauch ich selbst“, doch er teilte es mit seiner Braut. Sie waren nicht die einzigen, die tief gerührt lauschten.

Leona und Felix sprachen das Fürbittengebet. Das Schulorchester spielte. Es war ein schöner Gottesdienst, und sie vergaßen die meiste Zeit, dass professionelle Fotografen und Zeitungsreporter dabei waren.

Als Tom seine Rede beim Mittagessen hielt, schluchzte Sam laut und umfasste den Vater glücklich. Leona sah das an – und auch sie hatte nun Tränen in den Augen.

Während des Brauttanzes fasste Leona nach der Hand ihres Mannes: „Danke.“ „Wofür?“ „Deine Worte. Über ihre Eltern. Dass sie uns haben. Und das alles. Und überhaupt.“ „Leo, hör auf, das ist meine Pflicht. Väter halten Reden, Mütter weinen. Typisch Hochzeit.“ „Vor zehn Jahren hätte das keiner gedacht. Als Sams Eltern … Ich auch nicht. Dass wir mal so glücklich mit unserer Raubtiergruppe werden. Und wir beide …“ Tom lächelte und küsste sie, den Zuschauern zum Trotz.

„Du bist unmöglich.“ „Ist mir eine liebe Pflicht. Die Brautmutter zu küssen. Honey, ich liebe dich. Und eigentlich mag ich es gar nicht, wenn du dich wie jetzt in Tränen auflöst.“ „Dann darfst du nicht solche Sachen sagen, die mich zum Weinen bringen.“ „Eine Hochzeit, Leo, wie gesagt – Pflicht der Mütter“, spottete er: „Hast du gesehen, dass Felix mit Daniela tanzt?“ „Ja. Und da sind Jason und Rena. Jetzt ist sie wieder glücklich.“ „Allerdings. Dabei spielt sie hervorragend. Gut, dass sie nach New York geht. Du wirst dein ängstliches Kind hinterher kaum wieder erkennen.“

 

Doch das passierte Leona schon an diesem Abend. Da die Braut bat, sang Serena für die gesamte Gesellschaft. Sie bat Tom, ihre Geige zu übernehmen. Das hatten sie bisher erst einmal so gemacht, und sie wählte ein Lied, das Tom kannte – aus dem Musical „Elisabeth“. Sie machte es wie ihr Stiefvater in der Kirche: Halb Deutsch, halb Englisch – für die amerikanische Verwandtschaft. Eigentlich gehörte es zum Geschenk: Die Hochzeitsreise führte nach Wien ins Musical „Elisabeth“.

Leona staunte. Sie hatte nicht geahnt, wie viel Macht die Stimme ihrer jugendlichen Tochter besaß. Da stand dieses kleine Mädchen und sang sehr erwachsen. Auch in dem Lied kämpfte sie für ihre Rechte. Das Lied erzählte es deutlich: „I belong to me – Ich gehör' nur mir“.

Alle wollten mehr hören. Diesmal sang Tom zusammen mit Rena, die sich an das Klavier der Musikgruppe setzte. Auch das gelang großartig.

Einer der Bodyguards sagte trocken zu einem Kollegen: „Von dieser Hochzeit werde ich noch meinen Urenkeln erzählen.“ Jenny, die älteste von Toms Schwestern, hörte dien Satz und wandte den Kopf: „Warum?“ „Ich hätte nie erwartet, dass es in dieser Gesellschaft so herzlich und nett zugeht. Dass die Braut und der Bräutigam in Wackelpudding nach Euro-Münzen suchen und die Brautmutter sich als Geldwäscherin anbietet. Und dann mit ihrer chinesischen Freundin tatsächlich Münzen poliert. – Wer sind Sie?“ „Die Schwester vom Brautvater.“

Jenny amüsierte sich köstlich, als der junge Mann das Gesicht verzog, als habe er jetzt sicher ins Fettnäpfchen getreten. Im nächsten Moment tauchte Fred Myers an ihrer Seite auf: „Probleme?“ „Nein, überhaupt nicht“, Jenny gluckste und nahm Freds Arm. „Komm schon, du kannst mich mal zu den Schweden bringen. Du bist also der persönliche Bodyguard von Phil Williams?“

Fred guckte etwas verdutzt: „Warum fragen Sie?“ „Fred Myers, oder?“ „Ja.“ „Weißt du, du musst etwas Besonders sein. Mein Bruder hasst Leute in diesem Job und will die nicht in der Nähe haben. Du wohnst sogar mit ihm im Haus ... Meine Mutter hat mir von deinem Bett im Wintergarten erzählt. Und von eurem tollen gemeinsamen Weihnachtsfest.“ „Nach 9-11 meinte die Polizei – und die Familie, es könnte wichtig sein, jemanden in diesem Job in seiner Nähe zu wissen.“ „Ja, und nachdem meine neue Schwägerin spontan nach Hamburg gefahren ist. Du musst sauer auf sie gewesen sein. Tom auch.“ „Davon weiß ich nichts.“

Er blieb kühl und diskret. Jenny wunderte sich. Später erzählte sie ihrem Bruder von diesem Gespräch: „Dein Bodyguard ist ein Eiszapfen.“ „Er ist nur vorsichtig.“ „Und er kann nicht lächeln.“ „Dreh dich mal um – guck, Jenny, da drüben. Und wie er lächelt“, zeigte Tom belustigt.

Zini stand mit Tessa auf dem Arm vor Fred und erzählte etwas. Er grinste gerade schief und übernahm Tessa.

„Ja, Tom, vielleicht mag er Babys.“ „Ich glaube, ab und an mag er nicht mal sich selbst. Aber Leo adoptiert ihn irgendwie gerade.“ „Was?“ „Sie ist eine Retterin. Rettet die ganze Welt, wenn’s geht. Anfangs war sie ziemlich angesäuert, dass ich ihr einen Bodyguard aufgezwungen habe. Aber als Kindermädchen schätzt sie ihn sehr. Und er ist wirklich richtig gut in allem, was er tut, Jen.“ „Ja, heute mit den Journalisten – klar. Aber in deinem Haus?“ „Wenn ich diesmal wieder auf Tour bin, zieht er ins Blockhaus. Das dann hoffentlich fertig ist. – Winfried, hallo – noch ein Glas Wein?“

Er machte die Runde. Mit allen reden konnte ohnehin keiner. Den Grund für Zinis Gespräch mit Fred bekam auch keiner heraus. Sie hatte ausgerechnet diesen festlichen Abend genutzt, um sich von ihrem Freund Ricky zu trennen. Der saß nun auf der Herrentoilette und heulte sich aus. Fred schmunzelte über die Aufgabe. Zwar schätzte er so einen Auftrag gar nicht, doch Zinis rücksichtsvoller Bitte folgte er – und Ricky konnte ungesehen das Fest verlassen. In diesem Fall hatte sie bei ihren Eltern keine Hilfe einfordern wollen …

Bald nickte der Leibwächter Cynthia Falkow aus einiger Entfernung zu. Sie wusste – er brachte die Sache unbemerkt in Ordnung.

Schließlich begegnete Fred Leona. „Prima – komm, lass uns eine Runde tanzen.“ „Ich arbeite.“ „Ja, na und? Passiert doch nichts. Du kannst mit mir tanzen. Und mit der Braut.“

Inzwischen hatte er tanzen gelernt, und nun musste er – ob er wollte oder nicht. Zuerst drehte er eine Runde mit Leona, einen langsamen Walzer, bei dem sie ihm fröhlich von der Aufregung am Vormittag erzählte. Danach „reichte“ ihn die Brautmutter an die Braut weiter – zum Tango. Sam war überrascht von seinen Tanzkünsten und lobte ihn dafür zum ersten Mal überhaupt.

Toms Familie blieb übers Wochenende. Sie halfen alle beim Auspacken der Geschenke. Allison schrieb die Liste, damit die Danksagungen an die richtigen Leute gingen. So war der Sonnabend schnell vorüber.

Am Sonntag reisten die Amerikaner ab, bis auf Nicky, der noch eine Verabredung mit einem Arzt in Hannover hatte. Auch die Schweden fuhren nach Hause. Sogar Tom und Leona reden übers Packen, denn die Reise nach Modena stand an, wo Tom bei der Konzertgala „Pavarotti and friends“ auftreten sollte.

Sie kamen erst spät am Abend dazu, ihren Koffer gemeinsam zu befüllen. Leona trug gerade ihre Unterwäsche heran, als Tessa mit einem jammervollen Ausdruck ins Schlafzimmer kam. „Hallo, Mäuselchen. Warum schläfst du noch nicht – willst du Mama die Kleider aussuchen“, fragte Tom. „Nein. Bauchweh, Papa“, sie weinte fast und hielt ihre kleinen Händchen vor den Körper, krümmte sich vor Schmerzen und übergab sich im nächsten Moment.

Ihre Eltern halfen ihr, doch im Laufe der Nacht wurde es schlimmer. Schließlich holte Tom seinen Bruder. Der junge Arzt untersuchte das Kind. „Eigentlich ist sie noch viel zu jung dafür … Ich fürchte, sie muss operiert werden“, stellte Nicky fest. Leona stöhnte kurz: „Blinddarm?“ „Ja. Bist du auch Ärztin?“ „Nein, aber ich gucke in Bücher. Während Tom den Boden geschrubbt hat, habe ich einen Blick in unseren Pschyrembel geworfen. So viel zu unserer gemeinsamen Modena-Reise“, sagte sie ruhig: „Dann muss wohl Rena mit.“

„Glaubst du wirklich, ich reise nach Modena, wenn Tessa unters Messer kommt“, rief Tom empört aus. „Ja. Du kannst nämlich nichts machen. Und die ersten Tage ist sie sicher schwach. Ich schlafe im Krankenhaus. Monika und Winfried übernehmen Jace und Zini. Das kriegen wir hin.“

Die gelassene Ruhe, mit der sie entschied, überraschte die beiden Männer. Doch als Tessa „Mama“ weinte, war das vergessen. Das Kind wollte die Mutter – nichts konnte wichtiger sein.

Da Fred im Wintergarten schlief, bekam er die Unruhe mit. Er erkundigte sich, ob er helfen konnte. Leona schüttelte den Kopf. Tom saß mit der Jüngsten im Arm auf dem Bett: „Du kannst den anderen erklären, was los ist. Falls einer aufwacht und fragt – so wie du jetzt. Wir bringen sie ins Krankenhaus, Nicky fährt mit.“ „Arme Kleine – ja, ich passe hier im Haus auf“, versprach Fred und sah mitleidig auf seine junge Freundin.

Tessa jammerte und wimmerte. Fred streichelte ihre Wange und sagte munter: „Nach der Operation sind alle Schmerzen weg, und alles wird gut, kleine Prinzessin. Du wirst sehen – alle bringen dir nette Sachen mit.“

Er wusste selbst nicht, wie er auf diese Idee kam, doch Leona drückte ihm dankbar die Hand: „Du bist gut im Trösten – vielen Dank.“ Ganz sicher war er sich dessen nicht, doch er nickte nur wortlos.

Als sich die Haustür hinter ihnen schloss, stand er oben an der Treppe und überlegte, wie lange sie wohl fort blieben. Die halbe Nacht? Sie würden vermutlich doch eher bei ihrer Tochter im Krankenhaus bleiben …

„Fred?“ Serena stand vor ihrem Zimmer, im Pyjama, und schob die Brille zurecht. Nachts trug sie ihre Linsen natürlich nicht. „War das Nicky? Is‘ wer krank?“ Sie strich eine lange Haarsträhne hinter das Ohr. „Ja. Sei nicht so laut, Serena“, er nahm ihre Hände: „Kind, deine Eltern sind soeben mit Tessa zum Krankenhaus gefahren. Doktor Nick sagt, sie müsse operiert werden.“ „Aber sie ist noch so klein. Was hat sie denn?“ „Appendix“, antwortete er auf Englisch.

„Das ist das selbe auf Deutsch. Blinddarm. Akute Appendizitis. Hatten wir in Bio“, sie stockte: „Oh, dann können sie nicht nach Modena. Morgen, meine ich. Und Papa Tom muss eine Konventionalstrafe löhnen, oder? Macht ja nichts. Arme Kleine“, sie registrierte, dass der Mann ihre Hände noch hielt, und fuhr fort: „Fred, ist es gefährlich?“ „Das weiß ich nicht.“ „Ich hab‘ so’n bisschen Angst. Sie ist so klein“, gestand das Mädchen unsicher. „Ich auch, Serena“, er nahm sie tröstend in den Arm. Rena schloss die Augen und lehnte sich an. Es war gut, jemanden zu haben, der mit ihr fühlte.

„Was ist los?“ Zini hörte nur, dass Rena über Angst sprach, und hüpfte eilig aus dem Bett, blieb aber an der Tür stehen wie ihre Schwester zuvor. Fred sah sie an: „Komm, und sei leise, mein Mädchen, damit wir nicht auch noch Jace wecken.“ Serena flüsterte eilig, was passiert war. Zini keuchte erschrocken. Auch sie ängstigte sich um die Jüngste. Doch Fred schloss auch sie in die Arme, hielt beide Mädchen fest und tröstete sie.

„So, Kinder, jetzt geht ihr wieder ins Bett. Ich bringe euch noch ein Glas Wasser. Und dann versucht ihr, noch etwas zu schlafen. Morgen ist Schule. Wir können hier nicht herumsitzen und uns aufregen.“ „Ja, versuchen wir“, antwortete Zini: „Und tausend Dank, dass du dich so nett um uns kümmerst“, sie umarmte ihn. Auch Rena nickte dankbar und verzog sich wieder ins Bett, froh darüber, dass Fred sich höflich und freundlich um sie alle kümmerte. Sie hätte das als Älteste tun müssen – und war froh und dankbar, dass ihr jemand die Verantwortung abnahm.

Während sie noch alle frühstückten, kam Tom an. Er marschierte müde und blass in die Küche. „Was ist mit Tessi, Papa?“ „Sie wird um 11.30 operiert.“ „Dann bist du schon im Flugzeug – oder unterwegs zum Flugplatz“, platzte Zini heraus. „Weiß ich. Danke.“ „Du kannst nicht einfach weg fahren …“ „Deine Mutter sagt, ich muss. Wir haben das Thema schon die ganze Nacht diskutiert. Und ich fange diese Diskussion jetzt nicht auch noch mit dir an, Fräulein“, fuhr Tom sie an. Zini zog den Kopf ein, ihre Geschwister wagten kein Wort mehr.

Nur Frederick Myers blieb unbeeindruckt: „Was habt ihr beschlossen?“ „Dass wir reisen. Wir drei. Du, Serena und …“ „Was? Ich soll mit? Und die Schule?“ „Du hast einen Ausweis, bekommst Leonas Flugschein – und ich will kein Wort mehr hören.“ „Ja, Sir“, Fred hob eine Hand beschwichtigend in Renas Richtung, als sie den Mund öffnete. Sie schwieg. Doch Jason hatte die Geste nicht bemerkt und fragte staunend: „Aber wer sagt, dass Rena für Mama fährt?“

Tom hörte nicht auf ihn: „Ich lege mich jetzt zwei Stunden hin. Danach fahre ich zum Krankenhaus. Ihr beide kommt in Freds Auto mit dem Gepäck nach und holt mich ab“, er leerte noch ein Glas Wasser und ging wieder zur Tür.

„Ich würd‘ nicht fahren“, murmelte Zini zu Rena: „Nur um mit Pavarotti zu singen. Mir wär‘ mein Kind wichtiger.“ Tom reichte es: „Mir auch“, schnauzte er sie an, dann knallte die Tür hinter ihm zu.

Er hatte die ganze Nacht Leonas Wünschen widersprochen, doch sie hatte am Ende gesiegt. Zuerst hatte sie darüber geweint, dass ihr Kind so krank war und sie nicht reisen konnte, dann, weil sie meinte, es genüge mit Mama im Krankenhaus und sei doch nur ein harmloser Blinddarm und seine Reise so kurz: „Donnerstag bist du doch schon wieder da, Tom. Du kannst so kurzfristig nicht absagen. Und es ist doch so toll, dass er dich nach Modena bittet … Außerdem ist ein Konzert, bei dem es um Unterstützung für Kinder geht …“

Sie wusste nur zu gut, was sie sagen musste, um ihn umzustimmen. Da auch sein Bruder ihr beipflichtete, hatte Tom zwei Gegner. Glücklich war er nicht mit dieser Entscheidung.

Rena regte sich ziemlich auf. Erst die erkrankte Schwester – jetzt die unerwartete Reise nach Italien … Doch sie erkannte, wie unglücklich ihr Stiefvater war, und sie umarmte ihn immer wieder mal tröstend während der Reise: „Es geht alles gut, Tom.“ „Ja.“

Das erste echte Lächeln sahen sie erst wieder in Modena. Direkt nach der Ankunft im Hotel rief er Leona an und hörte, dass alles in Ordnung war. Nun umfasste er Rena und lachte, als sie friedfertig sagte: „Dann singst du sicher besser.“ „Ja, mein Spatz, jetzt zwitschert der Vogel wieder – hurra. Komm, sehen wir uns mal unsere Suite an.“

 

Da er eine Suite mit zwei Schlafzimmern gebucht hatte – eins für sich selbst und Leona, das andere für Fred, hatten sie nun das nächste Problem, da Tom meinte, er könnte nicht im Umfeld eines Konzertabends sein Zimmer teilen. Fred sah sich das Sofa im Wohnzimmer an und nickte gleichgültig hin: „Das ist groß genug. Ich schlafe hier. Auf dem Boden, wenn nötig. Du weißt, alte Soldaten schlafen überall – das sieht nach einer bequemen Alternative aus.“

„Aber ich schnarche nicht. Fred auch nicht. Nur Felix …“, wandte Rena ein: „Einer von uns könnte doch ...“ „Schatz, wir machen es genau so, wie Fred vorschlägt. Er nimmt Leonas Bettzeug. Und bitte – ich bin zu müde für noch eine Diskussion.“

Das Mädchen nickte erst bedrückt, dann lächelte sie wieder: „Gehen wir jetzt essen – in die Stadt, Tom?“ „Nein. Danke, aber ich habe keinen Hunger. Geh du nur, Kind. Gönn dir den Spaß. Fred, du passt auf sie auf.“ „Ja, mache ich. Hol deine Jacke, Serena.“ „Okay. Hurra“, Rena sprang munter von ihrem Stuhl hoch: „Ich habe ein Kleid mitgenommen. Bin gleich wieder da.“

Tom sah, wie Fred ein Paket aus dem Koffer nahm. „Gehst du bewaffnet aus zum Essen?“ „Ja. Du hast die Journalisten doch gesehen.“ „Ja, aber …“ „Sie ist deine Tochter. Und wir riskieren nichts. Ich sage ihr nichts darüber, keine Sorge.“ „Du musst ihr bestimmt nichts sagen. Rena weiß das auch so. Wie ihre Mutter. Die hört auch das Gras wachsen.“ „Wann sollen wir zurück sein? Hast du feste Zeiten für sie?“ „Nein. Wenn sie Lust hat, könnt ihr euch noch die Stadt ansehen. Ich möchte, dass sie nicht ständig an Tessa denkt.“ „In Ordnung.“ „Gut, dass du das Kind ausführst. Ich kann das heute nicht.“ „Sehe ich“, nickte Fred.

Er fühlte sich auch nicht wesentlich besser als der besorgte Vater. Auch Fred machte sich Sorgen um die Kleine. Doch er war schon erleichtert, weil die OP gut verlaufen war. Gern wäre auch er in der Suite geblieben. Doch für Serena war Abwechslung besser, und er übernahm seine Pflichten ohne jede Klage.

„Wo wollen wir hin“, fragte Rena vor dem Hotel. „Ist mir egal. Was willst du machen?“ „In ein Restaurant gehen. Ein echtes italienisches natürlich. Pasta und Pizza und alles. Und Menschen sehen, wie es hier so ist in der Stadt, all das“, zählte sie auf.

Sie landeten in einem kleinen Restaurant, nachdem sich Rena mit einigen jungen Einheimischen unterhalten hatten. Sie waren die einzigen Ausländer in dem Lokal. Es ging hoch her. Rena zückte erneut ihr Wörterbuch und kämpfte mit der Bestellung. Fred überließ ihr gelassen die Kommunikation.

Kurz darauf saßen sie zunächst vor einer großen Antipasti-Platte. Danach servierte die junge Kellnerin Rigattoni mit Fisch. Neugierig ließ Rena Blicke durch den Raum schweifen. Der Wirt lehnte an der Bar und schwatzte mit einem Mann, der einen Espresso vor sich hatte. Die beiden jungen Mädchen, die kellnerten, schien er kaum zu beachten.

„Er ist der Vater von unserer Bedienung. Oder der Onkel“, stellte Rena plötzlich fest. „Möglicherweise“, Fred erwähnte lieber nicht, wie merkwürdig er zwei schweigende Herren an einem Tisch in der Nähe der Bar fand, während ringsum lautstark geredet wurde.

„Was liest du gerade?“ erkundigte sich Rena freundlich. Fred schaute sie verblüfft an: „Wie bitte?“ „Was du gerade liest. Wir können hier nicht den ganzen Abend sitzen und uns anschweigen. Ich möchte es mit einer kleinen Konversation versuchen – als zivilisierte Menschen … Small talk. Die am Nachbartisch fragen sich schon, worüber wir uns wohl streiten.“ „So viel Italienisch kannst du doch gar nicht.“ „Doch, ich glaube, das habe ich gerade verstanden. Streit. Und sie fragen sich, ob ich wohl eine Hexe bin. Strega“, lächelte das Mädchen. „Sicher nicht.“ „Ja doch. Guck dich um, Fred. Wir müssen reden wie alle anderen auch. Noch mehr Lärm“, kicherte sie.

Es war allerdings sehr laut. Die Luft summte geradezu von all den Gesprächen, und die Stimmen waren wirklich nicht gedämpft. Fred zögerte dennoch. „Wenn es zu viel Arbeit ist, in italienischem Lärm Deutsch zu reden, dann eben auf Englisch“, schlug Rena zuvorkommend vor. „Danke. Nein. Wir sprechen Deutsch.“ „Mir ist es wurscht. Ich dachte nur, für dich ist es entspannter, wenn du drauflos reden kannst, ohne innerlich zu übersetzen. Rhabarber Rhabarber Rhabarber …“ „Ra-ba-was?“

Diesmal verstand er sie überhaupt nicht. Rena gluckste vergnügt, entschuldigt sich aber gleich dafür: „Sorry. Es ist nur manchmal so witzig mit deiner Betonung. Ich will dich natürlich nicht kränken.“ „Ist schon in Ordnung“, erwiderte der Mann kurz und eher kühl.

Serena nahm sich noch etwas Brot und gab für den Augenblick erst mal auf. Fred probierte seinen Rotwein, zu dem ihn Rena überredet hatte. Zumindest der schmeckte. Auch das Essen war gut. Er achtete darauf, dass das Mädchen immer Wasser im Glas hatte. Nach dem Essen bestellte Rena noch Espresso.

Bevor der serviert wurde, wollte Rena zur Toilette. Sie suchte ein Hinweis-Schild und wollte aufstehen. „Fontane“, sagte Fred jäh und griff nach ihrem Arm. „Was?“ „Theodor Fontane. Du hast gefragt, was ich lese.“ „Warum ausgerechnet Fontane?“ Sie glitt zurück auf ihren Stuhl. „Du hast vor ein paar Wochen von einem Gedicht erzählt, John Maynard. Und über deutsche Balladen. Deshalb habe ich beschlossen, etwas mehr über deutsche Gedichte aus dieser Zeit zu lernen. Aber Fontane hat mehr als nur Gedichte geschrieben, Serena.“ „Ich weiß.“ „Hast du auch etwas von seinen Romanen gelesen?“

Rena fand es seltsam, plötzlich in ein Gespräch über Fontane verstrickt zu werden. Etwas stimmte nicht, das war ihr jäh klar, auch wenn sie Freds Motiven nicht misstraute.

„Ich spring‘ nur mal eben da hinten zur Toilette, und dann …“ „Nein, du wartest noch eine Minute“, diesmal drückte er sie auf den Stuhl zurück mit einer Hand auf ihrem Bein, bevor sie aufstehen konnte. Rena war verblüfft über die Berührung, der er sonst stets aus dem Weg ging. Sie fragte sich, weshalb er sie zum Bleiben zwang.

Rasch nannte sie den ersten Roman, der ihr einfiel: „Effi Briest.“ „Das habe ich noch nicht gelesen.“ „Womit hast du angefangen?“ „Zuerst … der Stechlin.“ „Das kenne ich nun noch nicht. Worum geht es?“ „Um Sozialkritik. Ein alter Baron am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Welt verändert sich. Er muss sich anpassen. Es ist ein Bild von Deutschland in der Zeit …“

Er sah das Mädchen etwas unsicher an. Verstand sie diese Beschreibung? Rena saß ganz still und wunderte sich: „Und du liest noch mehr von Fontane?“ „Frau Jenny Treibel. Es ist nicht so leicht mit deutscher Literatur aus der Zeit. Die Sprache ist nicht leicht für mich. Aber es ist immer noch besser und leichter als … Thomas Mann.“ „Das sagt Mama auch. Sie mag eine Novelle sehr. Tonio Kröger. Aber sie hat sich auch schon mühsam durch die Buddenbrooks geschlagen.“ „Warum mochte sie die Buddenbrooks nicht?“ „Sie sagt, da handelt keiner von denen mit gesundem Menschenverstand. Das geht ihr voll auf den Puffer und so.“ „Aha“, Fred registrierte, dass der Wirt wieder allein war – die stillen Männer verließen das Restaurant gerade.

„Und warum magst du die Buddenbrooks nicht, Fred?“ „Ich habe nicht gesagt … du wolltest zur Toilette. Entschuldige“, er zog die Hand weg. Sein ernster und strenger Blick lud nicht gerade zu weiteren neugierigen Fragen ein. Ohne jedes Wort stand Rena auf. Sie wusste nur zu gut, wie unpersönlich der so intim wirkende Griff gewesen war. Noch immer spürte sie die Wärme seiner Hand – und fühlte sich irgendwie nervös. Was passierte hier gerade?

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