Offenbarung

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Es war unwesentlich, dass ich einen mutmaßlichen Vergewaltiger umgebracht hatte. Ich hatte einen Menschen getötet! Ich, Pater Tomás, der Priester und Diener Gottes, habe meine Hände mit dem Blut eines anderen Menschen befleckt. Ein unzähmbares Zittern bemächtigte sich meines Leibes, und ich verschränkte die Arme über der Brust, um seiner Herr zu werden. Heiße Tränen brannten sich den Weg durch meine Wangen, und ich spürte, wie eine beklemmende Leere in mir aufgerissen ward. Gerade als sie dabei war, mich zu verschlingen, bahnte sich eine ferne Stimme den Weg zu mir. In meiner Erschöpfung versuchte ich, ihr keine Beachtung zu schenken, aber sie erklang hartnäckig immer wieder, bis ich schließlich verstand, was sie sagte.

»Pater, rede mit mir! Pater, bitte rede mit mir!«

Nach ungeheurer Anstrengung war ich schließlich imstande, sie als die Stimme Pilars wiederzuerkennen. Sie hatte es geschafft, mich wieder in die grausame Wirklichkeit zurückzuholen. Ich weiß nicht, welchen Gesichtsausdruck ich besaß als ich sie endlich ansah, aber ihr Blick verriet, dass sie in jenem Augenblick ebenso viel Angst vor mir hatte wie vormals vor Bruder Pedro.

Ich sammelte meine letzten Kräfte, um die Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, da ich Pilar nicht den Eindruck vermitteln wollte, sie sei einem Verbrecher entronnen, um einem andern in die Hände zu fallen, obgleich das die traurige Wahrheit war. Sie wurde von einem Vergewaltiger befreit und fiel einem Mörder in die Hände, und beide waren als Diener des Herrn verkleidet. Wer hätte ihr das Entsetzen übel nehmen können?

»Ist er tot?«, stammelte sie kaum vernehmbar.

Ich nickte betreten, und dann geschah etwas, was mich abermals aus dem seelischen Gleichgewicht warf. Sie stürzte sich auf mich, ihr Kind fest an sich gepresst, und umklammerte mich mit der ganzen Kraft ihrer ausgemergelten Arme. Vor lauter Überraschung hätte ich die Kerze beinahe zum dritten Mal fallen gelassen. Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht und auf meinen Hals, und ich errötete vor Verlegenheit und Scham.

»Es ist nun gut, mein Kind«, sagte ich mit einer Stimme, der es an Festigkeit mangelte. »Er wird dich nicht mehr quälen.« Sanft löste ich mich aus ihrer Umarmung und bedeutete ihr, sich wieder hinzusetzen.

»Wir müssen ihn nun begraben.«

Zum ersten Mal seit wir uns begegnet waren, warf mir Pilar einen vernichtenden Blick zu.

»Mögen die Wölfe seine stinkende Leiche fressen, denn er war auch ein Wolf«, zischte sie böse.

»Genug davon«, unterbrach ich sie streng. »Gleichwohl, welche Sünden seine Seele verbarg, er ist ein Mensch und ein Christ und es gebührt ihm ein christliches Begräbnis«, sagte ich bestimmt. »Aber weder du noch ich können weiter hier bleiben, denn wir befinden uns in Lebensgefahr. Wenn seine Brüder merken, dass er nicht zurückkehrt, werden sie einen oder mehrere schicken, um nach ihm zu suchen. Und dann haben wir keinerlei Aussichten mehr, zu entkommen.« Ich machte eine kurze Pause, bevor ich besorgt fortfuhr: »Wir müssen noch heute Nacht aufbrechen.«

Pilar nickte heftig.

»Ich werde ihn nun begraben«, sagte ich mit einem tiefen Seufzer und machte mich unverzüglich an die Arbeit.

Da ich mir mit dem Tod des Mönchs eine schwere Sünde aufgeladen hatte, wagte ich nicht, über die Mühe zu klagen, die mir die Beerdigung von Bruder Pedro bereitete. Zunächst versuchte ich, ihn aus dem Kellerraum hinauszuschleifen, aber es war so gut wie unmöglich, ihn vom Fleck zu bekommen.

In meiner Ratlosigkeit entschloss ich mich, den Leichnam an Ort und Stelle zu begraben, wobei die weiche Erde meine Bemühungen erheblich erleichterte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich für das Graben des Loches mit einem größeren Stück gebrochenen Glases brauchte; alles, woran ich mich erinnere, ist, dass die Angst mir ungeahnte Kräfte verlieh, ich weder Hunger noch Durst noch Müdigkeit empfand. Als ich mit dem Ausheben der Grube fertig war, wollte ich Pilar um Hilfe bitten, mit mir die Leiche ins Erdloch zu schieben, besann mich jedoch eines Besseren und erledigte die Aufgabe unter großer Mühsal allein, schließlich war ich derjenige, der ihn getötet hatte.

In aller Hast schüttete ich die Erde über den mächtigen Leichnam, nahm die beiden Stöcke, seinen und meinen, band sie zu einem Kreuz zusammen und steckte es am Kopfende in den Boden. Zu guter Letzt murmelte ich ein kurzes Gebet für die Seele des Verstorbenen und rief Pilar zu, sie solle ihre Habseligkeiten packen, damit wir uns endlich aus dem Staube machen konnten. Sie ließ sich nicht zweimal auffordern, und nach kurzer Zeit befanden wir uns auf der verlassenen, dunklen Landstraße.

Unterwegs bat ich den Herrn unentwegt um die Vergebung meiner Sünden und rätselte, warum er mir so eine schwere Prüfung auferlegt hatte. Nie hatte ich die Absicht gehabt, Bruder Pedro zu töten, aber das erlöste mich nicht von der Verantwortung. Ich hatte es getan und meine Seele musste die furchtbare Last dieser Tat ertragen.

Während wir uns stolpernd durch die schlammige Straße hindurchmühten, leuchtete uns der helle Mond den Weg, und ich betrachtete es als Zeichen des Erbarmens von Seiten unseres Herrn. Wir konnten uns den schwierigen Verhältnissen zum Trotz einigermaßen zügig fortbewegen, denn der Mondschein und die Angst vor der Verfolgung hatten uns unerwartete Kräfte verliehen. Pilar lief wenige Schritte hinter mir her, ich konnte ihren schnellen, angestrengten Atem deutlich hören. Obwohl die Straße meist bergab führte, war ihrem geschwächten Körper die Anstrengung der Reise immer deutlicher anzumerken. Ich betete im Stillen um die nötige Kraft, Valencia heil erreichen zu können, denn obgleich unser Weg stetig talwärts führte, lag das Ziel noch in beträchtlicher Entfernung. Wir hatten nur noch ein kleines Stückchen von dem Brot, das ich auf die Reise mitgenommen und für Pilar aufgehoben hatte.

Mit Entsetzen dachte ich daran, dass uns dieser kümmerliche Bissen niemals bis Valencia reichen würde, und flehte stillschweigend den Herrn an, uns seine Gnade zu erweisen, damit ich diese Frau und ihr Kind heil in Sicherheit bringen könne.

Nach langen Stunden der Finsternis begann sich der Himmel allmählich aufzuhellen, und das Licht des Mondes verblasste zusehends. Die Landstraße war immer leichter auszumachen, und nach wenigen Stunden kündigte die Morgensonne den neuen Tag an. Wir liefen weiter, bis ich merkte, dass Pilar immer öfter stolperte und schließlich unweigerlich zurückblieb. Ich hielt an, und als ich mich besorgt umdrehte, sah ich, wie sie schwankenden Schrittes immer langsamer einen Fuß vor den anderen setzte. Ihr glasiger Blick war irgendwo in der Ferne verloren. Ich wartete geduldig, bis sie mich einholte.

»Sollen wir eine Pause machen?«, fragte ich unnötigerweise.

Sie nickte kaum merklich, und ihr pfeifender Atem verriet tiefe Erschöpfung. Ich fühlte mich ebenfalls ausgelaugt, aber meine Person zählte nicht, denn ich hatte ein Menschenleben auf mein Gewissen geladen. So betrachtet, war dieser Erschöpfungszustand eine allzu milde Strafe für meine jüngste Sünde.

»Lass uns am Wegrand ruhen und später weitergehen«, sagte ich.

Wir setzten uns mit zitternden Knien auf einen der großen Felsbrocken, welche die Straße säumten, und verschämt bot ich ihr das restliche Stück Brot an.

»Iss du es, Pater!«, sagte sie zögerlich.

»Ich habe keinen Hunger«, log ich und versuchte, so überzeugend wie möglich zu klingen. »Außerdem bist du sehr geschwächt, und dein Kleiner braucht Milch«, erwiderte ich und streckte Pilar das Stück Brot entgegen.

Sie riss es mir aus der Hand und murmelte etwas, was ich als Danksagung verstand, bevor sie es sich in den Mund stopfte.

Eine ganze Weile saßen wir da, und ich spürte, wie die Sonne mit voranschreitendem Tag mehr und mehr an Kraft gewann. Ein leichter Schwindel überkam mich, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Die Anstrengungen der vergangenen Nacht, der Hunger und die Schlaflosigkeit forderten allmählich ihren Zoll. Pilar hatte mir den Rücken zugewandt, und ich nahm an, dass sie ihr Kind stillte. Nach einiger Zeit fragte ich mit schwacher Stimme:

»Können wir nun weiter?«

Sie drehte sich zu mir um, und ich sah, dass ihr Gesicht wieder etwas Farbe bekommen hatte. Sie nickte.

Wieder machten wir uns auf den Weg, meine Beine fühlten sich wie Blei an. Insgeheim betete ich darum, baldmöglichst eine menschliche Siedlung zu erreichen und diese verwaiste Gegend ein für alle Mal hinter uns zu lassen.

Nach einer Weile erreichten wir ein Dorf, das genauso verlassen aussah wie alle anderen, durch die ich gereist war. Resigniert beschloss ich, solange Pilar Schritt halten konnte, weiterzugehen, in der Hoffnung, irgendwann auf Menschen zu stoßen und sie um Verpflegung und Unterkunft zu ersuchen.

Gegen Abend kamen wir in eine Siedlung, in der aus einigen Schornsteinen Rauch aufstieg. Ermutigt klopfte ich an der Tür des ersten Hauses, welches bewohnt schien. Ein böses Hundekläffen war die unmittelbare Antwort. Ein hölzerner Fensterladen ging mit einem Quietschen auf.

»Wer ist da?«, fragte eine unfreundliche Stimme.

»Anständige Leute«, erwiderte ich. »Ich bin Priester, Diener des Herrn, und habe ein junges Geschöpf mit einem Neugeborenen bei mir«, fuhr ich fort. »Habt Erbarmen und gebt uns eine Kleinigkeit zu essen, denn wir kommen von weit her und die Frau und ihr Kind sind ausgehungert und entkräftet. Der Herr wird euch dafür belohnen«.

»Wir haben selbst nichts«, keifte es zurück. »Sieh zu, dass du und deine Hure weiterzieht, sonst hetze ich die Hunde auf euch, unverschämtes Pack!«

Das Bellen der Hunde wurde lauter, und ich entschied kurzerhand, weiterzugehen, da ich das Leben von Pilar und ihrem Kind nicht gefährden wollte. Ich klopfte an jeder Haustür, mit dem Ergebnis, dass ich überall abgewiesen wurde, und spürte nach einer Weile, wie mich der Mut verließ. In meiner Hilflosigkeit begann ich fieberhaft unseren Herrn Jesus Christus halblaut um Beistand anzuflehen, denn beinahe das ganze Dorf hatte ich durchmessen und keine Seele wollte sich unser erbarmen. Als ich entmutigt an die Tür des vorletzten Hauses pochte, öffnete sie sich so plötzlich, als hätte man uns bereits erwartet. Eine untersetzte, beleibte Frau mittleren Alters blickte mich prüfend an.

 

Ich senkte das Haupt und sagte mit schwacher, unsicherer Stimme:

»Ich bin Pater Tomás, Diener des Herrn in der Gesellschaft Jesu, und diese junge Frau heißt Pilar. Sie hat ein neugeborenes Kind dabei, und ich bin mit ihr auf dem Weg zu unserem Konvent in Valencia unterwegs. Habe Erbarmen im Namen Jesu Christi und gewähre uns Unterkunft und etwas zu essen, und ich werde für dich beten«, endigte ich voller Leidenschaft.

Die Frau musterte uns beide sehr lange von oben bis unten, dass ich wieder befürchten musste, abgewiesen zu werden.

»Kommt herein«, sagte sie knapp, drehte sich um und ging schlurfend voran. Sie führte uns in eine kleine, dunkle Küche, deren einzige Lichtquelle ein winziges, hochgelegenes Fenster war. Der Raum war karg ausgestattet, und seine Einrichtung bestand aus einem grob gezimmerten Tisch aus dunklem Holz und vier ähnlich verarbeiteten Hockern sowie einer altersschwachen Kommode und einem hohen, schmalen Schrank. Mit einer knappen Geste hieß uns die Gastgeberin Platz zu nehmen. Im Nu zauberte sie einen Laib Brot, eine Ecke Käse und ein kleines Stück getrocknetes Fleisch auf den Tisch. Sie schnitt das Brot in grobe Scheiben und sagte nur:

»Esst!«

Ich faltete meine Hände, sprach zitternd ein kurzes Gebet und segnete die Speisen. Dann setzten wir uns und begannen, schweigend zu essen. Ich musste mich besonders beherrschen, um es der jungen Frau nicht nachzumachen und die Speisen unbeherrscht in mich hineinzustopfen.

Später, nachdem unser Hunger gestillt war, überkam mich eine unbesiegbare Müdigkeit, ich spürte, wie mir die Augen beinahe zufielen. Unsere Gastgeberin, die uns während der Mahlzeit aus der Ecke schweigend beobachtet hatte, trat vor und machte den Tisch sauber.

»Woher kommt ihr, Pater?«, fragte sie, und diesmal klang ihre Stimme mild.

»Aus Cuenca«, sagte ich leise und spürte, wie Erschöpfung mich übermannte.

»Das ist ein weiter Weg auf diesen Straßen«, entgegnete die Frau und zog die Augenbrauen zusammen. »Wollt ihr euch nicht ein wenig ausruhen, bevor ihr die Reise fortsetzt? Sonst werdet ihr kaum heil in Valencia ankommen. Ich habe im Zimmer nebenan ein Bett und eine Strohmatte, da könnt ihr schlafen.«

Ich murmelte mit letzter Kraft ein »Dankeschön und Gott segne dich« und torkelte ihr hinterher. Erschöpft erreichte ich die Strohmatte und ließ mich darauf fallen, um sogleich in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu sinken.

Als ich die Augen öffnete, war es schon wieder fast dunkel. Ich drehte den Kopf zur Seite, dorthin, wo Pilars Bett stand, nur um festzustellen, dass sie darauf saß und mich reglos anstarrte. Ich sprang hastig auf, denn ich fühlte mich auf einmal wie jemand, der bei einer unanständigen Tätigkeit ertappt wurde.

»Schläfst du eigentlich nie, mein Kind?«, fragte ich und spürte zu meiner Verärgerung, wie gereizt meine Stimme klang. Ich wollte auf jeden Fall jegliches Anzeichen von Unbeherrschtheit vermeiden und empfand es mehr als verdrießlich, dass mir dies nicht gelang.

Sie schenkte mir einen traurigen Blick aus ihren großen braunen Augen, während sie mit der linken Hand das Stoffbündel, in dem sich ihr Kind befand, sanft streichelte.

»Ich schlafe seit einiger Zeit nur sehr kurz und sehr leicht, Pater. Ich glaube, du verstehst warum«, antwortete sie leise, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Ich schwieg, weil ich das Gefühl hatte, sie wollte mir noch etwas sagen.

»Wie lange brauchen wir noch bis Valencia?«, fragte sie schließlich.

Ich seufzte und versuchte ihrem Blick auszuweichen.

»Mit Hilfe des Allmächtigen und mit etwas Glück könnten wir in fünf bis sechs Tagen da sein.« Dann sah ich fest in ihre Augen.

»Kann dein Kind diese Reise überstehen? Lass mich einen kurzen Blick darauf werfen.«

An Stelle einer Antwort drehte sie sich unversehens zur Seite und verbarg das Bündel vor meinem Blick.

»Ich tue ihm nichts, ich will dir nur helfen.«

Pilar zögerte einen Augenblick, bevor sie schließlich nickte, und ihr angespanntes Gesicht wurde geringfügig weicher.

Ich näherte mich vorsichtig der jungen Frau und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. Sie zuckte kaum merklich, ließ mich aber gewähren.

Als ich mich schließlich über das Kind beugte, erfror mein Lächeln augenblicklich auf den Lippen. Das kleine, notdürftig eingewickelte Päckchen umhüllte Manolo vollständig, mit Ausnahme des Gesichtes. Ein Paar große schwarze Augen betrachteten mich teilnahmslos, wobei die Nasenflügel im Rhythmus der schnellen Atmung flatterten. Das winzige, graublasse Gesicht war zu einem runzeligen Häufchen zusammengeschrumpft, aus dem nur die riesigen Augen hervorstachen.

Ich wollte etwas sagen, verkniff es mir aber in letzter Sekunde und trat stattdessen einen Schritt zurück. Pilar schaute mit einem derart tiefen, stummen Leiden zu mir herauf, dass ich das Gefühl hatte, mein Herz würde sogleich in tausend Stücke zerspringen.

Ich fragte unsicher:

»Musst du es nicht mal sauber machen?«

»Es kommt so gut wie nichts unten raus«, erwiderte sie resigniert.

Ich nickte langsam, während die Gedanken wild in meinem Kopf umherwirbelten.

»Pater«, fragte sie zögernd, »könntest du meinen kleinen Manolo taufen?«

Das war die Frage, vor der ich am meisten Angst hatte.

»Seit wann scheidet es nichts mehr aus?«, erkundigte ich mich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Kannst du mein Kind taufen, Pater Tomás?« In ihrer Stimme schwang unsagbares, tiefes Leid.

Plötzlich überkam mich das Gefühl, als wäre mir eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Unbeholfen räusperte ich mich und versuchte ihren Blick zu meiden.

»Wer ist der Vater des Kindes?«, brachte ich schließlich hervor.

Sie senkte verschämt den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

»Du weißt, wie die Regeln unserer Heiligen Mutter Kirche lauten, mein Kind …«

Sie nickte und wandte sich langsam von mir ab.

Wir schwiegen beide, bis ich schließlich ein paar Worte über die Lippen zu bringen vermochte:

»Ich werde mit unserer Gastgeberin reden und mich für die Speisen und die Unterkunft bedanken«, und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, auf die Tür zu.

Kaum hatte ich einige Schritte getan, als es leise an der dünnen Brettertür klopfte.

Ich rief »Herein!« und die Hausherrin stand im Raum. Sie muss gelauscht haben, schoss es mir durch den Kopf.

»Wollt ihr nicht über Nacht hierbleiben?«, fragte sie. »Es ist jetzt wieder dunkel und auch noch stark bewölkt. Ihr solltet nicht auf diesen Straßen nach Einbruch der Dunkelheit reisen«, fügte sie hinzu.

Ich dankte ihr für das Angebot und antwortete, wir wollten keine weiteren Unannehmlichkeiten bereiten. Die Frau bestand jedoch darauf und bot uns die Anschrift ihres Bruders an, der nur einen Tagesmarsch entfernt wohnte. Wir sollten ihm sagen, dass wir von Maria Pedrosa kämen und ihm die besten Wünsche ihrerseits übermitteln.

Ich zögerte einen Augenblick, willigte aber schließlich ein, denn ihr Vorschlag war ebenso vernünftig, wie von tiefer christlicher Nächstenliebe geprägt. Für das großherzige Angebot war ich ihr zutiefst dankbar – sowohl im Namen Pilars als auch in meinem.

Nachdem unsere Gastgeberin gegangen war, zog ich mich in eine Ecke des Raumes zurück, kniete nieder, sprach mein Gebet und bat Jesus Christus erneut um die Vergebung meiner Sünden sowie um den Schutz des Lebens von Pilar und Manolo. Ich tat es mit einer Inbrunst, die ich von mir selbst nie erwartet hätte.

Nach dem Gebet murmelte ich ein »Gute Nacht« in die Richtung der jungen Frau und legte mich auf die Pritsche, mit dem festen Vorsatz, so schnell wie möglich einzuschlafen. Doch meine Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen, und ich wälzte mich mit geschlossenen Augen noch eine ganze Weile hin und her, bis mich endlich der Schlaf übermannte.

Ich weiß nicht mehr, was ich alles geträumt hatte, aber ich erwachte in tiefste Dunkelheit gehüllt, schweißgebadet und mit einem Gefühl von Panik, die mich zu überwältigen drohte. Im ersten Augenblick hatte ich große Mühe, mich zurecht zu finden. Ich konnte weder Türe noch Fenster erkennen, obgleich ich verzweifelt nach einem Bezugspunkt suchte. Auch konnte ich Pilars Atmen nicht hören, das mich auf die Anwesenheit eines menschlichen Wesens in diesem pechschwarzen Nichts hingewiesen hätte. So wähnte ich mich schon an einem Ort gleich dem Verließ des Teufels in der Hölle. Es war wieder diese alte Angst vor der Dunkelheit, die mich zu überwältigen drohte, und ich spürte, wie sich eine lähmende Kälte in mein Herz schlich.

Ich mühte mich, den hektischen Atem um jeden Preis in den Griff zu bekommen, und während ich mich fest darauf konzentrierte, erschienen mir allmählich die Umrisse des Raumes, und eine große Erleichterung überkam mich, als die Dunkelheit sich langsam zu lichten begann.

Es muss sehr früh am Morgen gewesen sein, denn ich vernahm plötzlich schlurfende Schritte im Hausflur, und irgendwo, unweit von unserem Zimmer, ging eine Tür leise quietschend auf. Es war sicherlich die Bäuerin, die zum Stall ging, und allein dieser Gedanke vermochte mich zu beruhigen.

Leider hielt dieser Zustand zunehmender Entspannung nicht lange an, denn ich musste erneut an Pilar und an ihr Kind denken. Ich versuchte so gut es ging, diesen Gedanken zu verdrängen und meine Kräfte auf die Bewältigung der verbleibenden Strecke nach Valencia zu richten, eine Aussicht, die mich mit tiefer Sorge erfüllte.

Während es im Zimmer heller wurde, blickte ich zu Pilars Lager hinüber. Sie lag auf der Seite mit dem Rücken zu mir gekehrt, und ich dachte, ich sollte sie wecken, da es an an der Zeit war, aufzubrechen. Die Reise, die uns bevorstand, war mindestens so beschwerlich und um einiges länger als der Weg, den wir bereits zurückgelegt hatten. Ich richtete mich auf, versuchte meine Kleidung, so gut ich konnte, zu ordnen und schritt leise auf ihren Liegeplatz zu. Gerade als ich mich bückte, um sie an der Schulter zu berühren, drehte sie sich mit einem Ruck um, und ich machte vor Schreck einen Satz zurück.

»Ich wollte dich wecken, weil es bereits hell ist und wir weiter müssen«, sagte ich zögerlich.

Sie nickte mir kurz zu.

»Bist du schon länger wach?«, fragte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen.

»Schon eine ganze Weile«, erwiderte Pilar leise.

Ich wollte mich nach dem Kind erkundigen, verkniff es mir aber, weil ich schließlich keinen Sinn darin erkannte.

»Ich werde nach unserer Gastgeberin sehen«, murmelte ich und eilte hinaus.

Sie war, wie vermutet, im Stall und versuchte, eine der beiden ausgemergelten Kühe zu melken. Maria Pedrosa blickte zu mir herauf und stellte trocken fest:

»Ihr seid schon wach, Pater.«

»Wir müssen aufbrechen«, erwiderte ich. »Ich wollte mich für die christliche Bewirtung bedanken und dir meinen Segen erteilen.«

»Danke, Pater, doch bevor ihr geht, sollt ihr noch etwas zu euch nehmen, und wenn ihr wollt, könnt Ihr euch auch noch reinigen. Ich habe einen großen Bottich mit Wasser vorbereitet.«

»Ich danke dir von ganzem Herzen, aber lass lieber die junge Frau, die mit mir reist, an dieser Segnung teilhaben. Sie hat es sehr nötig«, bemerkte ich.

Maria Pedrosa stand schwerfällig auf, schob den Schemel zur Seite und hob den Kübel mit Milch vom Boden.

Ich begleitete sie in die Küche, wo bereits zwei Holzbretter mit Essen vorbereitet waren. Nicht lange danach erschien Pilar, und unsere Gastgeberin führte sie zum Wasserbottich am hinteren Ende des Hauses.

Nach dem Frühstück gab uns Maria einen kleinen Leinensack mit Lebensmitteln mit und sagte:

»Zwei Dörfer, etwa einen Tagesmarsch von hier entfernt, wohnt mein Bruder Juan Antonio. Sagt ihm, dass ihr von mir kommt, und er wird euch weiterhelfen:«

Überwältigt von so viel Hilfsbereitschaft konnte ich es mir nicht verkneifen, sie zu fragen, warum sie uns an dem Wenigen, das sie besaß, derart selbstlos hat teilhaben lassen.

 

»Mein Bruder und ich sind als Waisenkinder von einem Priester großgezogen worden. Er war der gütigste Mensch auf der ganzen Welt. Wäre mein Mann noch am Leben«, fuhr sie fort, »hätte er es mir nie erlaubt, euch zu beherbergen, denn er pflegte immer zu sagen, Priester seien Lügner und Betrüger. Aber seitdem er nicht mehr da ist, kann ich tun und lassen, was ich will …«, schloss sie mit hörbarem Stolz.

Ich erteilte ihr den Segen, und wir brachen auf.

Der Bruder von Maria Pedrosa ließ uns die gleiche großherzige Nächstenliebe zukommen wie seine Schwester, und ich begann echte Hoffnung für Pilars kleinen Sohn zu schöpfen.

Es war der frühe Nachmittag des fünften Tages, und die Landstraße erschien mir unter der wärmenden Sonne viel weniger bedrohlich und unwegsam als zu Beginn meiner Reise. Inbrünstig dankte ich Gott für seine Gnade, als ich plötzlich merkte, dass ich Pilars Schritte hinter mir nicht mehr hörte. Ich drehte mich verunsichert um und sah, wie sie mich aus einiger Entfernung anstarrte. Ich dachte mir nichts Besonderes dabei und kehrte um, um zu sehen, was los war. Ich nahm an, dass sie mit meinem schnellen Gang nicht mithalten konnte, und deshalb eine Pause eingelegt hatte. Als ich ihr jedoch näher kam, bemerkte ich, wie sie mit versteinerter Miene durch mich hindurchstarrte.

»Was ist los?«, fragte ich außer Atem.

Sie versuchte zu schlucken, und ihr schmales Gesicht verzog sich zu einer entsetzlichen Grimasse. Plötzlich fiel sie auf die Knie und streckte mir das kleine Bündel Mensch entgegen. Ich blickte hinab, und es war, als hätte mich der Blitz getroffen. Das winzige graue Gesicht war mit halb geöffnetem Mund erstarrt. Nur die Nasenflügel bewegten sich noch kaum merklich. Ich sah Mutter und Kind verlegen an.

»Pater Tomás, bitte taufe mein Kind. Bitte!«

Ich hatte noch nie in meinem Leben mehr Hilflosigkeit gesehen und spürte, wie meine Knie auf der Stelle weich wurden. Die Zunge schien mir im Mund festzukleben und als ich versuchte etwas zu sagen, bekam ich keinen einzigen Ton heraus.

Nach einigen Augenblicken, die mir aber wie eine Ewigkeit vorkamen, stammelte ich einige Worte, und es war, als kämen sie von einer dritten Person.

»Selbstverständlich, es ist eine Notlage. Ich werde die Taufe sofort vornehmen.«

Bis dahin hatte ich die Bitte Pilars ignoriert, weil ich mich in einem schweren Konflikt zwischen meinem Gewissen und den Regeln der Kirche befand. Die Gesetze unserer Kirche besagten, dass Kinder von unverheirateten Frauen kein Anrecht auf die christliche Taufe hatten, waren sie doch Bastarde. Da stand aber Pilar mit ihrem sterbenden Kind, und ich wusste, dass ich ihr die Taufe nicht verweigern konnte.

Ich kniete hin und sprach die nötigen Worte, aber ich hatte noch immer das Gefühl, als wäre es ein anderer Mensch, dessen Stimme aus meinem Munde sprach.

Die graue Farbe des kleinen Gesichtes hatte eine erschreckende Blässe angenommen, und die Nasenflügel bewegten sich auf einmal nicht mehr.

»Manolo ist tot«, stammelte ich heiser.

In der unheimlichen Stille, die uns umgab, hörte ich nur das leise Schluchzen der Frau, die vor mir zusammengekauert kniete. Ich schritt schwerfällig zur Seite, ohne genau zu wissen, was ich als Nächstes tun sollte.

Es vergingen vielleicht Stunden oder auch nur wenige Minuten, bis ich endlich imstande war, etwas zu sagen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, und mich umgab eine Leere, die ich noch nicht einmal heute treffend beschreiben kann.

»Wir müssen ihn beerdigen«, hörte ich mich sagen und kletterte, ohne auf eine Antwort zu warten, wie ein Greis, den Hang hinauf. Mit der Langsamkeit der Erschöpfung begann ich unweit der Landstraße, wo die Erde etwas weicher war, mit den bloßen Händen zu graben.

Ich brauchte nicht lange, um ein kleines Loch auszuheben, dann wandte ich mich Pilar zu. Sie kauerte noch immer in der gleichen Stellung, in der ich sie verlassen hatte. Als ich mich mit unsicherem Schritt näherte, drückte sie ihr totes Kind noch stärker an sich. Ich ging in die Hocke und berührte leicht ihren Arm. Sie zog ihn so heftig zurück, als hätte ich sie mit einem heißen Eisen berührt.

»Wir können das nicht mehr ändern, mein Kind«, sagte ich. »Lass es uns zumindest christlich zu Grabe tragen.«

Nur langsam entspannten sich ihre Züge, während sie mir ihren toten Manolo reichte, ohne mich eines einzigen Blickes zu würdigen. Ich nahm das winzige Päckchen und kletterte unsicher und keuchend den Hang hinauf. Behutsam, als hätte ich Angst, es zu wecken, legte ich es in die kalte Grube und wartete, bis Pilar mich eingeholt hatte.

»Kann ich sie zuschütten?, fragte ich, ohne sie anzusehen.

Sie nickte kaum merklich, und ihre Augen starrten fest auf den Boden. Ich schüttete hastig die Erde über den kleinen leblosen Körper und murmelte anschließend ein kurzes Gebet. Da ich weit und breit kein Holz fand, sammelte ich einige kleine Steine, die ich in Kreuzform am Kopfende anordnete. Zu guter Letzt legte ich noch einige größere Steine auf das Grab, damit die wilden Tiere es nicht hervorzerren konnten. Ich wartete noch einige endlose Augenblicke, bis Pilar sich vom Grabe ihres Kindes gelöst hatte, und setzte die Reise talwärts fort.

Wir benötigten noch ganze vier Tage, bis wir schließlich Valencia erreichten. Während der gesamten Reise wechselte Pilar kein einziges Wort mit mir. Wenn wir unterwegs waren, blieb sie immer einige Schritte zurück, wie ein Schatten, den man nicht loswerden kann. Ich versuchte, diese beklemmende Stimmung zu verdrängen, indem ich immer tiefer in mich ging. Ich betete fast unentwegt und blendete die ganze Umgebung und alles, was in jüngster Zeit geschehen war, völlig aus. Erst als wir die Vororte von Valencia mit ihren ärmlichen Behausungen außerhalb der Stadtmauern erreichten, wurde mir richtig bewusst, dass ich diese mörderische Strecke aus den Bergen ins entfernte Tal endlich bewältigt hatte.

Am Stadttor angelangt, fragte ich eine der Wachen nach dem nächstgelegenen Nonnenkloster, und er wies mir bereitwillig den Weg zu einem Haus der Karmelitenschwestern unweit der Stadtmauer.

Als ich an das schwere Eichenholztor pochte, musste ich mich lange Zeit gedulden, bis endlich jemand öffnete. Es war eine junge Nonne, die mich durch den Torspalt misstrauisch beäugte.

»Ich bin Bruder Tomás von der Gesellschaft Jesu«, stellte ich mich vor, »und habe eine junge Frau bei mir ohne Angehörige, die vor wenigen Tagen auch noch ihr Kind verloren hat. Bitte gewährt diesem armen Geschöpf im Namen Jesu Christi den Schutz eurer Mauern. Der Herr wird euch dafür belohnen«, schloss ich demütig.

Das Tor weitete sich plötzlich, und die Schwester trat vor, um uns näher zu betrachten.

Wir müssen einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht haben, ich in meinem verdreckten, abgenutzten Gewand, einen kräftigen Gestank von Schweiß und Schmutz verbreitend, und Pilar in ihren nicht zu beschreibenden dreckigen Lumpen.

»Woher kommt ihr, Bruder?«, fragte die Karmelitin sichtlich beeindruckt.

»Aus den Bergen, von Cuenca«, erwiderte ich.

»Du gütiger Herr im Himmel!«, stieß sie hervor und bekreuzigte sich mehrmals. »Habt ihr etwa die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt?«

Ich nickte.

»Komm herein, Kind«, sagte sie und umschlang Pilars Schultern, während sie sie hineinführte. Das schwere Tor ging fast geräuschlos hinter ihnen zu.

Ich blieb noch einige Augenblicke davor stehen, während ich mit meiner Erschöpfung kämpfte und mühevoll versuchte, die Gedanken zu ordnen. Schließlich drehte ich mich schwankend um und stolperte in eine Richtung, die ich von früher her gut kannte.

Zu meiner großen Schande muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich trotz fühlbarer körperlicher Erschöpfung zunehmend leichten Schrittes auf den Konvent unserer Gesellschaft zulief. Obwohl noch immer der Schatten ihres toten kleinen Sohnes auf mir lastete, gelang es mir nur mit wenig Geschick, die Freude darüber, dass ich Pilar heil nach Valencia gebracht hatte, zu unterdrücken.