Märchenhaft - Elisabeth

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Mittwoch, 13.06.

Am Mittwochabend sahen sie sich nur kurz. Die Vorstandssitzung hatte sehr lang gedauert und Elisabeth war stehend k. o. von der Arbeit zu ihm gefahren. Moritz hatte sie fürsorglicherweise nach Hause geschickt. Er hätte sie zwar gern bei sich gehabt, aber er sah ein, dass es keinen Sinn hatte. Sie versprach, am nächsten Morgen schon früh da zu sein.

Donnerstag, 14.06.

Elisabeth hielt Wort. Es war kurz nach acht, als sie vor der Tür des Patientenzimmers stand und gerade klopfen wollte. Sie wurde jedoch sofort wieder von der Schwester zurückgepfiffen.

»Hey Sie, was machen Sie da?«

Elisabeth drehte sich um und sah in das grantige Gesicht einer hübschen, jungen Frau, die laut Namensschild Schwester Julia war.

»Entschuldigen Sie bitte, ich möchte meinen Freund besuchen.« Eigentlich war es ihr zuwider, jetzt noch nett zu bleiben, aber die Schwestern saßen im Zweifelsfall am längeren Hebel. Schwester Julia sah sie von oben bis unten abschätzig an. »Ach so. Ihren ›Freund‹. Natürlich.«

Elisabeth sah ihr mit festem Blick in die Augen und zischte sie an: »Ich möchte jetzt gern zu Herrn Fürst.«

»Und ich möchte, dass Sie jetzt gehen«, flötete Julia. Sie hatte strikte Anweisung, niemanden zu ihm vorzulassen, den sie nicht kannte. Und diese Frau kannte sie definitiv nicht. Freundin von Moritz Fürst? Dass sie nicht lachte.

Elisabeth sah sich um. Von den Schwestern, die sie bisher getroffen hatte, war keine anwesend, auch die Ärztin vom Vorabend war nirgends zu sehen. Julia ergriff wieder das Wort. »Wenn ich dann bitten dürfte?«

»Nein, dürfen Sie nicht.« Elisabeth reichte es. »Ich werde nicht gehen.«

»Dann hole ich den Sicherheitsdienst.« Julia zückte ihr Telefon aus der Tasche. In diesem Moment ging die Tür zu Moritz’ Zimmer auf und Elisabeth und Julia drehten sich zu ihm.

»Was ist denn hier los?« Moritz hatte die erregten Stimmen auf dem Flur vernommen und wunderte sich, warum Elisabeth und die Schwester sich so grimmig anstarrten.

»Die Dame hier hat behauptet, Ihre Freundin zu sein, und weigert sich, das Haus zu verlassen.«

Moritz grinste. Schwester Julia war kurz vorher bei ihm im Zimmer gewesen, um ihm die Schmerzmittel zu geben. Da war sie noch ganz charmant und handzahm gewesen. Elisabeth forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, etwas zu sagen. Stattdessen näherte er sich ihr, schloss sie in den Arm, ließ sie hintenüberkippen und küsste sie zärtlich, innig. Er richtete sie wieder auf, sah die Schwester an, die vor Schreck fast das Telefon fallengelassen hatte, und entgegnete ihr trocken: »Zumindest küsst sie wie meine Freundin. Sie sieht auch so aus. Ich behaupte mal, dass sie es ist ...«

Elisabeth war ebenfalls fassungslos, aber bis ins Mark gerührt von seiner Handlung und biss sich auf die Unterlippe. Moritz nahm ihre Hand und begleitete sie auf das Zimmer. Als die Tür ins Schloss gefallen war, zog er sie zu sich, küsste sie wesentlich sanfter und sah sie an. »Guten Morgen, Liebes.« Elisabeth schaute ihn erleichtert an. »Guten Morgen ...« Sie gab ihm einen Kuss auf die Nasenspitze. »Wenn ich geahnt hätte, dass ich erst an Smaug vorbei muss, hätte ich einen Schwarzen Pfeil eingepackt ...«

Moritz schenkte ihr ein breites Lächeln. »Du bist so süß ... Und noch viel süßer, wenn du eifersüchtig bist ...«

»Spiel ruhig mit mir, Moritz. Du wirst schon sehen, was du davon hast«, kicherte sie. Aus ihrer Tasche nahm sie die Prospekte ihres Autohändlers und legte sie auf den Tisch. Moritz streckte neugierig den Kopf vor und begann, darin zu blättern.

»Männer und ihre Spielzeuge ...«, seufzte Elisabeth gespielt theatralisch. Moritz wandte sich ihr zu und wickelte eine Locke um seinen Finger. »An dir darf ich ja hier leider nicht so rumspielen, wie ich gern würde ...« Sein reumütiger Blick erweichte Elisabeth. »Morgen wieder. Oder musst du länger bleiben?«

»Nein, um kurz vor sieben habe ich mit dem Chefarzt gesprochen. Heute früh habe ich schon nur noch eine halbe Tablette von dem Zeug bekommen, heute Abend wird es eine Viertel sein und wenn ich mich morgen früh schmerzfrei bewegen kann, sollte ich spätestens um neun gehen dürfen.«

»Hm. Um neun? Ich hatte gehofft, dich abholen zu können.« Zerknirscht dachte sie an die drei Termine am Freitagvormittag, die sie nicht hatte verschieben können.

»Ich weiß. Aber da wäre dann auch immer noch das Problem, dass ich dich momentan nicht mit zu mir nehmen kann ...« Moritz kam sich albern vor, aber es ging noch nicht anders. Ihrem Blick entnahm er, dass aber genau das ihr Problem war. »Hey, Kopf hoch. Ich verspreche dir, dass sich am Wochenende alles klärt.«

»Schon gut. Ich habe dir ja versprochen, Geduld zu haben.« Ein wenig Resignation schwang mit, aber ihr Blick verriet, dass sie besänftigt war. »Hey, was hältst du davon, wenn ich dir heute Abend den F-Type auf den Parkplatz unten stelle? Dann musst du keinen Leihwagen nehmen. Ich komm dann noch mal schnell für einen Gute-Nacht-Kuss hoch und bringe dir den Schlüssel und die Papiere.«

»Echt? Du willst mir dein Baby leihen?« Moritz war wirklich überrascht.

»Ja. Warum nicht? Außerdem ... der Händler hat mir gestern noch eine Mail geschickt. Momentan haben fast alle Modelle von Landrover 6 – 12 Wochen Lieferzeit und soweit ich weiß, bist du nicht der Typ, der von der Stange kauft ...« Mit einem schelmischen Grinsen küsste sie ihn auf die Wange.

»Und wie kommst du dann hier weg?«

»Ich nehme ausnahmsweise die Bahn. Von hier aus ist es zum Bahnhof zu Fuß nicht weit und für das letzte Stück zu mir nehme ich ein Taxi. Kein Ding.«

»Okay ... Und du hast wirklich keinen Stress damit?«

»Nein, wirklich nicht, ich weiß ja, dass du den Wagen in dein Herz geschlossen hast ... Und auch wenn ich kaum glauben kann, dass ich das jetzt sage, aber ... Ich vertraue dir.«

Moritz zog sie an sich heran. »Danke ...« Als er sie gerade wieder küssen wollte, ging erneut die Tür auf und Schwester Julia kam mit pikiertem Blick herein. Elisabeth versuchte, möglichst neutral zu bleiben und biss sich auf die Zunge, als sie Moritz anflirtete und ähnlich liebevoll wie Schwester Sandra am Dienstag seinen Blutdruck maß.

Julia hatte gerade die Tür geschlossen, als Elisabeth laut hörbar ausatmete. »Puuuuh, sollte ich jemals ins Krankenhaus müssen, dann sorg bitte dafür, dass ich nicht hier lande ...«

Moritz lachte. »Eschberg hat zwei Kliniken ... Du solltest es in deinem Notfallausweis auf dem Handy vermerken.«

»Du bist schon wieder ziemlich frech ... So schlecht kann es dir gar nicht gehen ...« Sie strich ganz sanft über seine Blessur am linken Jochbein.

»Autsch ...« Gespielt verletzt blickte er sie an.

»Schon klar ... Das tat natürlich weh.«

»Ich brauche jetzt ganz dringend einen Heilungskuss ...«

»Ich denke ja eher, dass du frische Luft brauchst, Liebling ...«

»Das auch. Aber es regnet und ich finde die Cafeteria ganz fürchterlich. Wir sind hier wohl angebunden ...« Eigentlich war es ihm sogar ganz recht, dass er nicht Gefahr lief, in diesem Zustand mit ihr gesehen und angesprochen zu werden. Es lag nicht an ihr, aber seine offensichtliche Prellung würde sicherlich Aufmerksamkeit erregen und bisher hatte es die Polizei geschafft, den Unfall nicht aufzubauschen. Moritz hatte wegen der hohen Geschwindigkeit eine Teilschuld angelastet bekommen, sie aber ohne weiteres akzeptiert. Mit dem LKW-Fahrer und der Spedition hatte er am Tag zuvor telefoniert, die Versicherungen würden es unter sich ausmachen und wenn es nach ihm ginge, würde so schnell niemand ein weiteres Wort darüber verlieren. Sein Anwalt hatte den Papierkram erledigt und nach einem kurzen Gespräch war klar, dass es zu keiner Anzeige kommen würde.

»Ich habe das Tablet dabei, wenn du magst, kannst du dein neues Auto auch online konfigurieren ...« Um seinen Spieltrieb zu wecken, wedelte sie ihm damit unter der Nase herum.

»Hm ... Das ist ein Angebot, das ich nur schwer abschlagen kann. Zeig mal her ...«

Die nächsten anderthalb Stunden verbrachten sie damit, Moritz ein neues Auto anzudichten. Es dauerte aber nur so lang, weil die Internetverbindung miserabel war, geschmackstechnisch waren sie sich in fast allen Punkten einig. Es war hilfreich, dass Elisabeth die Kataloge mitgebracht hatte, die Farbauswahl war darin wesentlich besser zu erkennen, als auf dem Bildschirm. Als sie fertig waren, schickte Elisabeth Moritz die Konfiguration per Mail, damit er zu Hause nicht wieder von vorn anfangen musste.

Zufrieden lehnte Moritz sich zurück. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

»Gern geschehen. Möchtest du noch etwas erledigen? Mails abrufen oder so? Ich könnte in der Zeit einen Kaffee holen, du musst nur den Browserverlauf löschen, wenn du fertig bist.«

»Du bist einfach märchenhaft. Womit habe ich dich verdient?« Das Funkeln in seinen Augen ließ ihr Herz schneller schlagen.

»Hm ... Das ist eine sehr gute Frage ...« Elisabeth kicherte. »Es könnte mit deiner charmanten Ader, deiner liebevollen Art, deinem Humor, deinen umwerfenden Küssen und dem süchtig machenden Sex mit dir zusammenhängen. Muss aber nicht.« Sie nahm ihre Tasche und warf ihm einen Luftkuss zu. »Bis gleich!«

Elisabeth ließ sich Zeit. Moritz war den vierten Tag ohne Handy und nur gestern Abend hatte sich Markus Bruckmann erbarmt, ihn kurz über sein Tablet ins Internet zu lassen. Moritz hatte ihr erzählt, dass sie sich nur um Minuten verpasst haben mussten.

Markus war ebenso müde wie sie gewesen, auch er hatte den ganzen Tag das Meeting verfolgt. Ihm steckten aber nicht die Sorgen und vielen Autobahnkilometer in den Knochen wie Elisabeth. Daher hatte er sich noch ein Stündchen Zeit für Moritz genommen. Bevor er ging, hatte er ihn noch ermahnt: »Moritz, wenn du einmal in deinem Leben Fingerspitzengefühl an den Tag legen solltest, dann, wenn du mit Elisabeth über dich sprichst.«

 

Die Worte klangen noch in seinem Ohr nach, als Moritz tatsächlich den Browserverlauf der letzten Stunde löschte.

Er hatte seine privaten E-Mails abgerufen, ein paar Dinge geklärt und sich dann noch einmal den Wagen angeschaut, den er am nächsten Tag bestellen wollte. Aus reinem Übermut fotografierte er sich mit einem so breiten Grinsen, dass sein Jochbein schmerzte. Er überprüfte das Bild und schmunzelte, rief die Einstellungen auf und klickte auf »Als Hintergrundbild verwenden«.

»Kaffee und Cookies, für das Krümelmonster ...« Elisabeth war zurück und offensichtlich hatte sie in der Cafeteria nichts Passendes gefunden. Die Thermobecher und Kekse waren von Starbucks, eine Viertelstunde zu Fuß vom Krankenhaus entfernt.

»Du bist süß. Danke ...« Er nahm ihr die Becher ab und küsste sie. »Ich hab mich schon gefragt, wo du bleibst ...«

»Keine Angst, ich laufe dir nicht weg ... Ich hoffe nur, dass der Kaffee noch heiß ist.«

Sie probierten. »Ja, ist er. Habe mir gerade prächtig die Zunge verbrannt.«

»Komm her, ich küss es weg ...«

Lange saßen sie einfach nur da, tranken ihren Kaffee und Moritz hielt Elisabeth im Arm und kraulte ihren Nacken, spielte mit ihren Haaren und war froh, dass sie da war.

»Darf ich dich mal was fragen?« Er klang vorsichtig.

Elisabeth spitzte die Ohren. »Ja ... immer ...«

»Ich habe Markus gestern kurz auf uns angesprochen und ihn gefragt, ob er was geahnt hat, was wir beide nie gesehen haben.«

»Du meinst, dass wir beide eigentlich schon immer füreinander bestimmt waren, alle haben es gesehen, nur wir nicht? Moritz, wir sind nicht im Märchen.«

»Nein? Ich finde dich märchenhaft ...«

»Nur, weil ich einen Schuhtick habe, bin ich noch lange nicht Cinderella. Und nur, weil du in deinen schwarzen Snowboardsachen aussiehst wie Edward von Wales in ›Ritter aus Leidenschaft‹, macht dich das nicht zum Prinzen. Also; was hat Dr. Bruckmann gesagt?«

»Erstens sehe ich eher aus wie der Böse, Graf Adhemar. Edward von Wales trägt im Film nämlich kaum schwarz.«

»Okay, Mr. 131. Weiter«, kicherte sie.

»Also, zweitens hat Markus gesagt, dass es im Nachhinein logisch erscheint, aber er hätte es nie für möglich gehalten. Worauf ich aber eigentlich hinauswollte, ist, was er mir dann erzählt hat. Es tat ihm später zwar leid, aber irgendwie kam es in der Unterhaltung so aus.«

Er druckste herum.

»Was denn? Moritz, bitte ...«

»Er hat mir erzählt, dass du irgendwann mal mit einem blauen Auge in die Firma kamst und man es von Nahem unter dem Make-up gesehen hat. Markus meinte, das sei zu einer Zeit gewesen, als du Stress mit Jan hattest und er schämt sich dafür, nicht gefragt zu haben, ob er dir hätte helfen können.« Moritz wurde immer betretener, er mochte es nicht, Plaudereien aus dem Nähkästchen aufzuwärmen.

»Hm. Und wo bitte ist der Zusammenhang zu dir und mir?« Elisabeth dachte nur ungern an das Veilchen.

»Wir kamen im Gespräch darauf, dass du für mich etwas Besonderes bist und Markus sagte, ich solle dir nicht wehtun. Ich habe dann im Spaß gesagt, dass ich ja einen Boxsack habe. Daraufhin hat er mir das mit dem blauen Auge erzählt, nicht weil er meinte, ich würde dir körperlich etwas antun, sondern eher, um mich zu sensibilisieren. Markus hatte halt den Verdacht, dass Jan dich geschlagen haben könnte und ich saß dann wie vom Donner gerührt da und wusste nicht, ob ich dich darauf ansprechen sollte oder nicht. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen.« Hilfesuchend blickte er sie an. Es tat ihm leid, dass er es angesprochen hatte, aber er konnte es nicht für sich behalten.

»Puuuh ... Okay. Moritz, ich denke nicht gern daran zurück. Das Ganze hat eine ellenlange Vorgeschichte ...«

»Wenn du nicht magst, dann musst du nicht. Zeit haben wir aber mehr als genug.« Mit einem Kuss verschloss er ihre Lippen, er wollte sie nicht aufwühlen. Elisabeths Augen füllten sich mit Tränen und sie schmiegte sich an ihn. »Schon gut. Irgendwann muss es ja mal gesagt werden ...«

Unerwartet öffnete sich die Tür und Schwester Julia fragte Moritz, ob er etwas essen wollte. Zerknirscht antwortete er: »Nein, Danke!«, und sah Elisabeth an. »Ich kenne einen guten Pizzaservice, wenn du magst, rufen wir den gleich an. Ich krieg das Essen hier echt nicht mehr runter ...«

»Gute Idee. Orderst du noch was zu trinken mit? Ich brauch dringend Koffein in Form von Gummibärchensaft.«

»Immer noch auf Red Bull?« Moritz lachte. In der Firma war es ein offenes Geheimnis, dass sie beinahe süchtig danach war.

»Ja. Ich gestehe ...«, blinzelte sie ironisch. »Sollen wir direkt bestellen? Oder magst du noch warten?«

»Es ist gerade kurz nach eins. Wir können ja für zwei Uhr die Lieferung bestellen? Die haben eine Internetseite, da können wir die Order online aufgeben.«

»Okay, dann lass uns mal sehen.«

Nach der Bestellung zog Moritz Elisabeths Beine auf seinen Schoss und lehnte seinen Kopf an ihren. »Ich will mit dem Thema nicht nerven, aber bevor Smaug uns unterbrochen hat, waren wir woanders stehen geblieben ...« »Schon gut ... Du nervst nicht. Ich bin ja eigentlich froh, dass wir darüber reden ... Ich habe für Jan viel aufgegeben. Das hatte seine Gründe; er hat damals sein ganzes Leben umgekrempelt, um mit mir zusammen zu sein. Am Anfang. Als wir dann schon länger ein Paar waren, hatte ich hin und wieder Schuldgefühle, wenn irgendwas nicht richtig lief. Aber anstatt darüber zu reden, habe ich es in mich hineingefressen und er hat es ausgenutzt. Wir haben dann geheiratet, weil es uns irgendwie logisch erschien, nach so einer langen Zeit. Ich habe mir immer Kinder gewünscht und weil ich ja mit ihm zusammen war, hatte ich keinen Zweifel, dass er der Vater dazu sein musste. Bei ECG würden wir das sicherlich als ›betriebsblind‹ bezeichnen ... Wir sind auch zu dem Haus irgendwie nur wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Eigentlich wollten wir nie bauen, aber aus seinem Kollegenkreis ließ sich gerade jemand scheiden und konnte die Verträge nicht einhalten. Weil uns aber die Lage und das Konzept gefielen, sind wir quasi ›eingesprungen‹. Unser ganzes Leben war in der Retrospektive eigentlich eine reine Verkettung von glücklichen, seltsamen, schönen und unglücklichen Umständen.« Elisabeth hielt einen Moment inne. »Weißt du eigentlich, dass ich das nie so klar gesehen habe, wie jetzt?«

»Hm. Manchmal muss man Dinge laut aussprechen, um sie zu begreifen.« Moritz streichelte über ihren Bauch und ihre Beine, rein aus Zuneigung, nicht um etwas zu forcieren.

Elisabeth fasste es ebenso auf und erzählte weiter. »Nun ja. So ein Hausbau ist irgendwie eine Bewährungsprobe ... Bei uns ging es damit erst richtig den Bach runter. Wir haben uns über jede Kleinigkeit gestritten, sind mit Nichts und nie auf einen Nenner gekommen.

Um das Ganze abzukürzen haben wir Lose gezogen, wer über welchen Raum bestimmen durfte. Boden, Wände, Farben, Lampen, Möbel. Lichtschalter. Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass man über einen Lichtschalter bis so kurz vor den Scheidungsrichter kommt ...«

Sie musste lachen. Obwohl es ihr Herz eigentlich tieftraurig stimmte. »Wir haben uns dann irgendwie durchgerungen, den Geschmack des anderen zu akzeptieren. Hat ja auch jeder selber bezahlt. Weißt du, wir haben beide immer gut verdient, das gekauft, woran wir Spaß hatten. Aber immer irgendwie jeder für sich ... Als Jan verunglückt ist, war das total seltsam. Ich wollte das Geld nicht aus den Lebensversicherungen, von Jans Firma und aus den Patenten. Bis Marie und Isabelle mir in den Hintern getreten haben und meinten, ich solle es in ›eine häusliche Wiedergutmachung‹ investieren. Außerdem hat Jan in seinem letzten Willen ein paar Dinge verfügt beziehungsweise gewünscht ... So bin ich auch zu dem F-Type gekommen. Er hatte geschrieben: ›Erfülle dir deinen automobilen Traum‹. Ich habe ein bisschen Zeit gebraucht, es zu verstehen, aber eigentlich hat er es immer nur gut mit mir gemeint.« Vereinzelt kullerten ein paar Tränen über ihr Gesicht. Moritz küsste jede davon weg, hütete sich aber, sie zu unterbrechen oder anderweitig abzulenken.

»Aber noch mal zurück zu dem Tag, an dem ich mir das Veilchen eingefangen habe ... Du hattest die Firma ein paar Tage davor verlassen. Jan hatte mich abends von der Arbeit abgeholt, war Dr. Bruckmann über den Weg gelaufen und irgendwie konnten die beiden sich ja noch nie riechen. Deswegen war Jan auch beim Grillen damals nicht zu Hause ... Na ja, auf jeden Fall war Dr. Bruckmann in seinem Büro und Jan wartete bei mir auf mich. Er drängelte ein bisschen, weil wir eigentlich ins Kino wollten. Ich hatte aber ohnehin rasende Kopfschmerzen und ihm offenbart, dass ich nach Hause wollte. Jan war total sauer und hat mich angebrüllt, wir sind dann aber heimgefahren. Soooo, lange Geschichte, jetzt die Quintessenz; am Morgen danach war ich total in Hektik, mittags sollte ein wichtiges Gespräch zur Montana-Fusion stattfinden, abends hatte Dr. Bruckmann dann ein paar Leute zum Essen eingeladen. Ich hatte also meine Tasche in der Hand, Wechselkleidung für abends, Wechselschuhe, meinen Kaffeebecher für das Auto und er stand in aller Seelenruhe im Flur und blockierte meinen Weg. Ein Wort gab das andere. Jan hat mich angeschrien, dass ich ja auf Kino mit ihm keine Lust gehabt hätte, heute Abend hätte ich sicherlich keine ›Kopfschmerzen‹, wenn ich mit ›dem Doktor‹ essen ginge. Und überhaupt, das wäre sicher ein Candlelight-Dinner und kein Arbeitsessen ... Ich habe mich dann an ihm vorbeigedrängt und ihn ein hirnloses Arschloch geschimpft. Daraufhin hat er mich am Arm herumgerissen, weil er mir eigentlich etwas ins Gesicht brüllen wollte, aber ich habe den Halt verloren und bin gegen die Garderobe gestürzt. Daher das Veilchen. Im Prinzip war es seine Schuld, ja. Aber im Endeffekt ein Unfall.«

Sie atmete tief durch und lehnte sich bei Moritz an. »Wie du siehst, etwas komplizierter und nichts, was ich meinem Chef auf die Nase binde, wenn zehn Minuten später ein wichtiges Meeting anfängt.«

»Liebes ...« Moritz sah sie erschüttert an. »Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast. Nur jetzt schäme ich mich wegen meiner Geheimniskrämerei umso mehr ...«

»Weißt du, dadurch, dass ich jetzt selber in der Lage war, weiß ich, wie schwer das ist ... die richtigen Worte zu finden, keinen falschen Eindruck zu erwecken ... Ich vertraue dir. Du kriegst das hin, wann auch immer.«

»Danke ...«

Freitag, 15.06.

Moritz hatte ein schlechtes Gewissen. Irgendwann würde er es Elisabeth sagen müssen, es machte keinen Sinn, sie räumlich fernzuhalten. Er bestellte seinen Assistenten in sein Büro.

»Herr Schumacher, ich werde am Wochenende wahrscheinlich Besuch haben. Rein privater Natur, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich schätze Sie meinen damit: keine Störungen. Was warten kann, wird aufgeschoben, nur höchst dringende Anrufe durchstellen.«

»Korrekt. Ich hoffe, dass das auch den Anderen klar ist.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Das wäre dann alles.«

»Sehr gern.«

Daniel Schumacher war für seine 31 Jahre schon weit herumgekommen, einen Chef wie Moritz hatte er jedoch nie erlebt. Er sah ihn als brillanten Denker, der genau wusste, was er wollte und wie er es erreichen konnte, ein Analyst mit Hang zur Perfektion. Wenn es ihm nicht hin und wieder im Zwischenmenschlichen fehlen würde. Vier Mitarbeiter hatte er bereits entlassen, drei eingestellt und tat sich schwer damit, auch die letzte vakante Position zu besetzen. Er vertraute niemandem, höchstens seinem alten Herrn, und selbst über dieses Verhältnis wurde viel gemunkelt. Nichts, was ihn interessierte, aber aus Moritz wurde er nicht schlau. Schulterzuckend ging er an seinen Schreibtisch in das Büro nebenan und bereitete die Unterlagen vor, nach denen Moritz verlangt hatte. Ein wenig neugierig war er dennoch auf den privaten Besuch seines Chefs, den er bis dahin als sehr verschlossen und einzelgängerisch erlebt hatte. Ein Arbeitstier, niemand, der ein Privatleben hätte.

Moritz lehnte sich zurück, atmete tief durch und fasste sich ein Herz Elisabeth anzurufen.

»Moritz, hallo ...« Elisabeth war irritiert über den Anruf, aber froh zu sehen, dass er offenbar mit ihr sprechen wollte. Sie war immer noch ein wenig beleidigt darüber, dass er sie am Abend zuvor so abgekanzelt hatte. Als sie ihm die Schlüssel brachte, war er kurz angebunden und hatte sie schnell wieder hinausbegleitet. Jedoch ohne sie zum Abschied zu küssen oder ihr noch eine gute Nacht zu wünschen.

 

»Hi ... Störe ich?« Er klang vorsichtig, hatte gemerkt, dass er sich tags zuvor im Ton vergriffen hatte. Ihm war kurz vor ihrem Erscheinen klar geworden, dass es kein Zurück mehr gab. Nicht, dass er im tiefsten Innern seines Herzens nicht endlich aus diesem Korsett ausbrechen wollte, aber ihn hatte plötzlich vollends die Angst übermannt, Elisabeth zu verlieren.

»Ich bin auf der Arbeit, wollte aber gleich Feierabend machen. Also, um deine Frage zu beantworten: Nein, du störst nicht.«

»Kann ich dich sehen?«

Elisabeth lachte. »Entweder bist du näher bei mir als ich denke oder wir sollten FaceTime einschalten. Sonst wird das nichts mit dem Sehen ...«

»Ich liebe deine Haarspaltereien.«

»Und ich deine Steilvorlagen ...«

»Ich würde gern mein Verhalten wiedergutmachen.«

»Welches genau? Deine Flirts mit den Krankenschwestern in meinem Beisein, dass du dich gestern Abend wie ein Idiot verhalten hast oder dass du dich erst jetzt meldest?«

»Okay, okay. Ich hab’s kapiert. Können wir uns heute Nachmittag im Café Daily in Eschberg treffen?«

»Können wir.« Sie betonte das »Können«, Moritz sollte merken, dass sie sich zurückgewiesen fühlte.

»Ist es vermessen dich zu bitten, Schlafzeug mitzubringen?«

Moritz fragte sich, was er da gerade gesagt hatte. Jetzt gab es erst recht kein Zurück mehr und das Eis, auf dem er sich bewegte, wurde zusehends dünner.

Elisabeth schwieg einen Moment, außer einem »Hmmmm« ließ sie ihn nicht viel wissen. »Natürlich darfst du mich bitten. Ob ich es dann brauche, mache ich jetzt mal davon abhängig, wie lieb du bist.«

Das Schmunzeln konnte Moritz bis in sein Büro hören.

»Ich werde seeeeehr lieb sein. Versprochen.«

»Oh, Hase, versprich nichts, was du nicht halten kannst ...«

»Hase? Ernsthaft? Du nennst mich Hase?«

»Von mir aus auch Häschen ...« Elisabeth kugelte sich vor Lachen. Dr. Bruckmann steckte den Kopf zu ihrer Bürotür hinein, zwinkerte und rief ihr ein »Schönes Wochenende!« zu.

»Ihnen auch, danke!«

»Grüßen Sie Moritz!«

»Werde ich gern tun.«

*

Dr. Markus Bruckmann verließ guter Laune das Büro und dachte auf dem Weg zum Parkplatz über seinen alten Studienfreund Moritz nach. Eigentlich hätte er es eher sehen müssen. So wie Moritz und Elisabeth sich immer angegangen waren, diese Leidenschaft, mit der sie sich verbal duelliert hatten. Er hatte sie immer wieder auf Moritz angesetzt, da sie aus ihm das Optimum herauszukitzeln vermochte. War zwischen den beiden schon immer latent, subtil eine Anziehungskraft gewesen?

Elisabeths Mann hatte er nie leiden können, er war arrogant und hartherzig, kein Wunder, dass sie sich so oft gestritten hatten. Und Moritz? Den verstand, wer konnte, Markus Bruckmann wurde nicht immer schlau aus seinem Freund. Als Moritz in der Engwald Consulting Group angefangen hatte, sollte auf keinen Fall sein familiärer Hintergrund bekannt werden, nur eine Handvoll Menschen war eingeweiht. Seine Vorgeschichte wurde quasi gelöscht, Markus verbürgte sich für ihn. Enttäuscht hatte Moritz ihn nicht, im Gegenteil. Die Arbeit mit ihm war großartig, auch wenn die Zahlen nicht immer rosig waren. Dass Moritz für sein Team nahezu unersetzlich war, hatte sich leider besonders in dem Moment herausgestellt, als es nach seiner Kündigung mit der Abteilung steil bergab ging. Nach außen hin hatten er und Moritz immer eine gewisse Distanz vorgelebt, die hinter den Kulissen einer Art Brüderlichkeit wich. Moritz mochte diese Scharade, Markus hatte mit der Zeit ebenfalls seinen Gefallen daran gefunden.

Was ihm aber nicht in den Sinn wollte, war, wann und wie Moritz Elisabeth in den Kreis des Vertrauens holen wollte. Moritz bevorzugte bei solchen Dingen eher den Holzhammer, statt Präzisionswerkzeug. Dass er damit alles zerstören könnte, hatte er ihm vorsichtshalber noch einmal eingebläut, als er ihn im Krankenhaus besuchte. Ob es bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel, war fraglich.

Im Radio lief eines seiner Lieblingslieder, Iron Maiden mit Doctor Doctor. Markus Bruckmann sang lauthals mit und fuhr entspannt dem Wochenende entgegen. Nicht mein Zirkus, nicht meine Affen.

*

»Schöne Grüße von Dr. Bruckmann.«

»Hab ich gehört. Danke ... Duuuu ...«

»Ja!? Bitte ...«

»Es tut mir leid, dass ich so garstig war.«

»Na gut. Entschuldigung akzeptiert. Wann sollen wir uns treffen?«

»Jetzt ist es drei Uhr ... Hm ... Eine Stunde muss ich noch arbeiten ... Gegen fünf?«

»Fünf klingt gut. Hast du gegessen?«

»Ja, aber für einen Snack bin ich immer zu haben.«

»Okay. Dann bis gleich.«

»Krieg ich einen Kuss?«

»Muss ich mir schwer überlegen ... Ich habe ja gestern auch keinen bekommen.«

»Ich gelobe Besserung.« Moritz warf ihr einen Kuss zu, den Elisabeth erwiderte.

»Bis nachher ... Ich freu mich auf dich.«

»Und ich mich erst ...« Moritz legte auf und schob das Handy auf den Schreibtisch. Es war besser gelaufen, als angenommen. Zu Recht nahm sie ihm noch übel, dass er sie zurückgewiesen hatte, aber er würde heute besonders nett zu ihr sein, um es auszubügeln. Moritz wusste, dass er Elisabeth noch viele Antworten schuldig war, über seinen Schatten würde springen müssen und dass er sie eventuell nie wiedersehen würde, wenn sie die Wahrheit erfuhr.

Elisabeth sah erneut auf ihr Handgelenk, 17.16 Uhr. Moritz hatte sich nicht mehr gemeldet. Sie trank ihren Kaffee und sah aus dem Fenster. Auf dem kleinen Platz mit dem Brunnen herrschte ein geschäftiges Treiben, die Sonne schien und man merkte den Passanten die Wochenendstimmung an. Nach der Arbeit hatte sie sich umgezogen, war vom Business-Kostüm in Jeans und Shirt geschlüpft, hatte eine kleine Tasche gepackt und war nach Eschberg gefahren. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, heute eventuell bei Moritz zu übernachten. Zum einen war sie, milde ausgedrückt, angesäuert darüber, dass er sie warten ließ, zum anderen wollte sie gern erst die versprochenen Antworten. Es war inzwischen 17.33 Uhr und ihre Geduld erschöpft. Sie sah auf ihr Handy.

👤 Bin in 15 Minuten da. Sorry. Moritz

Na, vielen Dank, dachte sie und stellte sich die Frage, warum er eine Uhrzeit ausmachte, die er eh nicht einhalten würde. Sie hatte sich nahezu überschlagen, von der Arbeit nach Hause und hierher zu kommen.

Es dauerte dann bis 18.06 Uhr, bis sie das vertraute Motorgeräusch des V8 ihres Jaguars hörte. Moritz parkte relativ souverän ein und betrat gehetzt das Café. Er fand Elisabeth am selben Tisch wie in der Woche zuvor. Ihrem Blick entnahm er, dass er besser eine gute Entschuldigung beibrachte. Ihm fiel nur leider keine ein. Es war wieder einmal die Arbeit, die ihn verhindert hatte.

»Ich hab ja fast noch eher mit Sebastian gerechnet, als mit dir ...« Ihre Augen funkelten zornig und Moritz konnte nicht genau sagen, ob sie es ernst meinte oder ihr hoffentlich gleich ein Lächeln über die Lippen kam.

»Verzeih mir. Ich wurde aufgehalten. Ich habe erst viel zu spät gemerkt, dass ich schon längst hätte unterwegs sein müssen.« Unterwürfig sah er sie an. Es tat ihm wirklich leid. Elisabeth schien das zu merken. Und da war es endlich, das Schmunzeln.

»Na gut. Ego te absolvo.« Sie ließ ihn näher an sich herankommen und küsste ihn sanft. Moritz fiel mehr als ein Stein vom Herzen und im Überschwang der Gefühle hob er sie an und wirbelte sie ein kleines Stück herum.

»Soooo stürmisch?« Elisabeth lachte.

»Ich bin unsagbar froh, dass du gewartet hast. Es tut mir wahnsinnig leid. Diesmal sollte aber bis Montagmorgen wirklich Funkstille sein. Vorausgesetzt, du willst noch ...« Er lehnte seine Stirn an ihre und sah ihr in die Augen.