ANGEL

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Irgendwie hatte sie den Gedanken nicht ertragen, nach der letzten Vollmondnacht in ihren ganz normalen Alltag zurückzukehren. Wieder war nichts passiert. Sie hatte sich immer noch nicht verwandelt! Es machte sie wütend und enttäuschte sie. Die einzige Rettung aus diesem Stimmungstief, in das sie zu stürzen drohte, war ein Mann! Und auf den wartete sie nun.

Aber bisher stand sie vergebens in der Kälte und all dem Schnee. Lou war nirgends zu entdecken. Doch noch war ihre Geduld nicht aufgebraucht. Gerade, als sie überlegte, sich in das Café zu setzen und von dort aus alles zu beobachten, ging ein paar Häuser weiter die Straße hinunter die Haustür auf. Melody hielt den Atem an, als sie all das schwarze Leder sah. Die gefütterte Jacke, die Hose und die schweren Stiefel. Kleine Wölkchen gefrorener Atemluft trieben vor ihm her, als er die drei Stufen heruntersprang und auf dem Gehweg landete.

Lous Blick schnellte sofort zu ihr herüber. Er wusste, dass sie da war. Hatte es wahrscheinlich schon gewusst, noch ehe er hinausgekommen war. Er war schließlich kein Anfänger.

Melody hob vorsichtig die Hand und winkte ihm zu. Sie hatte nicht erwartet, dass er hier wohnte. Irgendwie war sie davon ausgegangen, dass er nur zufällig hier vorbei gekommen war, als sie sich das erste Mal gesehen hatten. Aber die Welt war eben voller Zufälle.

Melody konnte ein leises Seufzen nicht unterdrücken, als sie ihn beobachtete, wie er über die Straße auf sie zukam. Seine Schritte waren lang und geschmeidig, sprachen von Kraft und Stärke. Jede Bewegung verriet einem, was für ein Raubtier er war. Sie musste wirklich zugeben, dass er ihr gefiel. Er hatte etwas an sich, dass sie tief in seinen Bann zog. Und dem sie kaum entkam.

„Guten Morgen“, begrüßte Lou sie mit einem dünnen Lächeln auf den Lippen, als er sie schließlich erreicht hatte.

„Morgen“, erwiderte sie. Immer noch faszinierte sie die Farbe seiner Augen. Dieses eisige Blau, etwas, dass man kaum eine Farbe nennen konnte. Wie Metall oder Edelsteine. Gefrorene Seen, in denen man sterben mochte.

„Nun? Was führt dich so früh am Morgen schon hierher? Hast du keine Schule?“ Lou verschränkte die Arme vor der Brust und Melody hörte mit entzücken, wie sich das Leder über seinen Armen spannte.

„Nein. Ist ausgefallen“, log sie und sah sofort, dass er ihr nicht glaubte. Aber er sagte kein Wort dazu. „Ich ...“ Ja, genau. Was wollte sie eigentlich? Sie konnte ihm ja schlecht sagen, dass sie ihn einfach nur wiedersehen wollte. Noch offensichtlicher und flacher ging ja wohl kaum.

„Es ist gut, dass du hier bist“, unterbrach Lou sie mit einem Mal und der Tonfall in seiner Stimme ließ sie aufmerksam werden. „Weißt du, ich hätte dich heute sowieso besucht.“ Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, dass Melody zum einen gar nicht gefallen wollte und dass sie auf der anderen Seite sagenhaft erotisch fand. „Es ist gut, dass du von allein hergekommen bist. Sonst hätte ich dir noch vor deiner Schule auflauern müssen.“ Er gab ein leises Lachen von sich und auch Melody musste schmunzeln bei dieser Vorstellung. Mann, was hätten die anderen Mädchen dumm geschaut, wenn Melody mit so einem heißen Typen vom Hof spaziert wäre. Vielleicht sollte sie ihn bitten, sie das nächste Mal tatsächlich von der Schule abzuholen ...

„Komm“, sagte Lou jetzt und riss Melody abermals hart zurück in die Wirklichkeit. „Mein Wagen parkt da drüben.“ Er wies mit einer Hand auf einen schwarzen Hummer, der ein paar Meter die Straße hinunter stand. Melody stutzte zuerst über das Wahnsinnsauto, dann aber hielt sie inne. „Moment! Wohin fahren wir denn?“

Lou, der schon einige Schritte voraus war, hielt an und drehte sich zu ihr um. „Raus. Aufs Land.“

Melody konnte ihn nur mit schief gelegtem Kopf und fragendem Blick anstarren. Was zur Hölle wollte er denn außerhalb? Außer vielleicht sie zu verführen. Oder gar zu vergewaltigen.

Melody merkte erst, dass sie sich bewegt hatte, als ihr die warme Luft der Klimaanlage ins Gesicht blies. Sie saß auf dem bequemen Beifahrersitz, schnallte sich an und sah zu Lou hinüber, der den Motor gestartet hatte und langsam über die glatte Straße rollte.

Wenn das irgendjemand mitbekäme, dachte Melody über ihre eigene Waghalsigkeit. Ihre Eltern würden sie einfach umbringen, wenn sie das wüssten! Vielleicht würde Emilia sich einen Hund zu legen und ihre Teile an ihn verfüttern.

Lou fuhr ruhig und besonnen über die glatten, nicht immer gestreuten Straßen. Raus aus der Stadt. Raus aufs Land. Eine gute halbe Stunde dauerte es, ehe Lou in einen Feldweg einbog und nach einem weiteren Kilometer dann endlich anhielt. Er stellte den Motor aus und schnallte sich ab. Melody starrte unterdessen sprachlos aus dem Fenster in das vor ihr liegende Nichts.

Nur Wald und Bäume und noch mehr Wald und noch mehr Bäume. Und steinhart gefrorenen Boden, mit Wurzeln und Steinen, an denen man sich den Hals brechen konnte.

„Ähm ... Was genau hattest du noch mal gleich vor?“, murmelte sie, ohne auch nur zu ihm rüber zu sehen. Sie hörte nur sein Schnauben, das fast ein Lachen sein konnte und dann die Fahrertür. Lou war ausgestiegen und öffnete nun die Tür zum Rücksitz.

„Komm, steig aus“, sagte er zu ihr, während er unter dem Rücksitz nach etwas suchte. In Melodys Kopf entstanden gerade die farbenfrohsten Bilder von Fesselwerkzeugen und Waffen, als sie ihn so suchen sah. Dazu dann noch diese abgeschiedene Gegend. Ja, wie dafür geschaffen ein Mädchen zu vergewaltigen und zu ermorden.

Langsam stieg Melody aus dem Hummer und hüpfte in den Schnee. Ihre Gedanken klebten dabei an dem Jagdmesser, das sie von Tracey bekommen hatte. Es steckte immer in einer ledernen Scheide an ihrem Rücken. Langsam öffnete Melody ihren Wintermantel, damit sie ungehindert an das Messer kam, wenn sie es müsste.

Mit einer Hand im Rücken ging sie um das Fahrzeug herum. Lou richtete sich wieder gerade auf und sah sie an. In den Händen hielt er … zwei Paar Fellhandschuhe und zwei üppige Fellmäntel.

Melody stand der Mund offen.

Lous Augenbraue schnellte in die Höhe, als er sie skeptisch ansah. Dann legte er den Kopf schief. „Du hattest die ganze Zeit keine Angst vor mir, warum willst du jetzt damit anfangen?“

Melody schluckte schwer, fühlte sich ertappt und durchschaut.

„Entschuldige“, murmelte sie leise und knöpfte ihren Mantel wieder zu. Lous Lippen umspielte ein schwaches Lächeln.

„Gut zu wissen, dass du bewaffnet bist“, feixte er, „ich nämlich nicht! Falls uns also mal jemand überfällt, lasse ich dir gern den Vortritt.“

Empört strecke sie ihm die Zunge raus, nahm aber das Paar Handschuhe und den schmal geschnittenen Fellmantel entgegen, den er ihr reichte.

„Hier. Zieh das an. Wenn wir den ganzen Tag hier draußen in der Kälte verbringen wollen, sollst du nicht frieren.“

„Weißt du, ich frage mich langsam ernsthaft, was du hier eigentlich mit mir vorhast ...“, rätselte Melody, während sie den weichen, warmen Kaninchenfellmantel über ihren Schurwollmantel zog.

Lou schnaubte leise, während er seinen Mantel schloss. Nun sah er ein bisschen aus, wie ein schlecht ausstaffierter Callboy oder besser noch der Chef eines Pornofilmimperiums. Der Gedanke brachte sie zum Grinsen. Passte auch irgendwie zu ihm.

„Ich dachte, das wüsstest du mittlerweile.“ Er sah sie fragend an, als sie leise vor sich hin kicherte, aber als sie nur den Kopf schüttelte, fuhr er fort. „Ich bin mit dir hier herausgefahren, weil ich finde, dass ihr in eurer Werwolf–Krabbelgruppe bei dieser Menschenfrau nichts lernt. Dieser ganze theoretische Mist, den sie euch da beibringt ... Was wollt ihr damit?“

Melody starrte ihn aus großen Augen an. Hä?

„Ich möchte dir die wirklich wichtigen Dinge beibringen. Jagen. Fährten lesen. Deine Instinkte unter realen Bedingungen gebrauchen lernen.“

Oooookay ... Das war ein bisschen viel Input auf einmal.

Melody stützte sich mit einer Hand an der noch warmen Motorhaube des Hummers ab. „Äh ...“, war alles, was ihren Mund verließ, als sie ihn vollkommen verdattert anstarrte.

Jetzt grinste Lou sie an. „Ich dachte, das ist es, was du wolltest?“

Sie nickte schnell. „Ja, klar.“ Woher auch immer er das wusste? Aber wenn er Tracey kannte, vielleicht hatte er mit ihr gesprochen.

Lou machte auf dem Absatz kehrt, dass die Erde unter ihm knirschte.

„Na los“, rief er ihr zu, während er einfach auf den Waldrand zu stapfte. Melody blieb gar nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Es war hell und still unter den kahlen Kronen der Laubbäume. Die gefrorenen Oberflächen von Pfützen und Bachläufen reflektierten das Licht und allein ein paar einsame Kiefern und Tannen stellten sich dem Kontrast von all dem Grau und Braun.

Ihr Begleiter ging lange schweigend voran. Nur das Geräusch ihrer Schritte und ihr leiser Atem waren zu hören. Ein paar vereinzelte Vogelstimmen in der kalten Morgenluft. Schon nach einer knappen viertel Stunde war Melody dankbar für den warmen, weichen Fellmantel. Ein tonloser Seufzer hob und entspannte ihren Brustkorb und sie ließ ihren Blick in der harmonischen Winterlandschaft umherschweifen ...

Und rannte geradewegs in Lous steinharten Rücken, als dieser unvermittelt stehen blieb.

„Verdammt!“, fluchte Melody und rieb sich die Stirn. Lou warf ihr nur einen kurzen Blick über die Schulter zu. Leise fluchend trat Melody neben ihn und verschluckte bald ihre Stimme, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.

Vollkommen lautlos legte er einen behandschuhten Finger an die Lippen und bedeutete ihr still zu sein. Dann schloss er die Augen und schwieg.

Melody starrte ihn an. Lange. Sie begann sich zu fragen, was genau sie hier eigentlich machten...

 

„Schließe die Augen“, hörte sie plötzlich Lous leise, unglaublich tiefe Stimme. „Lausche.“

Sie tat, wie er ihr sagte. Schloss die Augen und sperrte die sehende Welt aus. Dann lauschte sie. Lauschte tief in den Wald hinein ...

Zuerst waren da nur all jene Geräusche, die sie auch schon vorher wahrgenommen hatte. Lous und ihr eigener Atem. Die Vögel in den nackten Bäumen. Ihr eigener Herzschlag.

Doch je ruhiger sie wurde, desto mehr öffnete sich ihr die Welt. Sie begann Lous Gegenwart zu spüren, zu sehen, vor ihrem inneren Auge. Sie nahm die Aura der kleinen hitzigen Vögel wahr. Die schwache, schlafende Kraft der Bäume um sie herum. In einiger Entfernung sah sie eine Herde Rehe. Sechs Ricken und ein großer, prächtiger Hirsch. Sie konnte sie riechen. Hörte das harte, laute Schlagen ihrer eifrigen Herzen, die Liter kochenden Blutes durch die Adern der Tiere jagten. Sie hörte sie schnauben, als sie eine Gefahr witterten, die sie nicht einordnen konnten.

Bei den Göttern!, erkannte Melody, sie selbst und Lou waren das, was die Tiere als Bedrohung wahrnahmen.

Da spürte sie zum ersten Mal etwas in sich, dessen sie sich zuvor noch nie bewusst geworden war. Aber sie wusste sofort, was es war:

Hunger.

Ein Geruch, süß, schwer und beißend, erfüllte die Luft. Trieb in dicken, unsichtbaren Schwaden zwischen den Bäumen ... Melody wusste nicht, was genau sie tat, aber sie fühlte, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper spannte. Ein Instinkt übernahm die Kontrolle über ihren Leib, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn auch besaß. Ihrer werwölfischen Natur zuwider hatte sie niemals zuvor solch eine Lust verspürt ... Die reine, ehrliche, unbarmherzige Lust ein lebendiges Wesen zu töten.

Melody erschrak vor ihren eigenen Gedanken. Sie stieß hart den Atem aus, der sofort in der Luft gefror. Sie hörte in der Ferne, wie die Rehe erschreckt die Flucht ergriffen. Und wie Lou leise lachte. Ihr Blick schnellte zu ihm herum und sie starrte in zwei amüsiert funkelnde, eisblaue Augen.

„Naturtalent“, kicherte er. Melody blinzelte verwirrt. Woraufhin sich Lous Mundwinkel nur noch stärker nach oben verzogen. Das Grinsen brachte hübsche, kleine Fältchen auf seinen strengen Zügen hervor. Ließ ihn wesentlich weniger gefährlich aussehen.

„Du hast dann wohl gerade unser Abendessen vertrieben“, grinste er und hob die Hände. Melody war immer noch viel zu überfordert mit sich selbst, als dass sie auf seine Scherze eingehen konnte.

Bis Lous schwere Hand auf ihrer Schulter landete.

„Gut gemacht“, sagte er, wieder ernster geworden. „Ich wusste, dass in dir große Talente ruhen.“

Er sah ihr einen Moment in die Augen. Sein Blick war tief und intensiv, so als versuche er in sie hinein zu sehen. Sie konnte seinen Blick nur erwidern. Unmöglich ihm auszuweichen. Für einen einzigen Moment glaube sie feines, schimmerndes rotgoldenes Gespinst in seinen Augen zu sehen. Den schwachen Schimmer seiner anderen Seite. Sie wollte genauer hinsehen, tiefer in seine Augen eindringen, aber in dem Moment ließ er sie los und ging an ihr vorbei. Tiefer in den Wald.

So hart aus dem Bann gerissen, brauchte Melody einen Moment, ehe sie wieder in der Wirklichkeit war und ihm folgen konnte. Sie lief ihm nach, und als sie wieder an seiner Seite war, musterte sie ihn eingehend. Sein Gesicht war nun wieder ernst und verschlossen. Seine Augen einfach nur blau.

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte sie leise und er sah sie nicht einmal an, als er antwortete. „Wir gehen eine Fährte suchen. Ich zeige dir, wie man sie richtig liest.“

Melody nickte und ließ sich einen Schritt zurückfallen. Lou war so ein seltsamer Mann. Er hatte eine Aura reiner Bosheit. Tiefer innerer, uralter Hass verdunkelte seine Augen. Und seine Seele. Melody spürte das Eis in seinem Herzen. Auf der anderen Seite war er hier, hatte sie hierher gebracht, um mit ihr zu üben, ihr Dinge zu zeigen, die sie bereits beherrschte, ohne davon zu wissen. Dinge, die ihr weder Tracey noch ihre Eltern beibringen wollen würden.

Und was das, für sie selbst, faszinierendste an diesem Mann war, war, dass sie überhaupt keine Angst vor ihm hatte. Instinktiv spürte sie zwar, dass er wahrlich ein Raubtier und für jeden anderen eine Gefahr war, aber für sie selbst … Melody wusste einfach, dass er ihr niemals wehtun würde.

Ein Lächeln trat auf ihre Lippen. Jetzt war sie Stolz auf sich und glücklich über die Entscheidung mit ihm gegangen zu sein. Es fühlte sich gut und richtig an. Sie mochte Lou wirklich, auch wenn er noch halb ein Fremder für sie war. Von ihm würde sie mehr lernen können, als von Tracey. Da war sie sich sicher.

*

Unruhig ging Nick in der großen Eingangshalle auf und ab.

Bereits seit dem Morgengrauen schlich er, wie ein Tiger im Käfig hier herum. Kaum, dass er sich zurückverwandelt hatte, war er hier heruntergekommen, um auf Mark zu warten. Nicht einmal geduscht hatte er. Viel zu sehr brannte in ihm das Bedürfnis nach einem Gespräch mit seinem Alpha. Cassie war schwanger!

Immer noch schwankte sein Gemüt zwischen himmelhoher Freude und totaler Verzweiflung. Was würde Mark sagen, wenn er davon erfuhr?

Würde er sich umstimmen lassen und wohlmöglich Cassie erlauben hier einzuziehen, damit das Kind im Rudel aufwachsen konnte? Noch bezweifelte Nick das. Warum nur musste ausgerechnet heute ein Morgen sein, an dem Mark nicht pünktlich zu Hause war! Kaum hatte er diesen Gedanken jedoch zu Ende gedacht, sprang die zweiflüglige Eingangstür auf und ein halbes Dutzend breitschultriger Gestalten füllte den Rahmen.

Nick blieb wie angewurzelt stehen, als ihm ein Anflug von Ärger in die Nase wehte. Die erste, die die Halle betrat, war Robin. Die grazile Vampirin fiel zwischen all den Männern kaum auf. Kurz trafen sich ihre Blicke und was Nick in diesen giftgrünen Augen las, machte ihm unmissverständlich klar, dass sein Anliegen heute kein Gehör mehr finden würde.

Ihr auf dem Fuße folgte Tracey, die Mark und Tony die Tür aufhielt. Tony schien irgendetwas Großes auf dem Arm zu tragen. Was es war, erkannte Nick jedoch erst, als auch Mark eintrat und die Tür sich hinter ihm schloss. In Tonys starken Armen wirkte Angels Körper geradezu winzig.

Zu sehr erinnerte ihn dieses Bild an jene Nacht, in der Angel zum ersten Mal hier angekommen war. Vor so vielen Nächten …

Seth schien etwas Ähnliches zu denken, denn er fluchte bitter, als er die Treppe hinab kam und die Ankunft der anderen sah. Mit finsterer Miene blieb der rothaarige Werwolf neben ihm stehen und verfolgte das weitere Geschehen. Lukas war seit einigen Wochen schon nicht mehr hier gewesen. Mark hatte ihn mit einem Auftrag in die Fremde geschickt. Der Alpha wies seine Begleiter an, hinauf in den ersten Stock zu gehen. Sie würden Angel wohl in ihr Zimmer bringen, welches seit ihrer letzten Abreise immer noch unverändert war.

Mark selbst schlug den Weg zu seinem Arbeitszimmer ein, und erst da bemerkte Nick den großen, mit einem Tuch verdeckten Käfig, den er vor sich hertrug. So vorsichtig, wie Mark das nach Magie und Zorn stinkende Gefängnis trug, ahnte Nick, wer sich darunter verbarg. Als Mark zurückkehrte, ohne den Käfig, schlossen Nick und Seth sich ihm an. Gemeinsam erklommen sie die Treppe und warteten gehorsam im Türrahmen vor Angels Zimmer. Tony hatte Angels reglosen Körper auf das Bett gelegt und nun beugte sich Tracey, die Menschenfrau, über sie. Geschickte Finger führten das Stethoskop über ihre Brust. Und erst, als Tracey nickte schienen alle aufzuatmen.

„Sie schläft jetzt. Anscheinend hatte sie einen Nervenzusammenbruch, aber bei ihrem körperlichen Zustand ist das kein Wunder. Mark, du musst sie unbedingt dazu kriegen, dass sie sich vor dem nächsten Vollmond nährt. Das, was gestern Nacht geschehen ist, darf sich unter keinen Umständen wiederholen! Heute Morgen hatte ich ein sehr langes Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden Balthasar Luther. Er hat mir nahegelegt, dass ich mich mit Angel unterhalte, da sie ja Teil meiner Arbeit ist. Ich solle ihr zur Not einen Maulkorb anlegen, sagte er. Als wenn das bei ihr möglich wäre … Jedenfalls hatte er insofern recht damit, dass die nächste Verwandlung ihre Letzte sein wird, wenn sie sich nicht endlich nährt. Die Zeichen sind leider zu eindeutig.“ Sie gab Robin einen Wink, die daraufhin eine Tageszeitung aus ihrem Rucksack holte und sie Nick und Seth reichte. Was Nick dort in schwarz und rot auf dem Titelblatt sah, jagte ihm eiskalte Schauer über den Rücken.

„Die Tatsachen sind, wie sie sind. Angel wird in sehr naher Zukunft den Verstand verlieren, wenn sie sich nicht in den Griff bekommt. Ihr Dämon wird die Kontrolle übernehmen, um sich selbst am Leben zu erhalten, und was dabei rauskommt haben wir ja letzte Nacht gesehen.“

Stille herrschte und machte das Atmen schwer, als Tracey schwieg. Eine Weile standen alle wortlos da und starrten auf die schlafende Angel. „Mich hat Balthasar heute Morgen auch angerufen.“

Robins Stimme hatte den Klang von splitterndem Eis, und als Nick zu ihr hinsah, verstand er auch warum.

Die Vampirin war stinksauer. Ihre schneeweißen Fänge ragten ihr bis auf die Unterlippe und aus ihren Augen sprühte eisige Kälte.

„Da ich ebenfalls ein Mitglied des Rates bin, haben sie mir die Aufgabe übertragen. Sie haben mich auf Angel angesetzt. Sollte sie sich bis zum nächsten Vollmond nicht nähren, obliegt es mir, sie zu töten.“

„Deshalb ist Claude hier!“, platze Nick heraus, der einfach keine Sekunde länger still sein konnte. Alle starrten ihn an.

„Nein“, knurrte Mark nach einem Moment. „Den haben wir in Angels Wohnung gefunden. Eingesperrt in diesem Käfig. Ich habe ihn hergebracht, damit er Angel nährt, sobald sie aufwacht. Nicht, damit wir eine Möglichkeit haben sie zu töten.“

„Aber ich behalte es im Hinterkopf.“

Wieder ließ Robins bittere Kälte alle verstummen. „Es ist doch wahr. Sollte sie den Verstand verlieren, bringt sie uns alle in Gefahr. Wenn die Menschen sie finden, oder gar gefangen nehmen, ist es vorbei mit unserem unentdeckten Leben. Habt ihr etwa Lust, dass sie wieder damit anfangen uns zu jagen? Mal ganz davon abgesehen, welchen Schaden Angel anrichten kann! Sie ist schließlich nicht einfach nur ein Werwolf, der durchdreht. Ich fürchte, dass wir sie nicht mehr aufhalten können, wenn es erst einmal soweit gekommen ist …“

„Sie hat Recht“, stimmte Mark ihr zu. Entsetzen breitete sich in Nicks Brust aus. Sie würden es wirklich tun. Sie würden Angel töten, wenn es sein musste!

„Natürlich wird es nur unser letzter Ausweg sein, aber wir müssen ihn in Betracht ziehen. Angel ist genauso wechselhaft und unkontrollierbar, wie das Meer. Sollten wir es nicht schaffen, sie zur Besinnung zu bringen ...“

Den Rest des Satzes ließ er ungesagt, aber auch so wussten alle, was er meinte. Nicolai konnte nicht glauben, was er hörte. Wieder und wieder fiel sein Blick auf das Bild in der Zeitung. Es war nicht von der Hand zu weisen. Wenn die Menschen erst wussten, wer unter ihnen lebte, würden sie sie aus Angst jagen und töten. Dann würden die Jäger zu Gejagten.

Unter Werwölfen war Wahnsinn selten, Vampire stürzten hundert Mal öfter in diesen bodenlosen Abgrund, aber dennoch kam es vor. Und Angel war vieles, aber sicher nicht gewöhnlich. Wer konnte denn ahnen, was geschah, wenn sie die Kontrolle verlor?

„Geht jetzt“, brach Tracey die bedrückende Stille. „Angel braucht Ruhe. Mark, sieh zu, dass du alles vorbereitest. Und ihr anderen kümmert euch um euren Kram.“

Immer wieder bewunderte Nick die Furchtlosigkeit der Menschenfrau. Sie ließ sich sogar in einem Raum voll Dämonen nicht den Schneid abkaufen. Das erinnerte ihn jedes Mal an seine Cassie. Wenn Tracey sich in dieser Welt behaupten konnte, warum nicht auch Cassie? Vielleicht war genau diese eine Frau der Weg, den Nick brauchte, um Mark von Cassies Stärke zu überzeugen.

*

Oh Gott! Wie lange hatte ich denn geschlafen? War ich etwa tatsächlich eingenickt?

Ich versuchte mich zu bewegen, aber mein Schädel schmerzte ganz fürchterlich. Also blieb ich einfach liegen und streckte nur die Hand zum Nachttisch aus. Meine Finger tasteten über das raue Holz und fanden … gar nichts.

Mit einem erschreckten Aufschrei in der Kehle fuhr ich hoch, gegen den erklärten Willen meines Körpers. Ich drehte mich herum und starrte auf das kleine Schränkchen neben meinem … Das war nicht mein Bett!

Und auch nicht mein Nachttisch. Nicht einmal mein Zimmer. Wo zum Donner war ich?!

Sofort kehrte das Zittern zurück. Schnell sprang ich auf und rannte zum Fenster. Craven!

 

Sie hatten mich zurückgebracht, diese verdammten …! Wie konnten sie nur? Gerade jetzt, wo ich bei meiner Tochter sein müsste! Was wäre, wenn sie sich zum nächsten Vollmond verwandeln würde? Emilia und Bob könnten ihr sicher nicht helfen, nicht so, wie ich es konnte. Ich musste zurück! Jetzt! Ich stieß die Fäuste gegen die Fensterbank und biss mir auf die Lippe, damit der Schrei meiner Kehle nicht entkam. Ich schmeckte Blut. Der Schmerz, der mein Herz einschnürte wie mit Stacheldraht, ließ mich kaum noch atmen. Keuchend sank ich auf die Knie. In meinem Inneren verkrampfte sich mein Magen zu einem harten, kalten Klumpen.

Stöhnend fiel ich zur Seite, als mir schwarz vor Augen wurde. Ich durfte nicht schreien! Niemand durfte mich so finden! Ich musste hier weg!

So wand ich mich vor Schmerz auf dem Boden, hier in diesem verhassten, geliebten Zimmer. Ich war so froh, dass niemand kam, um nach mir zu sehen. Helfen würden sie mir ohnehin nicht können. Verborgen hinter dem Schmerz meines Herzens, lauerte ein anderer Gegner. Grausamer und unerbittlicher, als Wut und Trauer.

Pechschwarzer, elementarer Hunger.

Ich war so hungrig. Wann hatte ich mich zuletzt genährt? Der Schmerz in meinen Eingeweiden war pure Folter. Fraß mich von innen heraus auf. Aber ich wollte mich nicht von einem meiner Freunde nähren. Weder von Robin noch von Tracey oder gar von diesem süßen Engel! Ihr Blut hätte zwar allemal gereicht, aber die Schuld würde ich nicht ertragen können. Keinem von ihnen würde ich die Schande zumuten wollen, mich zu nähren. Geschweige denn das Risiko, dass ich abermals den Verstand verlor, wie in dieser Gasse mit Connor. So etwas durfte einfach nie wieder geschehen. Mir war längst bewusst, dass ich weit über den Tag hinaus war. Ich hatte das quälende Verlangen ignoriert, verdrängt, doch nun wurde es von Tag zu Tag schlimmer. Unmöglich würde ich es auch nur weitere vierundzwanzig Stunden aushalten, ohne jemanden anzufallen. Unmöglich ...

Ich stemmte mich langsam in eine sitzende Position hoch, als der Schmerz für einen Moment nachließ. Bereits seit ich das erste Anzeichen des Hungers gespürt hatte, driftete ein einziger, sehr grausamer Gedanke in meinem Kopf umher. Allein die Vorstellung machte mir Angst, aber dennoch ließ sie mich nicht los. Verdammt ... es war doch schon so lange her …

Mir fiel, abgesehen von einer Hetzjagd in menschlicher Gestalt, stets nur diese eine Lösung ein. Egal, wie oft ich darüber nachdachte. Mir wurde schlecht, als ich daran zurückdachte, was beim letzen Mal beinah geschehen war.

Nein ... Er war nicht die Lösung. Ich musste einen Menschen finden. Und zwar schnell! Warten konnte ich nicht länger, wenngleich ich damit, zumindest für eine Weile, meine Qualen lindern würde. Aber Connor hatte mir in gewisser Weise die Augen geöffnet. Ich verlor die Kontrolle über mich und verlor ich sie erst ganz, dann ...

Meine Freunde würden gezwungen sein mich zu vernichten. Einzusperren sollte es nicht anders gehen. Sie mussten verhindern, dass unsere Existenz bekannt würde, und ich würde es ihnen nicht einmal übel nehmen. Es gab keinen anderen Weg.

Müde und erschöpft warf ich einen Blick zum Fenster. Es war fast Abend. Sie Sonne war beinah untergegangen. Irgendeinen Junkie oder eine Prostituierte würde ich schon aufspüren können ... Selbst hier draußen in meinem wilden Niemandsland.

Ich zwang meinen schwachen, ausgehungerten Körper auf die Füße und schleppte mich hinüber zur Tür. Dort lauschte ich kurz, aber draußen war nichts zu hören. Scheinbar schliefen sie noch. Sehr gut … Ich zog mich schnell an und wärmer, als notwendig gewesen wäre. Mein Leib war kaum noch in der Lage meine Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Natürlich gab es hier in meinem alten Kleiderschrank immer noch Sachen von mir. Mark hätte sie nie einfach entsorgt. Ich gehörte immer noch zum Rudel. Jedenfalls seiner Meinung nach.

Ich verließ das Haus durch mein Fenster, durfte niemandem begegnen. Wenn Mark mich fand ... Er würde mich zwingen von ihm zu trinken. Da war ich mir sicher. Er war ein guter Alpha.

So lautlos, wie ich es noch vermochte, schlich ich durch den Garten in Richtung Tor. Am Rande der Mauer von Craven angekommen, schwang ich mich hinüber.

„Ich hatte wirklich erwartet, dass du es noch etwas weiter südlich versuchst, Angel.“

Eigentlich hätte ich wirklich damit rechnen müssen. Mark war nicht dumm und er kannte mich gut.

Seine Stimme schnitt kalt und scharf, wie eine Klinge durch die Dämmerung. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Er hatte auf mich gewartet. Er hatte es gewusst, daran bestand für mich kein Zweifel. Warum hatte ich das nicht vorausgesehen?

Ein warmer, beschützender Arm legte sich um meine Schultern und ich wurde an eine kräftige Brust gezogen.

„Komm. Ich bringe dich zurück.“

Langsam drehte er sich um und führte mich zurück zu der versteckten Tür. Mit aller Vorsicht schob er mich hindurch. Kaum hatte ich das Grundstück betreten, befiel mich wieder dieses Gefühl beschützt und behütet zu sein. Wie stets, wenn ich hierher zurückkehrte, fühlte ich mich sicher. Zuhause.

Murrend wischte ich den Gedanken aus meinem Kopf. Das gehörte jetzt nicht hierher. Es war weder der Moment, noch hatte ich gerade die Geduld dafür.

„Wie hast du gemerkt, dass ich weg war?“, fragte ich ihn leise, während wir Seite an Seite den Kiesweg zum Haus gingen.

Mark lächelte, als er antwortete. „Als wir beschlossen, dass du dich hier bei mir erholen solltest, habe ich von Nick an jedem Fenster und jeder Tür stummen Alarm anbringen lassen.“ Er holte ein kleines, schwarzes Gerät aus Plastik aus der Hosentasche, dass irgendwie Ähnlichkeit mit einem Autoschlüssel hatte. Oder einem Garagentoröffner. „Durchbricht jemand die Sensoren, bekomme ich ein Signal hierher. Außerdem war mir klar, dass du versuchen würdest, zu fliehen. Das Eingesperrtsein konntest du noch nie gut ertragen.“ Einen Moment lang schwieg er und seine Miene wurde grabesfinster. „Dein Hunger ist so gewaltig, dass ihn jeder im Haus wahrnehmen kann. Angel, warum kommst du damit nicht zu mir?“

Ich wandte den Blick ab, als er mich daraufhin ansah. „Ich will nicht, dass ihr mir helft. Es geht weder dich noch sonst irgendjemanden etwas an!“, zischte ich wütend.

Mark seufzte traurig und öffnete die Haustür für mich. Behutsam schob er mich hindurch und geleitete mich direkt in sein Arbeitszimmer. Ein großer, warmer Raum mit bordeauxroten Wänden, schweren Samtvorhängen und dicken, weichen Teppichen. Es gab ein großes Sofa und einen passenden Sessel mit einem dunklen, alten Holztisch vor dem offenen Kamin. An den Wänden rechts und links neben der Tür standen dunkle Bücherregale, vollgestopft mit Büchern, Papieren und Akten.

Alles sah noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Tür war nur angelehnt gewesen und im Kamin brannte ein Feuer. Sonst kam von nirgendwo her noch Licht. Die Vorhänge waren fast ganz zugezogen und sperrten die letzten Strahlen der Sonne aus.

Wir waren allein, als ich mich ans Fenster stellte und Mark sich in den Sessel fallen ließ. Ich hörte, wie er sich durch das Haar fuhr. Kurz wagte ich einen Blick zu ihm. Seine Finger massierten seine Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. Wie er da so saß, die Augen geschlossen, sah er viel älter aus, als sonst. Das war es gewesen, was mich bereits am Anfang so an ihm fasziniert hatte. Sein Alter.

Niemand konnte sagen, wie alt ich war. Alle die ich fragte, sagten, mein Körper könnte schon viele Hundert Jahre alt sein, und, dass man es nie genau sagen könnte, wenn ich mich nicht erinnerte. Werwölfe alterten nun mal mit dem Tag, an dem sie ihre volle Kraft erreichten, nicht mehr.

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