Psychotische Reaktionen und heiße Luft

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Der Fall Mick Jagger ist von ähnlich dringender »Pie-orität«. Zum einen ist er ein Fake-Revolutionär mit dicker Geldbörse, zum anderen tut er im allgemeinen viel smarter und hipper als er tatsächlich ist, so als wäre ausgerechnet er ein Geschmacksrichter in Sachen Mode und Kultur. Wäre Jesus in Altamont gewesen, man hätte ihn gekreuzigt, aber wenn ein Mick Jagger mich nur noch ein weiteres Mal 45 Minuten warten lässt, während er sich in der Garderobe zumacht und aufbrezelt und dann auch noch dem niedrigsten Knecht von Instrumententräger die Schuld für die Verspätung gibt, stehen das Korps und ich mit blitzenden Tortenblechen auf den Armen schon bereit, uns den Weg Richtung Bühne zu bahnen. Und er ist noch nicht einmal einer der schlimmsten Übeltäter. Tatsächlich ist er einer der am wenigsten abstoßenden Performer, die es zur Zeit gibt. Die Show, die er mitsamt seiner scheelen Blicke und Rumziererei abliefert, ist schon immer ziemlich heftig, völlig albern und absurd, überirdisch arrogant und dennoch lediglich auf die bestmögliche Art prätentiös gewesen: ein spastischer Tornado mit Lippen wie ein Pfannkuchen, der an Millionen dampfender Mösen vorbei zum homogenen Block einer erogenen Masse wirbelt. Schwachsinn und Spektakel zugleich. Nein, mein Herr, einen Mick Jagger werden Sie kaum dabei erwischen, wie er sich in tiefschürfende künstlerische Selbstzweifel verstrickt. Er ist also wirklich fast so gut wie die Stooges und hat sie in der Tat bereits vorweggenommen. Doch möchte ich lieber nicht an den Wutausbruch denken, den er bekäme, wenn irgendein Spinner von nebenan versuchen würde, die Bühne zu entern, um dort herumzuzappeln wie Jagger. In dieser Hinsicht ist seine Show ein Anachronismus, obwohl sie nicht halb so fossil ist wie die meisten anderen Rockstars, die noch in Crème und Kruste ersaufen werden, bevor wir hier fertig sind. Es ist schlicht Tatsache, dass 99% aller Popstars kein echtes Charisma, den Stil oder die Statur haben, ihre Bastille, die Bühne nämlich, zu verteidigen, ohne die künstliche Unterstützung, die sie traditionellerweise zu diesem Zweck genießen. Die meisten der aktuellen »Phänomene«, »Helden« und »Künstler« würden nämlich kneifen wie irgendein verblüffter Versager, sobald eine Torte in ihrem Mäulchen landete oder man sie mit einem ein aus geistig klaren Leuten zusammengesetzten Publikum konfrontierte, das in aller Ruhe (roher militanter bullshit ist nämlich out) verlangte: »Was verficktnochmal glaubst du, was du da machst? Was soll denn die Scheiße?« Von ihrem Temperament her sind sie einfach unfähig (kraft des verblödenden Einflusses, den das Leben einer verzogenen Göre, das sie führen, auf sie hat, selbst wenn sie ursprünglich sogar mal sowas wie Chuzpe besaßen – der Unterdrücker ist fett und schwach, Brüder!), mit ihrer plötzlich schlau gewordenen Kundschaft von Gimpeln auf gleicher Augenhöhe umzugehen. Sie haben einfach nicht genügend Persönlichkeit, Hirn oder Mut dazu. Der durchschnittliche Popstar ist nämlich weder besonders helle noch hat er irgendeine Ahnung davon, was abseits seines eigenen glitzernden Nährbodens so abgeht. Man hat ihn in eine Phantasiewelt gepflanzt, in der Ego und hervorstechende Eitelkeit zuviel Futter kriegen, und jede Substanz von einer permanenten Kokaindiät zerstört wird.

Die Stooges sind jedoch eine Band, die die Kraft hat, es mit jedem Publikum unter dessen Maßstäben aufzunehmen. Unabhängig davon, was für einen teuflischen bullshit es sich auch ausdenkt (obwohl – meistens sind sie alle sowieso von Igs übersinnlich kampflustiger Anmaßung so sehr eingeschüchtert, dass sie nicht viel mehr machen, als ihn anzustarren, sich leicht zu ducken und nachher auf dem Nachhauseweg zu kichern).

Iggy gleicht einem Matador, der die gewaltige dunkle Hydra, die vor ihm sitzt, anlockt. Er begibt sich regelmäßig ins Publikum, um zu sehen, was los ist. Und auch von der Bühne aus lässt er die Augen suchend durch den Raum schweifen und pickt sich einen erstaunten einzelnen Fremden heraus, der seinem Blick nur selten standhalten kann. Es ist eure Bühne genauso wie seine. Wenn ihr ihm einen Platz streitig machen wollt, nur zu. Der König der Berge muss allerdings auf die Gangart achten und eine Autorität aufrecht erhalten. Und nur wenige sind dazu in der Lage. In diesem Sinne ist Ig ein echter Star von der seltensten Art. Er hat sich diese Bühne erobert und nichts als die Kraft seiner Präsenz gibt ihm ein Anrecht darauf.

Ihm gegenüber steht ein selbstgefälliges Hippie-Publikum angeblich so locker, so befreit, wacker und abenteuerlustig. Der ganze anarchische Terror der Schlaflosigkeit des Mittleren Westens. Es gibt die Leute, die sagen: »Der Tag wird kommen, an dem irgendjemand dem Penner ein’s auf’s Maul haut.« Und wie oft habt ihr schon Leute über eine Band sagen hören: »Was für’n Mist. Sogar ich könnte da rauf und den Scheiß machen.«

Nur zu, hier ist eure große Chance. Ein Auftritt der Stooges ist offen für alles. Gebt euer Schlimmstes, Leute, belehrt Iggy and the Stooges eines besseren. Holt euch eure Kicks. Es ist eure Nacht.

Nichts passiert. Sie sitzen regungslos mit großen Augen staunend da oder verstecken sich träge in einem Schildkrötenpanzer der Coolness. Zu ängstlich oder unfähig, irgendwie zu reagieren, meist sogar zu eingeschüchtert, um ein enttäuschtes Buh zur Bühne zu rufen.

Das ist der Grund, warum die meisten Bands heutzutage solche Schlafmittel sind, und warum die Stooges und jede andere Band, die ihr Publikum herausfordert, die Antwort darauf sind. Die Macht wird dem Volke nicht gegeben, sie geht von ihm aus. Und wenn das Volk in einem passiver Nichts verharrt, dann muss halt ein bisschen Elektroschocktherapie und persönlicher Exorzismus es wachrütteln, bis es wieder zu einer gesunden hitzigen Interaktion in der Lage ist.

Alice Cooper experimentieren in einer ähnlichen Richtung. Doch ihre Nummern sind ein genauso alter Hut wie die aller anderen auch. Mit toten Hühnern zu werfen und auf Stelzen in allen möglichen Formen und Größen zu laufen, die Nervensysteme des vorgeblich uptighten Teil des Publikums mit dem Gebrauch zersplitterter Fluten kreischenden Feedbacks zu attackieren und dessen Libido mit einem heftigen Blitz flottierender sexueller Identitäten und »Perversionen« zu vergewaltigen – das ist nichts weiter als das gute alte épater la bourgeoisie-Riff. Und bei allem Gerede über Artaud und von gewissen instabilen Seelen mit geifernden Anwandlungen in Aufruhr versetzte Zuschauer, ist es doch deutlich, dass A.C. nur eine Show in der altehrwürdige Manier der DC-Comics abliefert. Und da auch immer weniger Leute dazu bereit sind, bei der Verrenkung sexuellen Sensibilitäten mitzuspielen, schließlich gibt niemand mehr auf irgendwas noch einen Scheiß, muss eine vorgeblich futuristische Band wie diese sich wohl wieder mehr auf ihre Musik verlassen, was wirklich schade ist, denn jenseits der Show passiert da nicht all zu viel, wie ihre Platten beweisen. Alice Cooper schlittern also herum und machen Methedrin-Purzelbäume in drag, und Jim Morrison zeigt seinen Fans endlich seinen Schwanz. Na wenn schon. Es wird noch so weit kommen, dass Mick Jagger klingelnde Mandalas lärmend über die Bühne rollt und drei Groupies auf einmal seine sämtlichen Körperöffnungen bedienen, während die Rolling Stones einen Strom Chuck-Berry-Riffs spielen, der »scheinbar« gar nichts damit zu tun hat (obwohl jenes Kontingent des zahlenden Publikums, das darauf aus ist, nach tieferen Bedeutungen zu schürfen, sich weiterhin verzweifelte Hinweise zuflüstern wird, worauf das alles wieder anspielt – und die Stones lassen es noch jahrzehntelang bluten bis nach Sun City). Mick kommt, die Groupies stöhnen wohlig, feuchte Funken fliegen überall herum wie Konfetti und niemand im kreuzlahmen Publikum zuckt auch nur mit der Wimper. Merkt euch meine Worte.

Gimmicks haben ihre Zeit also bereits hinter sich. Und wohin führt uns das? Wohin sonst als zu Ig and the Stooges, auf die zurückzukommen ich nunmehr das große Vergnügen habe. Denn neben den rührseligen Posen und Nickelodeon-Emotionen von dreiviertel der Jungs, die zur Zeit auf die Öffentlichkeit losgelassen werden, kann die bodenständige Brillanz, Kraft und Klarheit der Stooges-Musik, obwohl ihre grundlegenden Bestandteile auch dem bereits vorhandenen musikalischen Material ähneln mag, das in Besitz der Öffentlichkeit jeder verwichsten Gruppe von San Diego bis Stockholm wie Bausteine zum Experimentieren zur Verfügung stand, im dunklen karnivoren Glanz ihres Genies aufleuchten.

Das erste, was an der Musik der Stooges auffällt: dass sie mit Absicht so simpel und monoton ist. Und innerhalb der engen Grenzen des Fuzz- und Feedback-Territoriums ist ihre Musik vielleicht nicht als übermäßig sophisticated (Gott bewahre) zu bezeichnen, mit Sicherheit aber ist sie avanciert. Die erstaunlich simple Zwei-Akkord-Gitarrenlauf, der in »1969« von ihrem ersten Album durchgehend wiederholt wird, beispielsweise, ist für sich genommen nichts, aber im Kontext des Songs bekommt er eine gedämpfte, aber unwiderstehliche Kraft, ein verhängnisvolles und, um in Ed Wards Worten zu sprechen, die scharfsinniger (und ein größerer Ritterschlag) sind, als er es selbst je für möglich hielt, »geistloses« rhythmisches Pulsieren, das sich bis in die Unendlichkeit wiederholt und einen wirkungsvollen Kontrapunkt zur grimmigen Anklage in Iggys Text bildet. (Nebenbei bemerkt, Iggy schreibt die besten Wegwerfzeilen im Rock, d.h. einige der besten Zeilen im Rock überhaupt; eine Musik, die im wesentlichen kurz über die Schulter geworfen wird und neben der Kappe sein soll. »Now I’m gonna be twenty-two / I say my-my and a boo-hoo...« Ein Klassiker. Er hätte keine besseren Reim schreiben können, selbst wenn er sich bis 1970 vorgearbeitet und das I Ging befragt hätte. Gott sei Dank gibt es noch jemanden, der Rock’n’ Roll spielt, und einen Sinn dafür hat, den unserer Zoot-Jive-Vorväter noch verstanden, aber kaum eine der aufgeblasenen heutigen Bands, wie man eine Zeile hinwirft und liegen lässt.)

 

Ein Song für euch, vollgepackt mit Ideen, simpel und »blöd«, wie er zu sein scheint und vielleicht auch ist. Unter Umständen könnte ein trainierter Affe lernen, den Zwei-Akkord-Lauf zu spielen, aber kein Affe und auch nur sehr wenige seiner Cousins, die auf der Evolutionsleiter ein paar wenige Stufen höher gekrabbelt sind, die weißen »Heavy-Bands« nämlich, könnten ihn so lebendig machen und ihm eine so grundlegende Einfachheit, das es fast schon urtümlich und unverdorben wirkt. Scheinbar die einfachste Sache der Welt. Ich würde es einen Geniestreich nennen ähnlich wie der endlose Ein-Tasten-Orgel-Drone, den Question Mark and the Mysterians im Refrain von »96 Tears« benutzten, einem der besten Rock’n’ Roll-Songs aller Zeiten. Womit wir beim wirklichen Beginn meiner Geschichte angekommen wären, denn die ungewöhnlichen Machinationen in der Rock’n’Roll-Geschichte seit ungefähr 1965, die die Stooges so absolut zwingend gemacht haben, erforderten eine in der Tat komplizierte Chronologie.

Teil II: Kurze Historische Lektion

Früher hasste ich Gruppen wie Question Mark and the Myterians. Sie schienen alles zu repräsentieren, was am Rock’n’Roll einfältig war und in eine Sackgasse führte, und das zu einer Zeit, als Gruppen wie The Who und The Yardbirds fast monatlich ein neues Kapitel musikalischer Prophezeiungen schrieben. Wir haben sicherlich vorher keine Musik gekannt, die von Beginn an ihrer Zeit so weit voraus war wie die von »I’m a Man«, »Anyway Anyhow Anywhere«, »My Generation« und »Shapes of Things«. Die Yardbirds vergötterte ich ganz besonders. Inzwischen habe ich mich allerdings mit der Tatsache abfinden müssen, dass die Yardbirds irgendwann in einem eklektischen Morast konfuser Experimente und schlechter Entscheidungen untergehen mussten. Es war schwer zu begreifen, dass ihre einzig möglichen Nachfolger so schwerfällige Faulpelze wie Led Zeppelin sein konnten. Denn die Yardbids waren einfach zu gute Musiker, zu vollendet und selbstbewusst. Sie konnten einfach nicht anders, als die Nachwirkungen eines Experiments zu verkacken, das sowieso keiner von ihnen so richtig kapiert zu haben schien. Mit den Who verhielt es sich ähnlich. Zunächst taten sie sich mit einer Musik hervor, die von einem Pioniergeist geprägt war, wie er zuvor noch nie auf Vinyl gepresst wurde, dann wurden sie plötzlich »gut« und künstlerisch, komponierten subtile exzentrische Lieder voll netter Philosophie, erweiterten ständig ihr Repertoire und entfernten sich mit all diesen Errungenschaften mehr und mehr von dem großartigen Experiment, mit dem sie begonnen hatten.

All diese wunderbaren Ideen und Rohmaterialien lagen also herum und warteten auf den nächstbesten, der sie aufnehmen und weiterentwickeln würde, um so zu weitläufigen barocken Strukturen zu gelangen, die den ursprünglichen Drive des Rock’n’Roll zwar beibehalten würden, zugleich aber die immer größer werdenden Zwangsjacken von Tonart und Zeitvorgabe abwerfen könnten, wie die Besten der Jazzmusiker es eine Dekade zuvor bereits vorgemacht hatten. Zu jener Zeit befand sich der Jazz schon auf der zweiten Stufe seiner experimentellen Entwicklung. In einer wunderschönen Nacht, die sich kopfüber ins Abenteuer stürzte, und nicht in den ausgetrampelten Pfaden des schalen Arbeitsalltags, der mittlerweile angebrochen ist. Derselbe Albert Ayler, der inzwischen quasi-kosmische Konzeptalben herausbringt, die mit plumpen Rockimitationen und nachlässigem Spiel vollgestopft sind, explodierte damals mit Stücken wie dem OZARK-getönten »Ghosts« vom Album Spiritual Unity. Und Archie Shepp war auch noch nicht von »Fire Music« zum immer ansteckender werdenden Jim-Crow-Nihilismus übergegangen. Jazz war weit vorn und räumte den Weg frei für eine Ära neuer, wirklich freier Musik, in der die einzigen Einschränkungen die des Bewusstseins und der Vorstellungskraft der Musiker waren. Eine Musik, die alle Begrenzungen hinter sich ließ und trotzdem vollkommen Sinn ergab und swingte, wie keine Musik vor ihr je geswingt hatte.

Der Rock hatte offensichtlich eine Menge aufzuholen. Wir alle sahen die Möglichkeiten, die sich ergeben konnten, wenn man die Verzerrungen des Feedback- und Fuzzsounds der Yardbird/Who kontrolliert für eine neue Freie Musik verwenden würde, die die weitverzweigten Abenteuer des Neuen Jazz mit dem regelmäßigen, unwiderstehlichen Herzschlag des Rock’n’Roll kombinierte. Das Seltsame dabei war nur, das niemand mit derartigen Ideen Gitarre oder irgend ein anderes der notwendigen Instrumente spielte, während die gerade aufkommenden Gitarristen, die von Lonnie Mack, Dick Dale und Duane Eddy entwöhnt worden waren und nunmehr bereit schienen, noch unbekannte Wege einzuschlagen, sich stattdessen den verdrießlichen Auswüchsen geliehener und zugänglicherer Formen zuwandten, die mit der Sixties-Renaissance einhergingen. Gott, warum soll man mit kreischendem Lärm rummachen, wenn es doch die allerneuesten Ideen von Mike Bloomfield, George Harrison und den ganzen Folk-Rock gibt, bei dem man sich unterstellen kann.

Zu jenem Zeitpunkt begann es so auszusehen, als würde die entschiedene Mehrheit der aufsteigenden Bands aus Ex-Folkies bestehen, was im Gegensatz zu der vorhergehenden Welle stand, die im Rock und R&B der Fünfziger verwurzelt war und mit dem Studentenmob der Kaffeehaus-Banjozupfer keine gemeinsamen Wege ging. Diese wiederum schauten – vom Verbindungspullover tragenden Kingston Trio bis zu den hippen Joan Baez / Lightnin’-Hopkins-»Puristen« – so gut wie einstimmig von oben auf den hässlichen jugendlichen Lärm, Rock’n’ Roll genannt, herab. Dem glaubten sie entwachsen zu sein, um sich ästhetisch dankbareren Gefilden des Geschmacks zuzuwenden (anders gesagt, sie waren ein verfickter Haufen steriler Snobs).

Nun, ich habe nie aufgehört, Lärm zu mögen. Von Little Richard über Cecil Taylor und John Cage bis zu den Stooges. Also mochte ich auch Rock’n’Roll schon immer und griff gierig nach der Yardbirds/Who-Entwicklung und erwartete große Dinge. Währenddessen entwuchsen die Folkies der fröhlichen Kameraderie der John F. Kennedy-Ära mit ihren »This land is our land«-Gesängen, fanden Geschmack an Grass und wachsender Entfremdung und entschieden für sich, dass der Rock’n’ Roll-Kram wohl doch nicht ganz so übel war. Es (nicht sie) wurde besser (Ich bin mir sicher, ich übertreibe ein bisschen, aber nicht sehr, fürchte ich, jedenfalls nicht allzu sehr). Sie schnappten sich also alle elektrischen Gitarren und begannen die Musikstile, die sie in ihren hervorragend gebildeten Kohlköpfen abgespeichert hatten, zu vermischen, und schon war der Art Rock geboren.

Einige Gruppen aus diesem Einzugsgebiet gehörten zu den besten, die der Rock hervorgebrachte hat – die Byrds, die frühen Airplane etc. Der allgemeine Effekt aber war, denke ich, dass das von den britischen Gruppen der zweiten Generation begonnene Experiment um mindestens zwei Jahre zurückgeworfen wurde. Man hörte sich weiter Platten daraufhin an, ob sich nicht doch noch etwas wirklich Kreatives und Freies aus all den Synthesen herausbilden würde, doch das meiste schien nicht mehr als kompetent und vorhersehbar zu sein. Raga-Rock und vergleichbare Phasen mit nur marginalem Potential kamen und gingen. Die Byrds machten einige Sachen, die far-out waren wie »Eight Miles High«, ließen dem aber nur selten entsprechendes nachfolgen, während die Stones weiterhin gut darin waren, den Trends hinterher zu laufen, altgewordene Aushilfskräfte, die sie mittlerweile geworden waren. Die Airplane deuteten mit After Bathing at Baxter’s erste Spuren einer wirklich radikalen (im musikalischen Sinn) Entwicklung an, doch das avancierteste Statement zu dem sie fähig schienen, war der Sandy-Bull-artige Gitarren-Raga in »Spare Chaynge«. Offenbar lief etwas falsch. Der Rock sog Einflüsse auf wie ein großer Schwamm und mäanderte weiter, aber keiner aus dem Pantheon der Zeit wagte sich bis zum Äußersten des Drahtseilaktes echten Lärms hinaus. 1967 brachte Sgt. Pepper und Psychedelia. Ersteres schien, nachdem unsere anfängliche Acid-Begeisterung vorbei war, den Beginn einer Ära des Rock als Filmsoundtrack anzudrohen. Letzteres deutete auf die Möglichkeit eines wirklichen (wenn auch höchstwahrscheinlich unbewussten) Durchbruchs bezüglich Fuzztone und umhertastender Space Jams hin. Sogar einige kleinere lokale Bands begannen mit Feedback zu experimentieren, doch weder sie noch die Namen, die folgten, wussten etwas damit anzufangen.

Währenddessen begann es sich an Ost- und Westküste zu rühren. Ken Kesey versuchte sich an Acid-Tests mit den Grateful Dead in Friso, und Andy Warhol verließ New York, um mit Velvet Underground und der Exploding Plastic Inevitable Show (ein gewalttätiges, sadomasochistisches Sperrfeuer auf Sinne und Sinnlichkeiten, von dem Alice Cooper die vergleichsweise harmlose Comic-Version ist) auf landesweite Tournee zu gehen. Beide Gruppen erhoben den Anspruch, die Möglichkeiten von Feedback und Verzerrung zu nutzen und Vorreiter des psychedelischen Multimediatrends zu sein. Wer zwischen Kesey und Warhol wen kopierte, ist nicht von Bedeutung, doch scheint es wahrscheinlich, dass die Velvets die Dead von Beginn an in den Schatten stellten, was eine neue experimentelle Musik betraf. Die Velvets waren, bei aller scheinbaren Unfertigkeit ihrer Musik, von Beginn an sehr an den Möglichkeiten des Lärms interessiert, und John Cales Konservatoriumsausbildung half ihnen dabei, ihren Experimenten eine Form zu geben, während die Dead nichts weiter zu sein schienen als eine Gruppe von Ex-Folkies, die ein bisschen mit Verzerrungen herumspielt (wie ihre Platten schließlich auch zeigten).

Als die Velvets »Sister Ray« aufnahmen, schienen sie das Yardbirds/Who-Projekt zu einem Endpunkt geführt zu haben und wandten sich für ihr drittes Album einem »konventionelleren« lyrischen Material zu. Zudem hatten ihre ersten beiden, zu weiten Teilen experimentellen Alben ihnen nicht viel mehr als Spott (wenn nicht sogar offene Missachtung) seitens der Kritiker wie der Hörerschaft eingebracht. Ihre Musik, die beim ersten Hören möglicherweise primitiv, unmusikalisch und chaotisch zu sein scheint, war in ihren besten Momenten von einer großen, klar umrissenen Subtilität. Äußerste Stimmhaftigkeiten trafen auf einen steifen, simplen Beat, der in einigen Fällen (»Heroin«) sogar desorientiert wirkte. Viele der grundlegenden Gitarrenläufe waren extrem einfach, wenn man sie mit den ausgeklügelteren (aber auch ausdefinierteren und somit in Form und Absicht weit davon entfernt, sich frei zu machen) Stücken von Gruppen wie den Byrds oder den Airplane vergleicht. Ich begann, langsam etwas zu verstehen.

Der Avantgarde-Jazz der Sechziger ist zum großen Teil eine sehr komplexe Musik. Der einfachste, klassische Rock wiederum ist fast idiotisch simpel. Monotone Melodien über zwei oder drei Akkorde und mit einem 4/4-Beat. Es wurde plötzlich ersichtlich, dass es keinen Grund gab, warum man nicht eine wirklich freie Musik auch zu einem einfachen Backbeat spielen und damit das beste aus beiden Welten gewinnen könnte. Viele Jazzdrummer wie Milford Graves und Sunny Murray erweiterten den Beat zu einem fast arhythmischen Wirbel oder gingen gleich von etwas anderem aus. Wenn man das tun konnte, warum dann nicht auch einen Weg finden, einige der Ideen des neuen Jazz in das Question Mark and the Mysterians-Format zu pressen?

Zudem begann es deutlich zu werden, dass die entstehende Generation der Ex-Folkie-Rock-Stars wie die britischen Beat- und R&B-Gruppen, die ihr 1964 vorausgingen, keinerlei Anstalten machte, ihre reichen, vergötterten Ärsche hochzukriegen, um sich auch nur ansatzweise an irgendeiner Art freier Musik zu versuchen. Sie wussten einfach viel zuviel über die etablierten musikalischen Formen, die die letzten drei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts besser hätten aussterben lassen, und waren zudem auch zu blasiert, irgend etwas Neues zu versuchen. Die einzige Hoffnung auf eine Renaissance eines freien Rock, für wirklich abenteuerliche Experimente kleiner Gitarrengruppen, die dem Original treu blieben und uns von dem wenig durchdachten dilettantischen Brei befreien würden, der sich so weit vom Mutterboden des Jive entfernt hatte, waren all die völlig unwissenden Teenager, die in Kleinstädten auf dem Lande gerade lernten, Gitarre zu spielen, und Bands gründeten, um »96 Tears« und »Wooly Bully« auf Schulpartys zu spielen. Auch sie entwickelten sich im Zuge der elektrischen Trips, waren aber noch relativ unverbraucht und frei (zumindest hatten sie keinerlei Snobismus an sich, einer intellektuellen Elite anzugehören, die sich mit den Geheimnissen obskurer Folk Songs beschäftigte). Wenn auch nur einige von ihnen auf der Flucht vor dem Sgt. Pepper/Folk-Virus nichts weiter aufgriffen als Rock’n’Roll-Roots und Lärm und die Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man sich im Zeitalter der Verzerrerknöpfe am Verstärker als Anfänger unverdorben dem Gitarrenspielen nähert und vielleicht ein wenig dem Free Jazz zuhört (der allerdings selbst sehr schnell zu seiner eigenen Art Anachronismus verkam), dann und nur dann, mit all diesen Wenns und Abers, gäbe es ein wenig Hoffnung für uns.

 

Vielleicht waren die Götter zu jener Zeit doch mit uns, denn genau das passierte. In kleinem Rahmen natürlich. Die Mehrzahl der Leute, die Rock hörte und spielte, steckte weiterhin im Morast des Blues, fehlgeschlagener »klassischer« Hybridformen, des neuen Tritt-Arsch-Rock und aller möglichen Arten »künstlerischer« Rumwichserei. Trotzdem entstanden ein paar neue Bands. Captain Beefheart schaffte den Durchbruch mit seinem monolithischen »Trout Mask Replica«-Album. Er schrieb Geschichte, indem er das beste beider Idiome (Rock und Free Jazz) herausdestillierte und daraus neue Stilformen entwickelte, von denen man nicht einmal zu träumen wagte. Aber wir wollten noch etwas anderes, etwas das näher am Herzen des Lärms und der erbarmungslosen Kolbenrhythmen war, die sowohl die Essenz des Amerikanischen Lebens als auch die des Amerikanischen Rock’n’Roll zu repräsentieren schienen.

Bands entstanden und gingen wieder ein wie Unkraut. Die MC5 wurden vor ihrer ersten Platte mit einem Hype bedacht, der den Mond versprach, aber vergaß, von der Startbahn abzuheben. Black Pearl brachten ein vielversprechendes erstes Album heraus – keine echten Experimente, aber ein deutliches Echo der Yardbirds war im metallischen Scheppern präzise verzerrter Gitarren vernehmbar. Ihr zweites Album versandete in schlechter Soulmusik.

Teil III: Die Ausrichtung der Kur

Und schließlich doch noch die Stooges. The Stooges waren die erste junge Amerikanische Band, die den Einfluss der Velvet Underground aufnahm. Ihr zweites Album zeigt das deutlich. Die frühen Velvets hatten verstanden, dass, ganz gleichgültig, welche Fähigkeiten man hat, Musik auf einer einfachen Basis am besten ist. »Sister Ray« entwickelt sich von einem einfachen Funkriff über siebzehn Minuten zu unglaublich komplexen Soundstrukturen. Die Stooges hingegen konnten zuerst gar nicht anders, als so simpel wie am absoluten Tiefpunkt zu spielen. Sie entwickelten das Konzept der Band, bevor sie überhaupt spielen konnten. Was schon eine gewisse Rolle spielt. Nichts weiter als ein paar schlechtgelaunte Typen mit Ideen, die sich klar darüber sind, was für ein bullshit überall läuft. Mit dem Unterschied, dass die Stooges sich aufrafften, etwas dagegen zu unternehmen. Keiner der Stooges spielt sein Instrument schon länger als zwei oder drei Jahre. Das ist gut so. Wenigstens müssen sie den ganzen Kram nicht erst wieder verlernen, der schon so manchen vielversprechenden jungen Musiker ruiniert hat: Blues Rock, Folk-Pickin’, Jazz im Wes-Montgomery-Stil etc. »Fuck that!« sagten sich Asheton und Alexander. Wir können sowieso nicht spielen, warum sollten wir uns da noch die Mühe machen, es zu lernen? Besonders da die meisten Virtuosen in den genannten Stilrichtungen so beschissen langweilige Musik machen, dass man sich ernsthaft fragen muss, wie jemand mit auch nur einem halben Hirn es schafft, sie sich anzuhören.

In A.B. Spellmans bewegendem Buch »Four Lives in the Bebop Business« erzählt Cecil Taylor die Geschichte über eine Erfahrung, die er in den mittleren Fünfzigern gemacht hatte, als so gut wie jeder Klubbesitzer, Jazzkritiker und -hörer in New York seine Musik nicht mochte, weil sie zu neu und avanciert war, als dass sie von ihnen hätte kapiert werden können. Eines Abend spielte er in einem dieser Klubs, als ein Typ von der Straße mit einem Doppelbass hereinschneite und fragte, ob er mitspielen könne. Warum nicht, sagte Taylor, obwohl der Typ schon ziemlich wahnsinnig zu sein schien. Dann jammten sie miteinander, und es wurde schon sehr bald offensichtlich, dass der Mann keinerlei formale Ausbildung am Bass genossen hatte, so gut wie nichts über die Grundlagen des Bassspielens wusste und vermutlich auch nicht einen einzigen bekannten Song oder eine normale Akkordfolge darauf hätte spielen können. Gar nichts. Der Typ hatte sich einfach den Bass gegriffen und sich entschlossen, darauf zu spielen, spazierte eine nur sehr kurze Zeit später kaltblütig in einen New Yorker Jazzklub und bluffte sich seinen Weg hinauf auf die Bühne. Er wusste nicht einmal genau, wie das Instrument gehalten wird, erforschte es, wie ein Kind es tun würde, evozierte Sounds und folgte den Songs aus einem ignoranten Wirrwarr heraus. Nach einer Weile, meinte Taylor, habe er begonnen, darin etwas zu hören, etwas tief Empfundenes, niemals aber etwas vollkommen Kontrolliertes, das zwischen einer brandneuen Art Song, den einem niemand beibringen kann, weil er Ergebnis einer unverbildeten Unschuld ist, die alle bekannten Systeme überschreitet, und dem reinen Chaos hin und her schwankte, das manchmal überbordend zerstörerisch den Spieler spielend seine eigenen Songs zu schreiben beginnt. Es begann, etwas Gestalt anzunehmen, das, obgleich erratisch, in der ganzen Welt einzigartig war. Sehr plötzlich war der Mann jedoch verschwunden, sehr wahrscheinlich, um sich der Vergessenheit entgegen zu spinnen. Denn Taylor sah ihn nie wieder und hörte auch nichts mehr von ihm. Doch hätte der Mann damit weiter gemacht, fügte Taylor hinzu, dann hätte er einer der ersten großartigen wirklich freien Bassisten werden können.

Die Musik der Stooges ist genau so. Sie entstand in einem ahnungslosen Chaos, nahm langsam in einem einzigartigen persönlichen Stil Gestalt an und entstammt einer Tradition Amerikanischer Musik, die von den wollenen Fetzen hinterwäldlerischer String Bands bis zum magischen, für die Ewigkeit gemachten und gelegentlich auch eingelösten Versprechen des Rock reicht: Nämlich dass eine Band, primitiv wie ein Knochen, unsicher und ohne Ausbildung, sich zu einem kraftvollen und eloquenten Ensemble entwickelt. Es geschah wieder und wieder: die Beatles, Kinks, Velvets etc. Die Stooges sind vielleicht die erste bekannte Gruppe, die sich wirklich gegründet hat, noch bevor sie spielen konnte. Dies ist möglicherweise die ultimative Rock’n’Roll-Geschichte. Denn im Rock geht es hauptsächlich um Anfänge, um Jugend und Unsicherheit, darum, an ihnen zu wachsen, um daraus wieder herauszuwachsen. Und darum, sich durchzusetzen, bevor du überhaupt weißt, was verdammt du eigentlich machst. Was auch die weiter oben aufgeworfene Frage beantwortet, was der adoleszenten Trübsal der frühen Stooges mit Rock’n’Roll zu tun hatte. Rock ist im Grunde eine adoleszente Musik, die den Rhythmus, die Anliegen und Erwartungen dieses speziellen Alters reflektiert. Der Rock kann nicht erwachsen werden, sollte er das tun, würde er sich in etwas anderes verwandeln, das zwar immer noch bedeutend sein könnte, aber eben etwas völlig anderes. Ich persönlich glaube, dass es mit dem echten Rock’n’Roll zu Ende geht, genauso wie es mit der Adoleszenz als einer relativ unschuldigen Zeit des Übergangs zu Ende geht. Stattdessen gibt es eine kleine Insel neuer freier Musik, die von einigen Neuauflagen der Idiome der Vergangenheit und einem weiten Sargassomeer des absoluten Mülls umgeben ist. Und die Songs der Stooges enthalten einige der letzten guten Rock’n’Roll-Lyrics, weil ansonsten so gut wie alle dafür entweder schon zu sophisticated oder von dem Effekt vergiftet sind, den große Ideen auf zu kleine Köpfe haben. Auch geringes Wissen kann gefährlich sein.