Liebe Familie

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„Wir könnten …“, setzte Felix an und hielt inne. Leona schaute ihn an und erfasste blitzartig, was ihr Ältester dachte. „Fix, das Hotel ist unser Erbe. Es gehört uns – mir und dir und deinen Geschwistern. Wenn wir Tom um Geld bitten, muss er hier als Partner einsteigen. Und … je nach Summe … gleichberechtigt. Nicht ohne Vertrag.“

Einen Augenblick zögerte der junge Mann, dann nickte er entschlossen: „Klar, Mama. Aber ich habe nichts dagegen.“ „Und Rena und Zini?“ „Rena wird Lehrerin, Zini Vulkanologin oder so. Früher oder später arbeite ich an deiner Stelle – und ich kann mich mit Tom arrangieren. Hängt nur davon ab, was du meinst, Mama. Nur du kannst darüber bestimmen, ob wir Tom als Teilhaber nehmen.“ „Wir müssen dann wohl zum Rechtsanwalt.“ Felix stöhnte. Leona zuckte mit den Schultern: „Doch, müssen wir. Ich kann’s nicht so einfach annehmen. Und du solltest das auch nicht tun. Toms Geld nehmen, als wäre das gar nichts.“

Als sie Tom von ihren Überlegungen erzählten, nickte er nur: „Kein Problem. Was meint ihr – wie viel wird uns ein Wellness-Bereich kosten? Mit Schwimmhalle, Sauna, Fitness-Räumen, Massage-Räumen …“ „Kommt wohl drauf an, was für ein Haus wir finden“, seufzte Felix.

„Werden also ein paar Millionen werden.“ „Eine vielleicht – könntest du … ähm … Wir haben ja Platz auf dem Grundstück, aber alles andere“, Felix blieb vorsichtig. „Ich schätze, eher drei. Vielleicht fünf oder sechs“, meinte Tom. Doch als der junge Mann erblasste, lachte er: „Junge, wenn wir das machen, dann richtig. Den Trockenraum unten, den keiner braucht, gegenüber von der Rezeption, den bauen wir dann zum Laden um, wo wir Wellness-Seifen und so verkaufen.“

Leona hörte der Diskussion belustigt zu: „Zwei Kerle mit Rosinen im Kopf.“ „Ich mag Rosinen, Leo.“ „Wissen wir alle. Es ist wirklich gefährlich mit dir. Wenn Geld keine Rolle spielt. Ich kriege richtig Angst, wenn ihr zwei so übertreibt. Also – keine Traumschlösser.“ „Ja, Mama“, sagte Felix tapfer und warf einen besorgten Blick zu Tom. Der zog den Kopf ein und schloss sich an: „Ja, Mama!“ Felix kicherte spontan los, und auch die Eltern lachten über den Scherz.

Für Zini sprach nichts gegen Toms Einsatz: „Wieso nicht? Er hat das Parkett in der Stube ja auch bezahlt, als wir renoviert haben. Und das neue Treppengeländer. Und die Alarmanlage. Und als ihr unterm Dach umgebaut habt.“ „Ja, Schatz, aber das Haus gehört mir allein. Und das Hotel uns allen vieren“, stellte Leona klar.

„Aber Tom arbeitet mit. Und ich glaube nicht, dass du ihn dafür bezahlst“, wandte Rena sehr vernünftig ein: „Das wäre ja bescheuert. – Und sag nix, Mama, ich weiß nämlich, dass ihr euch nicht einig ward, ob er gegen Geld oder ohne arbeitet. Wie beim Irak-Krieg. Da seid ihr auch … streitbar. Denkst du, der fängt bald an?“ „Das will ich nicht hoffen“, erwiderte Leona. Tom lachte etwas höhnisch: „Sehr bald.“

Einige Tage später war es soweit: Am 20. März 2003 begann der Krieg. „Was für ein Mist. Dass das keiner verhindert“, murmelte Leona bitter. Felix erzählte sofort einen sehr schwarzen Witz über den neuen Krieg, und da lachte selbst seine Mutter wieder. Auch Tom wollte wissen, worum es ging. Felix gab den Witz gleich noch mal zum Besten: „Blair, Bush und Schröder sitzen zusammen. Bush meint, bald sei Schluss mit dem Krieg: 5 Millionen tote Iraker und ein Friseur. Worauf Schröder ausruft: Friseur – warum ein Friseur? Darauf Bush zu Blair: Sage ich dir doch – keiner interessiert sich für die Iraker.“

Einige Sekunden sah Tom ihn wortlos an, dann lächelte er schief: „Dein Witz ist ehrlicher als sämtliche Politiker.“ „Wieso?“ wollte Rena wissen. Leona nickte: „Weil unser lieber Bundeskanzler Schröder behauptet, wir würden an diesen Krieg nicht teilnehmen. Wir Deutschen. Glatte Lüge: Wir haben deutsche Spürpanzer in Kuwait. Wir haben AWACS-Flieger in der Türkei. Und unsere Marine beschützt amerikanische Schiffe da unten. Wir sind nämlich NATO-Mitglied.“ „Genau, Leo. Und wenn der NATO-Ruf kommt, dann folgen die Deutschen – wie alle anderen auch.“ „Nicht alle“, protestierte sie. Es war ihr alter Streit, doch diesmal nickte er nur gelassen.

Leona lachte ein paar Tage später wiederum sehr sarkastisch, als sie im Radio hörte, Saddam Hussein meinte, er könne gewinnen – mit Gottes Hilfe. „Das sagt Bush auch. Und sie wissen nicht, dass es nur einen Gott gibt. Der aber keinem von ihnen helfen wird“, sagte sie spöttisch zu Cynthia. Ihre Tochter lächelte: „Du bist immer so ironisch, Mama.“

„Ehrlich, Zini, dies ist ein Krieg wie in Vietnam. Viel weiß ich natürlich nicht darüber, aber auch das hier wird ein einziges Fiasko. Ich bin so sicher, dass sich die Geschichte wiederholt. Krieg ist dumm. Immer. Sollen sie meinetwegen Saddam abknallen, aber doch nicht die armen Zivilisten. Normale Menschen wollen Frieden und ihre Ruhe. Ich begreife einfach nicht, wie man so etwas Idiotisches wie Krieg anfangen kann. Das ist purer Zynismus. Und ich werde dabei auch zynisch.“

Zini sagte nichts. Also fuhr ihre Mutter energisch fort: „Du wirst es ja erleben. In Kürze erzählt Bush, er habe gewonnen. Und danach können wir auf Bürgerkrieg und solchen Mist da unten rechnen. Garantiert. Da hört es nicht auf. Dabei gibt es so viel mehr auf dieser Welt“, sie redete sich richtig in Rage. Zini nickte nur, erstmals eingeschüchtert von der unüberhörbaren Wut ihrer Mutter.

Leona sah es und umarmte sie: „Liebling, entschuldige. Woran du siehst, welchen Einfluss dieser ferne Krieg auf uns hat. Ich rege mich für nichts und wieder nichts auf. Ohne etwas dran ändern zu können.“

Inzwischen war jedoch auch Tom mehr im Zweifel als zuvor. Auf eine Diskussion mit seiner Frau ließ er sich trotzdem nicht wieder ein. Meistens sprachen sie über das Hotel und was sie dort verändern wollten. Außerdem rückte Sams Hochzeit näher. Und dann war da noch die Ehe am Scheideweg – Doris Röttger überlegte zwar, zurück zu Michael zu ziehen, doch noch zögerte sie.

Das Nächste, was anstand für die Familie, war das Beschaffen der Kleidung für die bevorstehende Hochzeit. Das Brautkleid kostete ein Vermögen – aber Leona schwieg. Sie sah Tom zwar zweifelnd an, doch der zwinkerte ihr heiter zu. Also zuckte sie mit den Schultern und gönnte Sam diese Pracht.

***

In der Osterzeit blieb Fred Myers nach dem Training mit Tom und saß mit in der Küche am Mittagstisch. Die Kinder schwatzten durcheinander. Leona hörte ihnen belustigt zu, während sie Getränke verteilte, und stellte fest, dass auch Fred ein bisschen schmunzelte über Zinis Geschichte. Sie stupste ihn an: „Ja, so ist es mit uns Älteren, wir stehen da schon drüber. Dabei bist du auch in einem Alter, in dem du unser Kind sein könntest. Wenn wir früh angefangen hätten.“

Fred schaute hoch zu ihr. Sie stand mit einer Flasche neben ihm. Er lächelte sie munter an: „Du bist nur 15 Jahre älter als ich. Das wäre sehr früh angefangen.“ „Wer weiß“, sie tätschelte seine Wange und lächelte. Fred entzog sich ihr sofort: „Sorry, Leo, lass das, ich bin keins deiner Kinder“, bat er. Es klang nicht unfreundlich, traf sie aber dennoch wie eine Ohrfeige. Sie murmelte ebenfalls ein „Sorry“, stellte die Flasche neben dem Herd ab und ging hinaus.

Tom schwieg. Er sah ja, dass es nur ein harmloses Missverständnis war, mit einem Wort leicht aufzuklären. Doch seine Kinder saßen am Tisch, also hielt er sich zurück. Leona meinte es nur gut mit ihrem Scherz – und Fred konnte einfach nicht damit umgehen, in ihre Familie gezogen zu werden.

„Ich fahre Leo eben zum Hotel rüber. Du bist ja hier und kannst mit den Kleinen spielen, während Zini und Rena den Geschirrspüler befüllen und starten“, sagte Tom gelassen und folgte seiner Frau. Leona stand an der Flurgarderobe und suchte gerade ihre Autoschlüssel – mit tränennassen Augen.

„Liebste – du lässt dich doch wohl von diesem Intermezzo nicht aus der Fassung bringen?“ „Nein … ich weiß ja … aber es ist so traurig. Es war nur …“ „Es ist die Wahrheit. Du bist nicht Freds Mutter. Und ich glaube, es wäre zu viel für ihn, diesen Gedanken auszuhalten. Er weiß allzu gut, dass sein Alltag anders ist. Er ist allein. Ohne Eltern. Reiner Selbstschutz, das da eben.“ „Weiß ich. Aber … wir sind doch Freunde.“ „Das macht es ja eben gerade so viel schlimmer, Leo. Für ihn auch. Und du solltest so nicht fahren – ich bin dein Chauffeur, okay?“ „Danke“, sie umarmte ihn und seufzte: „Dumm war das.“ „Nein. Es war nur eine neckende Geste. Keiner hat bemerkt, wie sehr seine Reaktion dich verletzt hat. Hör hin – sie quasseln immer noch.“

Doch Tom irrte. Eins der Kinder hatte die Situation intuitiv erfasst: Rena. Sie hatte das tiefe Erschrecken in den Augen ihrer geliebten Mama gesehen und völlig richtig interpretiert. Sie stand auf und begann, den Tisch abzuräumen. „Fred, wenn wir alles fertig haben, kann ich dann mal mit dir reden … über … über … was Privates?“ Ihre Stimme klang sehr ernst. Fred war erstaunt, nickte aber kurz.

Als ihre Geschwister spielten, wies sie mit dem Kopf zur Terrasse. Sie musste die Chance nutzen, unter vier Augen alles zu klären, das wusste die kleine „Madame Balance“ genau, und sie wusste auch, wie schnell das schief gehen konnte.

„Mama wollte dich nicht … erinnern.“ „Was bitte?“ „Mama hat nur … einen Witz gemacht. Als sie sagte, sie könne deine Mutter sein.“ „Ja, das weiß ich“, er verstand nicht, worauf sie hinaus wollte: „Das musst du mir nicht erklären, Serena. Ich weiß, dass sie mich aufzieht mit so einem Satz.“

Er machte es ihr noch schwerer. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne, nahm sich aber zusammen und sprach weiter: „Ja, aber du … Wir respektieren doch eigentlich alle, dass dich keiner von uns anfassen darf. Also, wenn wir dran denken. Tessa ist zu jung. Und sie schiebst du ja auch nie weg. Aber wir eben …“ „Serena, wovon redest du?“

 

Er hatte anscheinend nicht die geringste Ahnung, was er Leona mit seiner Abfuhr angetan hatte. Das Mädchen seufzte: „Mama hätte fast geweint. Das war gemein, sie so abzufertigen. In dieser Familie umarmen wir uns. Papa küsst seine Kinder. Und Mama hat doch nur …“

In diesem Moment begriff er, worauf das Mädchen hinaus wollte. In den blaugrünen Augen, die bisher mit nur vagem kühlen Interesse auf sie gesehen hatten, blitzte Verständnis auf – und eine jähe Wärme. Sie stotterte noch ein paar Worte, gab aber auf, als er leise sagte: „Serena, ich weiß das … aber …“

Jetzt war die Situation auch für ihn kaum noch erträglich, denn er musste etwas über sich sagen. Sie wartete geduldig.

„Kind, du bist in dieser freundlichen Familie aufgewachsen. Für dich ist es leicht zu vergessen, woher ich komme. Glaubst du, ein Kleinkind landet ohne Grund in einem Waisenhaus? Vernachlässigung – weißt du, was das beinhaltet? Ich bin nicht mit Menschen aufgewachsen, die mich liebten. Ich weiß nichts über meine Eltern, ich habe keinerlei Erinnerung an sie. Und im Waisenhaus? Glaubst du, da gibt es … Menschen, die dich streicheln? Die haben keine Zeit. Für dich ist es normal, wenn du krank bist oder traurig, dass du deine Familie um dich hast. Du hast eine liebe und gute Mutter, die dich behütet und liebt, deine ganze Familie tut das. Was du auch tust, Serena, alle lieben dich. Das habe ich in meinem ganzen Leben niemals gehabt. Und früher oder später ist meine Zeit in deiner … lieben Familie für mich vorbei“, er hörte selbst, wie die Erregung seine Stimme zum Schwanken brachte und verstummte. Er durfte sich nicht an diese Zuwendung gewöhnen – als Außenseiter stand ihm Leonas Güte nicht zu, nicht mal im Spaß.

Das Mädchen schaute ihn mit tiefem Verständnis an. Sie hätte ihm gern gesagt, wie sehr sie ihn mochte. Dieser immer kontrollierte und ruhige Mann vor ihr, der ständig gegen die ganze Welt antrat, er, der über persönliche Dinge eisiges Schweigen wahrte, erzählte ihr das alles. Er verteidigte sich niemals gegen Sams Angriffe, er nahm sie gelassen und ohne sichtliches Interesse einfach hin. Doch jetzt und zu ihr war er ehrlich. Obwohl sie erst 16 war, erfasste sie diesen Unterschied.

Er ließ sonst niemals Gefühle zu, und bei diesem Gespräch kämpfte er mit sich, was er ihr sagen konnte, ohne sich zu verraten oder sie zu verletzen – auch das fühlte sie deutlich. Sie streckte die Hand aus, zog sie aber rasch wieder zurück. Er sollte sie nicht von sich schieben wie alle anderen. Doch sie erkannte auch das Problem. So gern sie ihn umarmt und getröstet hätte – er würde das als unverzeihlich ansehen. Also hielt sie sich zurück.

Da Fred schwieg, sagte sie langsam: „Dann rede ich mit Mama. Du kannst das nicht tun, das verstehe ich. Aber einer muss ihr doch sagen, dass es gar nicht gemein gemeint war. Dass das einfach nur so gekommen ist. Ich kann’s mir nicht vorstellen, dass keiner einen liebt, dass keiner freundlich ist oder einen streichelt. Wir müssen dir total verwöhnt vorkommen. Ich weiß noch nicht, wie ich es Mama erklären kann. Wär‘ echt besser gewesen, du hättest es einfach ausgehalten. Aber es ist nun mal passiert. – Ach, ich kriege das schon irgendwie hin“, versprach sie.

Wieder einmal erlebte der Mann, dass eines der „verwöhnten“ Kinder ihm ohne Bedenken helfen wollte. Serena war immer freundlich und selbstlos, doch viel zu jung, um diese Last zu tragen. Das Kind zwang ihn dazu, etwas zu tun, was er kaum über sich brachte.

„Du musst nicht mit Leona reden. Das mache ich“, sagte er ruhig: „So feige bin ich nicht.“ „Nein, aber ich weiß, dass es für dich sehr schwierig ist. Du brauchst das nicht zu …“ „Serena, ich mache das“, entgegnete er stur – und graute sich davor. Das Mädchen nickte und ging zurück zu ihren Geschwistern.

„Serena?“ Sie schaute über die Schulter: „Ja?“ „Danke.“ Sie lächelte – eigentlich hätte sie ihm gern eine Kusshand zugeworfen, doch das hätte ihr sicher den bisher vermiedenen Ärger eingehandelt. Also ging sie weiter. Doch sie freute sich, wie schnell einige Worte von ihr Früchte trugen.

Während Fred Leona im Hotel aufsuchte, saß Rena auf der steinernen Balustrade um die Terrasse und spielte Ball mit ihrem Geschwistern. Plötzlich vergaß sie, den Ball zu fangen. Was hatte Fred gesagt: Er hätte niemals erlebt, geliebt zu werden? Er war doch verheiratet gewesen?

Sie rief sich jedes Wort in Erinnerung. Er sprach die Wahrheit, er log niemals – das wusste sie. Vermutlich hatte er nur an seine Eltern gedacht, überlegte sie und nickte gedankenvoll vor sich hin. Schließlich war es um Leonas mütterliche Zuneigung gegangen.

***

Der Hochzeitstag rückte näher. Fred schrieb sich Listen mit den Namen und Autonummern der Gäste. Ab und zu rief Sam an und erbat sich noch etwas. Leona stöhnte jedes Mal, sagte aber niemals „Nein, jetzt reicht’s!“ Tom erkundigte sich, wie viele Leute Fred inzwischen für die Sicherheit engagiert hatte. „12“, sagte der trocken.

Zini kicherte: „Und du kontrollierst uns alle, oder?“ „Nein. Erst wenn dein Stiefvater es wünscht, dann …“ Rena rümpfte die Nase und fragte sich, ob die Sicherheitsleute wohl bewaffnet zur Hochzeit kämen. Das erschien ihr sehr unheimlich.

Ihre Schwester war derweil auf einem ganz anderen Trip: „Du, Fred, machst du alles, was Tom will?“ „So lange er bezahlt für seine Wünsche“, kam die Antwort recht kalt: „Und es nicht gegen Gesetze verstößt. Aber … Verdammt, Serena, was ist jetzt?“ Ihm fiel auf, wie die Kleine ihn anstarrte. Sie wurde knallrot: „Ähm … äh … nee … nichts … Wird es gefährlich?“ stammelte sie dann.

Ihre Mutter lachte schallend: „Quatsch. Es sind allzu viele Leute, und wir haben die Medien an der Backe, aber ansonsten … gefährlich? Rena, also bitte, das ist doch verrückt. Stell dich nicht so albern an.“ „Ich weiß nicht. Ich will an meiner Hochzeit jedenfalls nicht massenweise Leibwächter haben müssen“, ihrer Tochter war das alles peinlich.

Instinktiv erfasste der Bodyguard, was sie dachte: „Es wird nicht gefährlich, Serena. Wie deine Mama sagt. Aber du denkst richtig – es wäre leichtsinnig und fahrlässig, nicht für eure Sicherheit zu sorgen, da Tom ein bekannter und berühmter Künstler ist.“ „Schluss damit. Zurück zum Thema“, befahl Tom.

Ab und zu, dachte er beunruhigt, war gerade die naive 16jährige allzu schlau. Kein anderes seiner Kinder bedachte, was es bedeutete, wenn er mit seinem Bodyguard an der Seite los zog. Der ging nicht nebenher aus Spaß, sondern schützte ihn gegen mögliche Angriffe, auch bewaffnet, wenn es sein musste. Er verdrängte den Gedanken schnell wieder und sprach weiter.

„Also – Fred tut, was nötig ist. Markus, schick ihm eine Mail mit den Autonummern eurer Göttinger Freunde. Leo, du belieferst ihn mit den Daten hier von unseren Leuten.“

Leona schrieb längst selbst Listen und hakte einzelne Punkte ab: „Essen – haben wir. Orchester – haben wir auch“, las sie laut vor: „Hat einer den guten alten Oswald angerufen?“ „Hm?“ „Den Pastor. Oswald Hirbisch. – Nicht? Tja, dann übernehme ich das mal. Was wollt ihr im Gottesdienst haben, Sam?“ „Eure Beteiligung. Irgendwie. Und Papa muss singen“, antwortete die sofort. „Was Altes?“ fragte Jason. Alle lachten.

„Ich soll doch nur singen im Altarraum, damit ihr alle heulen könnt“, grinste Tom. „Ja“, Sam strahlte vor Freude über seine bereitwillige Zustimmung, die dem Tonfall anzuhören war. „Und Rena soll mit ihrer Geige kommen – das ist sicher auch ganz rührend“, schlug Markus vor: „Machst du das für uns, kleine Schwägerin?“ „Sehr gern. Ich kann auch was singen, hinterher auf dem Fest, wenn ihr wollt?“ „Gute Idee“, rief Sam aus und umarmte Rena glücklich.

„Was soll ich nun singen?“ Tom beobachtete die beiden belustigt. Sofort wandten sie sich ihm zu wie auch der Rest der Familie. „Was aus einem Musical, Papa.“ „Was Klassisches.“ „Was Neues von dir selbst.“ „Was Altes“, so riefen sie durcheinander. Tom lachte. „Das wird kein Konzertabend, sondern eine Hochzeit. Vergesst das nicht.“ Die Diskussion schlug hohe Wellen.

Jason wollte auf jeden Fall erleben, dass alle Frauen weinten: „Oma Ally sagt, das muss so sein auf einer Hochzeit.“ „Papa, du hast doch was Tolles gesungen, als Helgard und Rainer geheiratet haben. Mama hat erzählt, dass die Braut zwei Taschentücher brauchte, weil sie ihr ein Blumenstreukind schicken musste. Damit die Braut genug Weinen konnte.“ „Ja, ich habe doch keine Taschentücher gebraucht“, gluckste Leona.

„Mama, echt, hast du nicht geweint?“ „Nein. 90 % haben geheult, aber … Er ist schon hinreißend, mit dieser Sahnestimme …“ „Leo, bitte“, Tom flehte sie an: „Schluss! Bitte, bitte.“ „Du hast doch keine Ahnung, wie du in einer Kirche klingst. Ich bin dran gewöhnt – sonst hätte ich Wasser in den Augen wie eine Quelle. Oder schlimmer: ein ganzer Wasserfall“, neckte sie ihren Mann.

„Three little words ...“, sang Tom, und sie sagte schnell: „Passt besser als: Do you know the muffinman ...“ Die Familie lachte schallend über ihren Einwurf, selbst Fred Myers amüsierte sich.

Markus interessierte sich für die Übernachtungsmöglichkeiten: „Wie steht’s denn mit dem Blockhaus, das ihr hier im Garten als Gästehaus hochziehen wollt?“ „Das ist erst im Juli fertig, also erst weit nach eurer Hochzeit. Aber wir kriegen alle im Hotel unter oder bei Freunden, in Toms Haus und hier“, Leona notierte sich noch etwas auf ihrer Liste.

„Wie teuer wird es, Mama?“ „Keine Sorge, eure Studenten ziehen wir nicht über den Tisch, Sam. Ich bezahle die Hotelübernachtungen“, versprach Tom. „Ich glaube, das wollen gar nicht alle.“ „Abwarten.“

„Wir haben da hinten schon eine Grube im Garten“, zeigte Jason. Markus stand auf: „Eine kleine Pause, bitte? Ich möchte gern sehen, wo ihr das Blockhaus baut.“ „Ja, ein Viertelstündchen Pause – und ein paar Schritte durch den Garten. Apropos Garten, der Blumenladen. Wir müssen da vorbei und bestellen“, notierte Leona, bevor sie sich erhob und die Arme streckte: „Gute Idee, diese Pause. Jetzt reden wir mal eine Viertelstunde nicht über die Hochzeit. Ab in den Garten, Leute – hopp, hopp, Sam, Fred, Zini …“

Die Mädchen hatten sich zurückgelehnt. Nun standen sie auf. Auch Fred lächelte. Leona betrachtete ihn als Freund, nicht nur als Angestellten, der wegen der Organisation hier sein musste. Es war wie ein warmer Frühlingswind, der ihm hier begegnete. Er gehörte zwar nicht zur Familie, doch das fühlte er kaum im Kreis dieser Menschen.

Auf dem Weg nach draußen nahm Leona Freds Arm: „Du musst dir diese Grube unbedingt ansehen. Bevor Tom dich beim nächsten Training reinwirft“, scherzte sie: „Ja, ja, sag nichts: Ich bin Mutter Erde und passe auf euch alle auf – das findest du lustig, hm?“ Fred genoss ihre Witzelei und nickte.

Während sie auf die Grube zu gingen, schnappte sich Leona auch noch Markus: „Jungs, das ist nun eine professionelle Baugrube. Nur für die Grundplatte. Also nicht so tief. Kennt ihr den Spruch vom Graben einer Grube für andere?“ „Wer das macht, fällt rein“, kicherte Zini.

Für einen Augenblick, während sie alle lachten und alberten, wurde Fred klar, dass er hier mehr Familienanschluss fand als in der ertrotzten Ehe mit Jane. Diese bittere Wahrheit war schwer zu akzeptieren. Doch er hatte Lügen noch nie ertragen, und so begriff er hier nach und nach Dinge, die er niemals vorher angezweifelt hätte.

Tessa umfasste sein Bein: „You’re sad?“ „No“, er zwang sich zu einem Lächeln. Als die Kleine „I love you“ sagte, wurde das Lächeln echt. Er hob sie hoch und flüsterte: „Ich mag dich auch sehr gern, meine kleine Maus. – Fall nicht in Mamas professionelle Baugrube“, neckte er sie: „Zu viel Wasser drin. Da wirst du nass.“

Der Wind frischte auf. Der größte Teil der Familie flüchtete zurück ins Haus. Rena beobachtete ein Kaninchen am Waldrand und blieb ganz still stehen. Sie fror, bewegte sich aber nicht. Sie wollte dem Tier noch eine Weile zusehen.

„Nimm meine Jacke“, Fred hing ihr die Jacke über die Schultern. „Vor der Hochzeit solltest du dich nicht erkälten, du willst doch singen.“ „Ja. Danke“, sie schaute sich zu ihm um und hob erschrocken die Hand vor den Mund: „Ich hab’s gewusst. Du kommst zu uns mit … mit …“ „Einer Waffe, stimmt. Ich habe heute Abend noch einen Job und keine Zeit, zwischendurch nach Hause zu fahren. Aber sprich nicht darüber. Die Kinder müssen das nicht wissen.“ „Warum kannst du das nicht im Auto …“

Noch beim Formulieren der Frage erkannte sie, welche einzig mögliche Antwort es darauf gab, und winkte ab: „Ich kapier’s gerade.“ „Eine scharfe Waffe, Serena, lässt man nicht im Auto. Du siehst zu viele Krimis.“ „Gestern? Siska. Der Kommissar. Hm.“ „Wovor hast du eigentlich Angst?“ „Ich weiß nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern und zog die Jacke enger um sich, schlüpfte in die Ärmel und erschauderte etwas. Es war wirklich kalt geworden.

 

„Okay“, keiner konnte sie hier vom Wohnzimmer aus sehen. Er nahm die Pistole, leerte das Magazin und reichte ihr die Waffe: „Hier.“ Rena schaute sich erst mal nach dem Haus um.

„Serena – hier explodiert nichts.“ „Aber … wir haben Waffengesetze in Deutschland. Darf ich das überhaupt ...“ „Ja, du darfst eine Pistole anfassen, ohne gleich im Gefängnis zu landen“, entgegnete er und musste lächeln, als sich urplötzlich ihr Gesichtsausdruck veränderte – von besorgter Frage zu hilfloser Faszination.

„Sprich nicht mit der Braut darüber. Tom möchte nicht …“ „Selbstverständlich. Ich sage nichts. Was muss ich tun?“ Sie visierte einen Baum an, die schwere Waffe wackelte in der Mädchenhand. „Versuch es mit beiden Händen“, er amüsierte sich über sie.

„Uha“, machte sie irritiert, bemühte sich aber, die Waffe beidhändig gerade zu halten. „Deine Jacke hat zu lange Ärmel.“ „Ja, aber das können wir ändern“, obwohl sie ihm die Belustigung ansehen konnte, ließ sie sich willig helfen. Er krempelte die Ärmel etwas auf.

„Und jetzt, Fred?“ „Jetzt darfst du abdrücken.“ „Nein, darf ich nicht. Falls doch noch eine Kugel drin ist.“ „Es ist keine Patrone drin. Hier, kontrollier es doch selbst. Noch mal, Serena. Deinen Finger hier fest hinlegen. Gut“, er korrigierte ihre Handhaltung und lachte, als das Mädchen todernst behauptete: „Ist wie russisches Roulette.“ „Nein, ist es nicht. Halte deine rechte Hand mehr … ja, so ist gut.“

Sie atmete zittrig, doch das lag eher an der Kälte. Angst hatte sie nicht. Sie lächelte sogar und hatte Spaß daran: „Bin ich jetzt gefährlich? Ich meine – sehe ich aus wie ein Bodyguard? Denkst du, ich kann auch auf Menschen aufpassen? Wie bei der Hochzeit? Ich denke nicht, dass ich abdrücken könnte, aber …“

Fred Myers lächelte unwillkürlich. Sie war sehr süß – und es war ihm an diesem Tag ausnahmsweise wichtig, ihr etwas über die Arbeit zu sagen: „Serena, wenn du bewaffnet bist und diese Waffe niemals im Leben benutzen musst, dann ist es genau richtig. Es ist nur eine Art …“ „Versicherung?“ „Ja, vielleicht ist das das korrekte Wort.“ „Ich verstehe. Weiß Mama davon?“ „Nein, weiß sie nicht. Nur Tom. Und du jetzt. Aber wir erwähnen dieses Thema nicht wieder, verstanden?“ „Nein. Mama soll dich ja nicht einen …“ Sie stockte. „Dummen und blinden Cowboy wie Bush nennen. Das habe ich mehr als einmal gehört bei der Irak-Diskussion hier im Haus“, er schmunzelte.

Sie schaute über die Pistole zu einem Baum und visierte diesen Gegner an: „Wie viel Zeit habe ich, die angreifende Fichte abzuknallen, die ich gerade vor der Mündung habe?“ „Du hast keine …“, er beendete den Satz wohlweislich nicht und nahm ihr die Pistole wieder ab. Rena begriff allerdings blitzschnell: „Oh, klar, im Notfall hat man keine Zeit. Da musst du einfach abdrücken. Kannst du das? Gehörte das zu deiner Ausbildung?“ „Ja.“ „Und du musst das immer üben, damit du das auch jederzeit kannst, oder?“

Das war eine Frage zu viel – und eine, die er eigentlich nicht beantworten wollte. Zögernd entschied er sich dennoch dafür: „Ja. Aber nun ist es genug, Serena. Die Hauptsache ist, dass du dich nicht mehr ängstigst. Nichts wird auf der Hochzeit deiner Schwester passieren.“

Sie musterte ihn prüfend und nickte dann. „Nein. Nicht, wenn du auf uns aufpasst. Vielen Dank. Nimm lieber deine Jacke, bevor die Kinder was merken“, sagte sie freundlich. „Richtig. Und du redest auch nicht mit deinen Geschwistern darüber, ist das klar?“ „Logo. Ich bin dir dankbar … und du kriegst bestimmt keinen Ärger mit meinen Eltern. Ist doch selbstverständlich. Schade.“ „Wie bitte?“ „Ist viel kälter ohne Jacke. Komm, wir müssen ins Haus. Mamas Viertelstündchen ist sicher längst vorbei.“ „Ja, dann lauf doch, Spatz“, lächelte er.

Tom fragte noch nach den Trainingszeiten für die kommende Woche, als Fred sich verabschiedete. Er begleitete seinen Leibwächter zum Wagen und machte alles mit ihm ab. Dann sagte er: „Du kommst mit den Kindern gut klar inzwischen.“ Fred nickte wortlos.

„Ich frage nur, weil Rena vorhin etwas komisch war. Wegen der Sicherheit. Sie hat ein kleines Problem, denke ich.“ „Jetzt nicht mehr.“ „Aha. Wie ich sagte – du kommst mit den Kindern klar. Und ich habe gesehen, dass du mit Zini etwas … Ernstes besprochen hast.“ „Ihre Englisch-Hausaufgabe.“

Tom brach in Gelächter aus. „Herrlich. Dass du sogar mit ihr auskommst.“ „Ich würde sagen, es läuft im Moment ganz gut. Aber wenn ich im Sommer hier bin und ihr das erste Mal etwas verbiete, dann wird es sicher … lustig.“ Fred zuckte mit den Schultern, illusionslos, was Zinis Betragen anging. Er musste allein mit ihr klar kommen, wenn Tom auf Tournee war und Leo im Hotel arbeitete – das stand nun mal fest.

„Und du fährst mit uns nach Modena nach der Hochzeit? Leona freut sich schon riesig. Felix hütet die Zwerge. Und wir machen es uns nett. Nebenher beim Pavarotti-Konzert.“ „Glaubst du, du hast nebenher Zeit, es dir mit Leona nett zu machen?“ „Ja. Nicht besonders viel Zeit, aber wir reisen ja zum ersten Mal gemeinsam zu einem Konzert ins Ausland.“ „Du arbeitest und sie ist Gast.“

Mit einem Achselzucken tat Tom diesen Einwand als nebensächlich ab. „Leo ist schon überrascht, dass ich mit eigenem Bodyguard reise, aber weißt du – sie hat dann jemanden zum Reden, während ich arbeite. Sie ist nicht so ans Reisen gewöhnt. Und als ich ihr gesagt habe, dass wir dich mitnehmen … ich glaube, sie freut sich.“ Dass Leona gesagt habe, sie freue sich für Fred, der nun ein anderes europäisches Land sehen könnte, erwähnte er nicht.

Auf dem Weg nach Hause erinnerte sich Fred jäh daran, dass er Rena angeredet hatte, wie es auch ihre Eltern gelegentlich taten: Spatz. Doch wenn sie zu ihm aufschaute – wie ihre Mutter – mit ihrem großen Interesse an allen Menschen und mit ihren vielen Fragen, dann glich sie einem neugierigen kleinen Spatz. Der Kosename passte perfekt, ebenso wie auch „Madame Balance“.

Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Das Kind war rührend. Er hatte sie gern in der Nähe, doch als er so weit kam, traf ihn dieser Gedanke wie ein Blitz: Sie war so offen, so begeisterungsfähig, so herzenswarm … und gefährlich. Was hatte Felix erst vor wenigen Monaten so treffend festgestellt: „War ja wohl schwer für dich, zurück zu rudern.“

Das Mobiltelefon klingelte. Er meldete sich über die Freisprechanlage. „Myers.“ „Hei, ich bin’s, Leo. Der Pastor hat angerufen. Da musst du auch noch vorbei. Kannst du das machen?“ „Nicht heute Abend, aber gib mir die Nummer. Ich bin bald zurück.“

Anfang Mai, noch vor der Hochzeit, fanden Felix und Tom ein Haus, das sie zum Wellnessbereich umbauen konnten – und sie kauften es. Es war ein Fachwerkhaus aus dem Mittelalter. Sie brauchten es nur von einem Dorf in der Nähe zu seinem neuem Platz zu transportieren.

Leona und Tom verhandelten mit der Gemeinde und den Rechtsanwälten. Sie fanden einen Architekten. Bald war alles geklärt. Dabei half ihnen besonders, dass Tom sich die Kosten für Kauf und Umbau problemlos leisten konnte. Allerdings handelte er trotzdem wie auf einem arabischen Bazar um jeden einzelnen Euro. Leona lobte ihn hinterher für diese Taktik. Ihr Mann blinzelte ihr vertraulich zu: „Süße, denkst du, ich werfe mein Geld aus dem Fenster? Ich bin doch kein Verschwender. So viel habe ich nicht übrig.“ „Nein, ich weiß gar nicht, wo diese Idee wieder her kommt“, neckte Leona ihn und kicherte.