Stay Lucky

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Kapitel 3

»Ich habe gehört, dass Leo Garner wieder in der Stadt ist«, sagte Alec über den Rand seines Weinglases hinweg. In seinen großen, mit Kajal umrandeten Augen lag ein wissender Blick.

Grant war sich immer noch nicht sicher, wie es dazu kommen konnte, dass sein bester Freund in Blountville ausgerechnet der extravaganteste Sonderling der Stadt war, aber genau so war es.

Aber Alec war es wert, dass man ihnen nachsah und sie anstarrte, wenn sie zusammen in der Stadt unterwegs waren. Seine Ehrlichkeit, Loyalität und seine Entschlossenheit, mit Grant befreundet zu sein, auch wenn Grant nicht sehr nett zu ihm war, waren unbezahlbar. Außerdem war er hübsch und süß und verdiente nur das Beste, weil er es ertragen hatte, im konservativen Blountville, North Carolina, so unglaublich offensichtlich schwul aufzuwachsen.

Alec lehnte sich näher heran und verringerte so den Abstand zwischen ihnen auf Grants bequemem Ledersofa. Die Spaghetti, die Alec bei seiner Ankunft aus dem Hut gezaubert hatte, balancierten nun in großen, halb vollen Schüsseln auf ihren Knien. »Leo Garner«, wiederholte Alec mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Zurück. In. Der. Stadt.«

»Und?«, fragte Grant und legte so viel Verachtung wie möglich in das Wort. Er schob sich eine Gabel Spaghetti in den Mund und schlürfte die Nudeln in der Hoffnung, Alec damit so sehr anzuekeln, dass er seine Frage vergaß.

»Bist du denn gar nicht neugierig, warum?«, fragte Alec. Er klimperte langsam mit seinen Wimpern und offenbarte den Glitzerlidschatten, den er beinahe überall trug.

Grant rollte mit den Augen.

Nachdem er Leo am Samstag wieder im Krankenhaus gesehen hatte, war er tatsächlich neugierig auf den Grund gewesen. Er hatte in den Patientenlisten nach einem von Leos Verwandten gesucht, weil er davon ausging, dass jemand aus der erweiterten Sippschaft ziemlich krank sein musste, damit Leo den weiten Weg von Los Angeles auf sich nahm.

Aber er hatte etwas ganz anderes herausgefunden, und das beschäftigte ihn seit Tagen unablässig. Bier half nicht, der Handjob vom Grindr-Treffen ein paar Städte weiter hatte nicht geholfen und die zwei Operationen, die er seitdem hinter sich gebracht hatte, hatten die Wahrheit auch nicht aus seinem Kopf vertrieben.

Das waren die Fakten: Leo hatte sich drei Jahre zuvor in Los Angeles einer Herztransplantation unterzogen, weil er von einer Herzmuskelentzündung massive Schäden davongetragen hatte, und nun litt er an transplantationsbedingtem Nierenversagen. Dialyse. Dreimal pro Woche. Für immer. Und Leo konnte nicht auf die Transplantationsliste gesetzt werden, da die vorherige Herztransplantation ein zu hohes Risiko bedeutete. Auch das hatte Grant nachgelesen. Das war harter Tobak.

Warum er in Blountville und nicht in Los Angeles war, um sich behandeln zu lassen, verstand Grant allerdings nicht. Das war ein Geheimnis, das er erst noch lüften musste. Alec wusste wahrscheinlich die Antwort darauf, denn er war ein notorisches Plappermaul, das alles über jeden wusste. Außerdem kaufte er jedes Klatschblatt, auf dessen Titelseite der Superstar seiner Heimatstadt, Curtis Banks, abgebildet war. Aber wenn Grant Alec fragte, würde er zugeben, dass er sich doch noch für Leo Garner interessierte. Und das war ihm zutiefst zuwider.

Grant räusperte sich. »Ich weiß nicht, warum du denkst, dass ich mich für ihn interessiere.«

»Er ist krank«, sagte Alec in einem sanften Ton und beobachtete Grants Reaktion genau.

Grant zwang sich, keine Miene zu verziehen, und entschied dann, dass selbst das zu verdächtig sein könnte, also schob er seine Unterlippe vor und versuchte, es zu überspielen. »Schade, wirklich traurig.«

»Sei kein Idiot«, sagte Alec, stellte sein Weinglas ab und stellte seine übrig gebliebenen Spaghetti auf den Couchtisch. »Ich weiß, dass er dir am Herzen liegt.«

»Gelegen hat«, stellte Grant klar. »Vergangenheitsform.«

»Richtig.« Alec hob eine Augenbraue. »Das würde erklären, warum du jedes Mal zusammenzuckst, wenn jemand seinen Namen sagt, und warum seine jährlichen Weihnachtsbesuche ganz oben auf deiner ziemlich langen Liste stehen, warum du die Weihnachtszeit hasst.«

Grant starrte ihn an.

Alec hob einen mahnenden Finger. »Ja, ich habe die Liste gesehen, du Idiot. Du hast sie letztes Jahr über deiner Toilette aufgehängt. Ich nehme an, du wolltest dich jedes Mal daran erinnern, wenn du pinkelst? Aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, warum du je vergessen solltest, ein Grinch zu sein. Du bist ja praktisch ein Profi darin.«

»Das war privat.«

»Dir ist klar, dass ich hier auch aufs Klo gehe. Und ich kann lesen, weißt du.«

»Glückwunsch, du hast die erste Klasse bestanden.« Grant schob noch mehr Essen in sich hinein, in der Hoffnung, dass sie dieses Thema hinter sich lassen konnten. Er wusste nicht, womit er Alec ablenken sollte, und war insgeheim verdammt neugierig, warum Leo nicht in Los Angeles in Behandlung war. Gott wusste, dass es in Kalifornien weitaus bessere Krankenhäuser und Behandlungsmöglichkeiten gab als im winzigen Regionalkrankenhaus in Blountville, vor allem, wenn Leos superreicher, superberühmter Schauspielerfreund ihn mit seinem Geld unterstützte.

Alec seufzte. »Grant, er ist ziemlich krank. Ich finde, du solltest zugeben, dass er dir etwas bedeutet und sehen, ob du ihm helfen kannst.«

»Ich bin Herz-Thorax-Chirurg. Er leidet an Nierenversagen. Ich kann ihm nicht helfen.«

Alec grinste. »Das wusstest du alles schon, oder? Oh, jetzt verstehe ich. Er ist dir egal, und deswegen hast du stundenlang recherchiert und nachgeforscht, was mit ihm los ist.« Alec nippte mit einem schadenfrohen Grinsen an seinem Wein. »Ich verstehe.«

Grant stand auf und zog eine Grimasse. Er nahm Alecs Teller vom Couchtisch und machte sich auf den Weg in die Küche. Seine offen gestaltete Wohnung war spärlich mit Möbeln eingerichtet, die er seit dem Abschluss seines Medizinstudiums gesammelt hatte, und Alec drängte ihn immer, sich wohnlicher einzurichten. Er sah allerdings keinen Grund dafür. Doch für wen? Er brachte keine Männer zum Vögeln mit nach Hause, und er hatte es schließlich nicht nötig, sich selbst zu beeindrucken.

Auf das Abendessen mit Alec hatte er sich schon die ganze Woche gefreut. Er vermisste seinen besten Freund, jetzt da Alec so sehr damit beschäftigt war, sich ein Leben mit Dennis aufzubauen. Grant war froh gewesen, dass sie heute Abend ein paar Stunden allein verbringen würden. Aber jetzt überlegte er, ob er Alec vielleicht einfach nach Hause schicken sollte. Ihr Gespräch verdarb ihm den Appetit und den Spaß.

»Ach, komm schon, Grant!«, rief Alec, der ihm mit seinem Wein in der Hand folgte. »Willst du den Rest gar nicht wissen?«

»Nein«, sagte er, nahm Alec das Weinglas ab und leerte es selbst in einem großen Schluck. Er knallte das leere Glas auf den Küchentisch. »Will ich nicht.«

»Leo ist fertig mit Curtis. Völlig fertig. Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle«, sagte Alec, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn mit vor Freude glänzenden Augen an. »Verstehst du das nicht? Das ist deine Chance, Grant!«

»Meine Chance? Für was?«

»Dein Glück zu finden!«

»Bist du wahnsinnig? Wie um alles in der Welt soll das eine Chance sein, mein Glück zu finden? Er ist unglaublich krank, ein Emotionskrüppel und –«

»Und du bist der Hauptgewinn!«

»Danke, Alec. Ich wollte sagen, er ist krank und frisch getrennt. Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, wieder sein Trostfick zu sein, selbst wenn ich es wollen würde, was ich nicht will, denn ich bin sehr glücklich mit meinem Leben, vielen Dank. Ich genieße meinen Job, meine Einsamkeit und ich genieße es, mich nicht mit unentschlossenen, dramatischen, herzzerreißenden Diven herumschlagen zu müssen.«

Alec stöhnte und warf den Kopf zurück. »Na schön. Wenn du dir all diese hübschen Lügen darüber erzählst, dass deine wahre Liebe die Chirurgie ist, als hättest du einen Skalpellfetisch, dann sage ich: Lügen haben kurze Beine.«

»Sehr erwachsen.«

»Nur die Wahrheit«, antwortete Alec, schnappte sich ein weiteres Glas aus Grants Schrank und füllte es aus der offenen Weinflasche auf dem Tresen.

Grant spülte das Geschirr ab, bevor er sich umdrehte und eine Gabel in Alecs Richtung schüttelte. »Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, was du gerade gemacht hast.«

»Was?«

»Du hast so getan, als ob wir nur abhängen würden, obwohl du mich eigentlich nur wegen einer Schwäche aufstacheln wolltest, der ich in der Vergangenheit kurz nachgegeben habe.«

»Hat es funktioniert?« Alec klang hocherfreut.

»Außerdem hast du Mina bei Dennis gelassen, obwohl du wusstest, dass ich lieber ihr süßes Zwergengesicht sehen würde, als dieses lächerliche Gespräch über Leo Garner zu führen.«

»Mina ist Dennis' Tochter! Er hat es verdient, auch mal mit ihr allein zu sein.« Alecs Lippen zitterten vor unterdrückter Freude. »Ich will damit nur sagen, dass du Leo geliebt hast und –«

»Das habe ich nicht!« Grant schoss die Hitze ins Gesicht und er wusste nicht, ob vor Wut oder Demütigung. »Als du allein aufgetaucht bist, hätte ich mir denken können, dass du etwas vorhast, aber ich konnte ja nicht ahnen, dass du mir eine Predigt über die Liebe halten würdest, oder was auch immer das sein soll. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich gar nicht erst durch die Tür gelassen.«

»Gut, dass ich bis nach dem Essen gewartet habe.«

»Rauswerfen kann ich dich immer noch.«

Alec hob sein Glas. »Ich habe viel zu viel Wein getrunken, als dass du mich jetzt guten Gewissens rausschmeißen könntest.«

Grant drehte sich um und ließ das Geschirrtuch auf den Tresen fallen. »Leo Garner ist für mich nicht das A und O unter den Männern, verstehst du? Es gibt viele schwule Männer in diesem Staat, Alec. Sogar in dieser Stadt.«

 

Alec johlte über diese lächerliche Übertreibung.

»Warum versuchst du, mir den kürzlich zurückgekehrten, emotional zerrütteten und wahrscheinlich sterbenden Leo Garner aufzuzwingen?«

»Zwingen ist ein starkes Wort, aber was das Warum angeht… Es ist, weil ich gesehen habe, was er mit dir gemacht hat«, sagte Alec zärtlich. »Ich habe gesehen, wie er dich beeinflusst hat. Er hat dich verändert, Grant. Er hat dich besser gemacht.«

»Nein! Er hat mich schlechter gemacht.« Leo hatte Grant dazu gebracht, etwas zu empfinden, und das hatte ihn auf eine nicht gekannte Art verletzlich gemacht. Es war die schlimmste Erfahrung seines Lebens gewesen. »Und wenn du so viel gesehen hast, dann hast du vielleicht auch gesehen, wie er sich für seinen Ex-Freund entschieden hat und mit ihm ans andere Ende des Landes gezogen ist. Ich werde nicht sechs Jahre später die zweite Wahl für jemanden sein, der nicht mehr als ein netter Fick war.«

»Nenn es, wie du willst.« Alec hob eine Augenbraue und nahm einen Schluck Wein. »Ich nenne es beim Namen.«

»Und der wäre?«

»Liebe. Wahre Liebe.«

Grant schnaubte. »Alec, du bist wahnsinnig. Wir sind hier nicht bei Der englische Patient. Ich schmachte nicht. Habe ich noch nie. Ich bin über ihn hinweg und Leo ist das mit Sicherheit auch.«

Alec lachte leise. »Du hast den Film noch nie gesehen, oder?«

»Ich dachte, es wäre ein Buch.«

»Ist es auch, aber egal, Grant. Du hast recht, das hier ist nicht Der englische Patient.«

»Ich bin froh, dass du ausnahmsweise mal logisch denkst und –«

»Denn diese Geschichte endete schmerzhaft. Diese hier wird mit einem Triumph der Liebe enden! Wart's nur ab!«

Grant nahm sein Handy und wählte den ihm leider nur zu bekannten Namen.

»Rufst du Leo an?«, fragte Alec eifrig, als ob Grant tatsächlich der leicht zu beeinflussende Narr wäre, für den er ihn hielt.

»Komm und hol deinen Mann«, sagte Grant, als Dennis abnahm. »Er ist betrunken.« Er legte auf, packte Alec am Arm, nahm ihm das Weinglas aus der Hand und zerrte ihn zur Tür.

»Das wagst du nicht!«, sagte Alec. »Es sind nur fünf Grad draußen und ich habe keinen Mantel mitgebracht!«

»Hier«, sagte Grant und drückte ihm seinen eigenen in die Hand. »Ich lege sogar noch eine Mütze drauf.« Er zog Alec eine grüne Strickmütze über sein perfekt frisiertes Haar und ließ ihn verdattert und zerzaust zurück.

»Grant«, sagte er und strampelte ein wenig, als Grant die Wohnungstür aufriss und ihn hinausschob. »Grant!«

»Ein paar Minuten an der frischen Nachtluft werden dir guttun. Das macht dich wieder nüchtern«, sagte Grant und knallte Alec die Tür vor der Nase zu.

»Glaub nicht, dass ich das vergesse, Grant!«, schrie Alec durch die Tür. »Glaub nicht, dass ich nicht weiß, was das bedeutet! Es bedeutet, dass ich recht habe! Es bedeutet, dass du erledigt bist! L-I-E-B-E! Liebe! Das kannst du mir glauben!«

Grant lehnte seine Stirn gegen die Tür und atmete scharf aus.

»Triumph!«, brüllte Alec. »Der Liebe!«

Grant schlug aus Protest seinen Kopf gegen die Tür und sank auf den Boden. Draußen sang Alec das Lied Kissing in a tree und andere kindliche Liebeshymnen.

Grant vergrub sein Gesicht zwischen seinen Knien und atmete langsam ein und aus, während die Minuten sich hinzogen. Er bemerkte, dass Dennis kam, weil Alec rief: »Liebling! Rate mal, wer ein totales Arschloch ist, wenn er verliebt ist?«

Eines stand fest: Grant brauchte einen besseren besten Freund.

Kapitel 4

Typisch für sein Glück – doch Grant glaubte nicht an Glück, in Anbetracht dessen, wie sein Leben seit seiner Geburt verlaufen war –, war Leo am nächsten Tag im Krankenhaus und ging mit einem Krankenpfleger durch die Gänge. Er sah müde und kränklich aus.

Grant starrte ihm hinterher, bis der Pfleger Leo durch eine Doppeltür in den Dialyseraum führte. Ein Drang, ihm zu folgen, stieg in ihm auf, aber er schob ihn beiseite. Leo Garner brauchte ihn nicht. Er hatte genug Freunde und Familie in Blountville. Außerdem war er wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, neue Freundschaften mit dem Pflegepersonal und den anderen Dialysepatienten zu schließen. Immerhin dauerte es drei bis vier lange Stunden an drei Tagen in der Woche, um sein Blut von Giftstoffen zu reinigen. Ein kranker Körper nahm viel Zeit in Anspruch. Und Leo war wahrscheinlich gerade dabei, »das Beste daraus zu machen«. Das sähe ihm ähnlich.

Grant schüttelte den Kopf.

Als sich die Türen hinter Leo und dem Pfleger schlossen, verschwand das seltsame Gefühl der Atemlosigkeit. Grant beschloss, dass es durchaus vernünftig war, es auf die Blähungen von dem Chili zu schieben, das er zum Mittagessen in der Cafeteria gegessen hatte. Es war wirklich köstlich gewesen, aber die Bohnen machten aus jedem ein wandelndes Gasleck. Stirnrunzelnd gab er Alec die Schuld dafür, dass er das Gefühl auch nur einen Moment lang für etwas anderes gehalten hatte.

Er wandte sich wieder seiner Patientenkartei zu und versuchte herauszufinden, was die Worte darin bedeuteten, aber stattdessen dachte er an diesen einen Typen von der medizinischen Fakultät, einen Dr. Wallace, ein absoluter Nierenspezialist. Er fragte sich, ob der Idiot Dr. Muresan, der die Nierenabteilung im Appalachian Medical leitete, bereit wäre, sich in Leos Fall mit Wallace zu beraten.

Grant hatte gerade eine Kehrtwende gemacht und war im Begriff, selbst mit Muresan zu sprechen oder noch einmal einen Blick auf Leos Krankenakte zu werfen, als Carrie Jones, die nach Grants Meinung beste Krankenschwester der Gegend, ihn fast umrannte. Sie hielt die Hand eines kleinen Mädchens mit zerzausten, langen braunen Haaren und haselnussbraunen Augen.

»Tut mir leid, Dr. Anderson«, sagte Carrie und schob eine verirrte Haarsträhne zurück in ihren Pferdeschwanz.

»Pass bloß auf, wo du hingehst«, sagte Grant gereizt und ließ seinen Frust an der falschen Person aus, wie er es viel zu oft tat.

»Nein, du passt auf«, sagte das Kind und hob trotzig das Kinn.

Grant starrte auf sie herab.

Carrie sagte: »Na, na, na. Das war nicht sehr höflich. Ich wette, das würde deinem Vater gar nicht gefallen.«

Das Mädchen schniefte hochmütig. »Ich meine ja nur, er hat uns angerempelt, also sollte er aufpassen.«

Grant sah sie stirnrunzelnd an.

Sie starrte Grant an.

»Du solltest dich nicht wie eine Göre aufführen«, sagte Grant. »Damit kommst du im Leben nicht weit.«

»Ich denke, du musst es ja wissen«, antwortete sie. Es war surreal, einen so gut getimten und bissigen Kommentar aus ihrem kleinen, süßen Gesicht zu hören. Normalerweise mochte Grant Kinder, aber dieses hier kam ihm seltsam altklug vor, auf eine Art und Weise, die ihm zu nahe ging und seine eigenen schmerzhaften Kindheitserinnerungen zurückbrachte.

»Lucky, sei nicht so unhöflich, Süße!«, schimpfte Carrie.

»Er war zuerst unhöflich.«

Der Name des Mädchens war Lucky? Welches Arschloch tat das einem unschuldigen Kind an? Grant hatte Mitleid mit ihr, aber sie starrte ihn nur an, ohne jegliches Bedauern.

»Du hast recht«, sagte Grant. »Ich war zuerst unhöflich. Und ich entschuldige mich dafür.«

Carrie sah schockiert aus.

Lucky hob ihr Kinn und sagte großmütig: »Entschuldigung angenommen.«

»Jetzt komm schon. Wir bringen dich runter in die Pädiatrie. Tut mir leid, Dr. Anderson«, sagte Carrie, während sie das kleine Mädchen den Flur hinunterzog.

Grant sah ihnen nach und fragte sich, wegen welcher Krankheit das Kind im Krankenhaus war. Für ihn sah sie gesund aus. Er fühlte sich schuldig, weil er sie eine Göre genannt hatte, besonders wenn sie krank war. Die Kinder in der Pädiatrie waren kleine Helden und hatten ein Recht darauf, ihre launischen, schlechten Tage zu haben. Er würde sie später aufsuchen, um sich noch einmal zu entschuldigen und ihr vielleicht einen Teddybären aus dem Geschenkeladen mitzubringen.

Er bog in den Gang mit dem besten Verkaufsautomaten ein. Dort gab es diese Marshmallow-Nuggets, die er so gern mochte. Sie würden ihn beruhigen, so wie Meditation für die Möchtegern-Hippies, von denen er zu viele im Fitnessstudio sah. Und dank Leo Garner, der ständig auftauchte, brauchte sein Verstand in letzter Zeit immer öfter Hilfe, um zur Ruhe zu kommen.

***

Grant war der Meinung, dass jede erfolgreiche Operation, die länger als acht Stunden dauerte, eine Belohnung verdiente – und zwar nicht nur weitere Marshmallow-Dinger aus dem Automaten, sondern ein anständiges Essen in einem schicken Restaurant und ein oder zwei gute Getränke.

Im Little Apron war es an diesem Dienstagabend ruhig, und Grant saß allein an einem Tisch in der Ecke, starrte ins Leere und ließ die entscheidenden Momente der Operation noch einmal Revue passieren: den Nervenkitzel, als er die genauen Positionen der Wucherungen hinter der Speiseröhre und der rechten Lunge des Patienten entdeckt hatte, die Art und Weise, wie sich die Schichten unter seinem Skalpell wie warme Butter zurückzogen, und die Momente des Triumphs, als er die Verwachsungen nach so vielen Stunden und all der Mühe sauber entfernt hatte. Es war ein guter Tag gewesen.

Grant wurde aus seiner Erinnerung gerissen, als sich jemand neben ihn an seinen Tisch setzte. »Äh, nein, ich will keine Gesellschaft«, stieß er verärgert hervor. Dann warf er einen Blick hinüber und biss die Zähne zusammen, um nicht vor Frust zu schreien.

Leo lächelte. »Ich auch nicht.«

Grant starrte ihn an. »Warum sitzt du dann hier?«

»Um zu vermeiden…«

In diesem Moment kam Leos Großmutter, Marie Garner, in den Raum, sah sich um und ging direkt auf Leo zu. Ihr Haare waren hochgesteckt und ihre gebräunten Wangen verzogen sich zu einem breiten Lächeln. Sie trug ihre Sheriff-Uniform, aber ihre Waffe steckte nicht in dem Holster an ihrer Seite. Vielleicht war sie nicht im Dienst. Die Tatsache, dass Blountville einen weiblichen Sheriff hatte, hatte Grant überrascht. Er hatte den Ort für so bibeltreu gehalten, dass er Frauen in der Küche und nicht an einem Tatort haben wollte – nicht, dass es in Blountville viele Verbrechen gäbe, aber anscheinend hatte die Stadt manchmal eine progressive Schattenseite.

»Hör zu, tu mir einen Gefallen und mach mit«, flüsterte Leo eindringlich.

Grant schnaubte. »Warum sollte ich…«

»Bitte«, flehte Leo. Seine grauen Augen wurden so groß und so hübsch, dass sich Hitze in Grants Unterleib ausbreitete.

Aber er hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon war Marie bei ihnen. »Zuckerschnute, ich dachte mir, dass du das bist. Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, als ich dich reinkommen sah. Isst du mit Dr. Anderson zu Abend?«

»Nein«, sagte Grant.

»Ja«, antwortete Leo.

»Ich verstehe«, sagte Marie und kniff die Augen zusammen. »Dr. Anderson ist ziemlich berüchtigt hier in der Stadt.«

»Weswegen?«, fragte Grant.

»Memaw«, warnte Leo.

»Für lockere Sitten und Unhöflichkeit. Ich weiß, dass du schon einmal mit meinem Enkel ausgegangen bist, aber ich würde dir dringend raten, das noch einmal zu überdenken.«

»Keine Angst, das habe ich nicht vor.«

Leo verdrehte die Augen, stand auf und gab seiner Großmutter einen Kuss auf die Wange, woraufhin sie ihn liebevoll umarmte. »Memaw, wie geht es dir?«

Grant erinnerte sich daran, dass er es, als er die Stelle am Appalachian Medical angenommen hatte, noch seltsam gefunden hatte, wie die Leute ihre Großeltern nannten, aber nach all den Jahren hatte er sich daran gewöhnt.

»Nun, mir geht es gut, Zuckerschnute. Die Frage ist: Wie geht es dir?« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit von Grant ab und konzentrierte sich auf ihren Enkel. »Deine Mutter sagte, dass es gestern einen Zwischenfall auf der Farm gab und seitdem bin ich krank vor Sorge.«

»Die Farm« war ein kleines Stück Land in den Bergen, das Leos Familie seit mehreren Generationen gehörte. Darauf befanden sich eine Scheune, ein kleines Haus und ein Teich, aber sonst nicht viel. Sie pflanzten nichts an und hielten auch keine Tiere. Grant war nur einmal dort gewesen, bevor die Sache mit Leo vor sechs Jahren zu Ende gegangen war.

Leo winkte ab und schüttelte den Kopf. »Ach, das war gar nichts, Memaw. Ich bin gesund und munter. Wie ein Pferd.«

 

»Stimmt, natürlich. Deshalb brauchst du dreimal pro Woche eine Dialyse und all diese lächerlichen Medikamente. Deine Mutter hat sie mir gezeigt. Flaschen über Flaschen.« Marie lehnte sich näher an ihn heran, ihr Gesicht war müde und angespannt. »Es hat mir wehgetan, sie alle zu sehen. Wann glaubst du, dass es dir besser gehen wird? Ist denn schon eine neue Niere für dich in Aussicht, oder wie? Und wie kann Memaw dir helfen? Soll ich ein paar Anrufe machen?«

»Nein!« Leo unterbrach sie. »Nein, Memaw. Ich danke dir. Meine Ärzte sind optimistisch und ich bin sicher, dass alles gut wird.«

Grant hob eine Augenbraue. Das war eine Lüge, und er wusste es.

»Und misch dich bitte nicht ein. Mom versucht immer noch, mit Hannah in Kontakt zu treten. Du weißt, wie empfindlich Jenn sein kann. Ich will nicht, dass irgendjemand oder irgendetwas sie vertreibt, bevor wir die Chance haben, miteinander zu reden.«

»Was ist mit deiner Cousine Felice? Oder dem kleinen Blaine? Wurden sie getestet?«

»Blaine ist noch ein Kind, Memaw. Und Felice haben wir getestet, aber sie ist noch zu jung.«

»Aber sie würde passen?«, fragte Marie nachdenklich. Nein, durchtrieben. Grant konnte sich bestens vorstellen, wie sie ihre Fähigkeiten zum Lösen von Verbrechen einsetzte.

»Ja, Felice passt, aber rechtlich gesehen ist sie zu jung, Memaw. Sie hat mir aber gesagt, wenn ich noch eine Niere brauche, wenn sie 18 ist, dann gehört ihre zusätzliche mir.«

»Süßes Kind, die Kleine!« Marie lächelte, aber das konnte ihre Sorge nicht vertreiben. »Sie hat ihre Prioritäten richtig gesetzt. Nicht so wie deine Schwester.« Marie verdrehte die Augen. »Es ist, als hätte Hannah keine Spur von Meryls und Chucks Standhaftigkeit in ihren Genen. Sie ist unberechenbar, verantwortungslos und unkontrollierbar. Verdammt, sie ist ein hartes Stück Arbeit.«

»Sie wird für mich da sein, Memaw«, sagte Leo. »Wenn sie überhaupt dazu in der Lage ist.«

»Oh, ich wette, sie ist eine geeignete Spenderin«, sagte Marie wissend. »Irgendjemand in unserer riesigen Familie muss es ja sein.« Maries Augen verengten sich, und sie schnippte schnell mit den Fingern, bevor sie ihr Handy aus der Tasche zog. »Weißt du, ich habe mich gerade daran erinnert. Ich habe draußen im Streifenwagen etwas für dich.« Sie warf Grant einen wissenden Blick zu. »Und wenn Dr. Anderson sich an deiner Tugend vergreift, während ich weg bin, Zuckerschnute, mach dir keine Sorgen. Ich kann es mit ihm aufnehmen.«

Grant verzog seine Lippen zu einem sarkastischen Lächeln, als Marie wegging. »Was hat sie gegen mich?«

Leo setzte sich wieder an den Tisch. »Sie ist im Moment einfach überfürsorglich. Und sie erinnert sich an einige deiner unhöflichen Bemerkungen bei dem Familienessen, zu dem du damals eingeladen warst.«

»Der Kuchen war matschig. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Oh, Grant, du bist so ein hübsches Arschloch«, sagte Leo leise.

»Ehrlich und Arschloch sind nicht das Gleiche.«

»Stimmt. Und ich gebe zu, dass ich das immer an dir gemocht habe.«

»Wie auch immer. Deine Memaw anscheinend nicht.«

»Ehrlich gesagt, gefällt ihr der Gedanke nicht, dass ich mit jemandem zusammen bin. Sie liebt mich und akzeptiert mich, aber ich denke insgeheim, dass sie glaubt, dass meine gesundheitlichen Probleme eine Strafe Gottes für meine Sexualität sind.«

Grant starrte ihn mit großen Augen an. »Du denkst das und liebst sie trotzdem?«

»Menschen sind nicht perfekt, Grant. Und sie würde so ziemlich alles für mich tun. Außerdem hat sie nie etwas Derartiges gesagt. Ich habe es nur vermutet.«

»Wow.«

»Wie auch immer, danke«, sagte Leo und sah Grant unter seinen Wimpern hervor an.

»Für was? Dass ich hier gesessen habe? Kein Problem. Ich hatte heute Abend sowieso nichts Besseres zu tun. Aber jetzt würde ich gern zu Ende essen. Allein. Damit ich nach Hause komme und mir das Glücksrad ansehen kann.«

Leo legte seine Hand für einen Moment auf Grants. Dort, wo sie Grants Haut berührte, hinterließ sie ein kribbelndes Gefühl und er blickte verwirrt auf sie hinab. Einen Augenblick später zog Leo sie weg. Grant war enttäuscht.

»Danke für… nun, sagen wir es mal so. Wenn ich allein wäre, hätte sie mich wie einen Verdächtigen ausgefragt. Sie hätte mir Fragen über alles gestellt und ich wollte die persönlichen nicht beantworten. Jedenfalls nicht heute Abend.«

»Nun, es sieht so aus, als ob du die Gefahr noch nicht überwunden hättest, denn da kommt sie wieder, und ich bin raus.« Grant warf seine Serviette auf den Tisch und stand auf.

»Grant, bleib. Bitte. Nur ein paar Minuten. Dann ist sie weg, und wir können – Memaw, da bist du ja wieder.«

Grant setzte sich wieder hin, denn die Neugier auf den großen gelben Umschlag in Maries Hand siegte über seinen Wunsch, eine große Show abzuziehen und zu zeigen, wie egal ihm Leo Garner war.

»Fast hätte ich es vergessen, Zuckerschnute, aber dein Anwalt – obwohl ich es angesichts von Dougs Lebenslauf kaum glauben kann – hat heute Nachmittag einige Unterlagen für dich in meinem Büro abgegeben. Er sagte, du wüsstest davon. Er sagte, du würdest sie heute noch abholen.«

Leo schluckte schwer und nahm den gelben Umschlag aus Maries Hand. »Danke, Memaw. Darauf habe ich schon gewartet. Ich wollte eigentlich schon früher vorbeikommen, aber die Zeit ist mir davongelaufen.«

»Das dachte ich mir. Ich wollte sie heute Abend vorbeibringen. Sind sie das, wofür ich sie halte?«, fragte sie.

»Ja.«

»Nun, er hat sich ganz schön Zeit gelassen, um sie dir zurückzuschicken. Wie lange braucht man für eine Unterschrift? Ich denke, er hat deutlich gemacht, wie wenig er dich wirklich liebt…«

»Danke noch mal, Memaw«, sagte Leo, stand auf, küsste sie auf die Wange und drehte sie dann zur Tür. »Tut mir leid, dass ich unhöflich bin, aber ich schwelge gerade mit Grant in alten Erinnerungen. Also, du weißt schon…«

Marie guckte skeptisch, aber sie küsste Leo noch einmal auf die Wange und richtete dann ihre Uniform. »Bring deine Tochter morgen zu mir, dann ist alles vergeben. Ich lasse dich mit Dr. Anderson allein.« Sie beugte sich zu Leos Ohr und flüsterte: »Bist du sicher, dass du nicht gerettet werden musst, Zuckerschnute? Jeder in der Stadt weiß, dass der Mann ein Casanova ist, der nur eines will.«

»Ich kann dich hören«, sagte Grant.

»Natürlich kannst du das«, sagte Marie. »Das war eine Warnung. Mein Enkel ist gesundheitlich angeschlagen, und ich bin hier das Gesetz, also mach daraus, was du willst.«

»Memaw«, sagte Leo, rollte mit den Augen und wurde rot. »Halt dich zurück, okay? Er ist keine Bedrohung für mich.«

»Wie du meinst, Zuckerschnute«, sagte Marie und wandte sich dann wieder Grant zu. »Es wäre in deinem besten Interesse, Dr. Anderson, ihn nicht zu verärgern oder in irgendeiner Weise zu belasten, verstehst du? Sonst könnte deine kleine Verführung damit enden, dass er wie ein Fisch auf dem Boden herumzappelt.«

»Memaw«, warnte Leo erneut.

Grant starrte sie mit offenem Mund an und wusste nicht, was er von diesen Anschuldigungen halten sollte. Er wollte sich verteidigen und darauf hinweisen, dass Leo erstens sein Dinner ruiniert hatte und zweitens gerade ihn ärgerte, aber er konnte seine Zunge nicht dazu bringen mitzumachen.

»Sein Herz, verstehst du das?« Sie warf ihm einen Blick aus ihren grauen Augen zu. »Er ist dem nicht gewachsen.«

»Memaw«, sagte Leo, stand auf und nahm sie am Ellbogen. »Das ist völlig unangebracht und geht dich nichts an. Danke, dass du die Papiere gebracht hast. Wir sehen uns später.«

Marie warf Grant noch einen warnenden Blick zu, tippte sich an die Hüfte, wo normalerweise ihre Waffe ruhte, und ging dann endlich. Leo sah ihr nach, während er mit seinen Händen übertriebene Scheuchbewegungen machte.

»Gott, ist das anstrengend«, sagte Leo und setzte sich wieder hin, die Ellbogen auf den Tisch gestützt und das Kinn in einer Hand. »Alle sind so überfürsorglich und neugierig. Ich habe vergessen, wie es ist, hier zu leben, wo sich jeder in deine Angelegenheiten einmischt. In Los Angeles war das besser. Ich glaube, meine Nachbarn dort kannten nicht einmal meinen Namen.«