Krallenspur

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»Celia? Hörst du mich? Bitte sag doch was!«

Verwirrt starrte ich auf das weiße Gesicht, während ich mir den Kopf zerbrach, woher ich es kannte und warum es direkt über mir schwebte.

Kathy? … Ja. Langsam begriff ich. Es war meine Freundin Kathy Marshall, die sich mit besorgtem Gesichtsausdruck über mich beugte, und dann wurde mir auch klar, dass das taube Gefühl meiner linken Hand von ihrer Hand kam, die meine beinahe zerquetschte.

»Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Celia. Die Schulschwester wird gleich hier sein.«

Ich runzelte die Stirn. Aber das war nicht Kathys Stimme. Was zum Teufel ging hier bloß vor?

Während ich mich noch bemühte, das Rätsel zu lösen, ließ der Druck an meiner Hand nach und das ängstliche Gesicht meiner Freundin, das noch blasser als gewöhnlich war, verschwand aus meinem Blickfeld. Dafür tauchte die nicht minder beunruhigte Miene meiner Lehrerin auf und dann bemerkte ich auch die vielen anderen Gesichter um mich herum. Ich wurde von allen Seiten neugierig beäugt und hörte aufgeregtes Getuschel.

Oh Shit! Entsetzt schloss ich die Augen, in der Hoffnung, dies alles wäre nur ein ganz übler Traum. Doch als ich sie wieder öffnete, begriff ich, dass ich mich tatsächlich auf dem Fußboden des Klassenzimmers befand.

»Ich bin okay«, versuchte ich zu sagen, um der ganzen Situation etwas von ihrer Peinlichkeit zu nehmen. Doch statt eines sinnvollen Satzes brachte ich nur ein unverständliches Krächzen zustande. Kein Wunder. Es fühlte sich an, als hätte ich Sand geschluckt.

Aber als ob jemand meine Gedanken gelesen hätte, tauchte unvermittelt eine blaue Plastikflasche vor meiner Nase auf.

»Sie sollte vielleicht etwas trinken.«

Die Stimme gehörte weder Kathy noch Mrs. B. Sie klang unglaublich angenehm und war eindeutig männlich.

Ich hätte dem Typen mit der sexy Stimme gerne mitgeteilt, wie angetan ich von seinem Vorschlag war, aber wieder kam nur das scheußliche Geräusch aus meinem Mund. Und überhaupt fühlte ich mich grauenhaft. Alles tat mir weh und ich war unfähig, mich zu bewegen. Hoffentlich hatte ich mir nichts gebrochen.

»Ich weiß nicht. Vielleicht sollten wir …« Meine Lehrerin zögerte, doch zum Glück war Kathy wieder zur Stelle. Wie eine gelernte Krankenschwester stützte sie meinen Kopf und hielt mir die Flasche an den Mund, ohne Mrs. Brewsters Zustimmung abzuwarten.

Das Zeug schmeckte fantastisch. Leicht süßlich, auch wenn ich nicht sagen konnte, wonach. Egal, Hauptsache das pelzige Gefühl in meinem Mund verschwand endlich. Leider hielt mein Glückgefühl nicht lange an. Viel zu schnell war die Flasche leer, aber immerhin fühlte ich mich etwas besser. Nein, eigentlich fühlte ich mich sogar sehr viel besser. »Was ist denn passiert?« Selbst meine Stimme klang jetzt beinahe wieder normal und davon ermutigt, setzte ich mich auf, ohne Mrs. Brewsters Protest zu beachten.

Etwas schwindlig, aber sonst ganz okay, analysierte ich für mich meinen Zustand.

»Du bist einfach zur Seite gekippt«, klärte Kathy mich auf. Sie wirkte noch immer verstört. »Und danach warst du wie tot. Du hattest nicht mal mehr Puls und dann hast du plötzlich geröchelt und …«

»Hören Sie auf, so einen Unfug zu reden, Kathy!«, fiel ihr Mrs. Brewster scharf ins Wort. »Celia war nur kurz ohnmächtig. Mehr nicht. Und warum das passiert ist, wird die Schwester klären.«

Wie aufs Stichwort erschien Schulschwester Kendall und übernahm augenblicklich das Kommando. Sie scheuchte alle schaulustigen Schüler bis auf Kathy aus dem Raum. Mrs. Brewster hatte sich ebenfalls nicht gerührt und sah zu, wie Mrs. Kendall meine Hand nahm, um meinen Puls zu überprüfen.

»Na, fühlt sich doch recht gut an. Sie sind Celia McCall, nicht wahr?« Sie lächelte mich freundlich an und während ich nickte, ertönte der Schulgong.

Mrs. Brewster räusperte sich. »Ähm, ich habe jetzt gleich nebenan Unterricht. Brauchen Sie mich hier noch, Mrs. Kendall?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Gehen Sie nur. Ich denke, ich nehme die junge Dame erst mal mit und dann sehen wir weiter. Können Sie aufstehen und gehen, Kindchen?«

Seitdem ich getrunken hatte, ging es mir gut, auch wenn das Schwächegefühl noch nicht ganz verschwunden war, aber ich nickte zuversichtlich. Kathy half mir beim Aufstehen, nahm meinen Rucksack, und während wir hinter der Schwester den leeren Flur entlanggingen, beschäftigte mich, wer wohl die geniale Idee mit der Flasche gehabt hatte. Ehe ich Kathy jedoch danach fragen konnte, hatten wir das Krankenzimmer erreicht.

»Aber ich fühle mich wirklich schon wieder super«, protestierte ich, als Mrs. Kendall mich auf die Krankenliege dirigierte und eine dünne Wolldecke über mir ausbreitete.

Sie ignorierte meinen Einwand und sagte zu Kathy mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: »Sie können vor der Mittagspause wiederkommen und sehen, wie es Ihrer Freundin geht.«

Widerstand war bei Schwester Kendall offenbar zwecklos, also nickte Kathy nur eingeschüchtert und schnappte sich ihre Tasche. Nachdem sie sich getrollt hatte, »genoss« ich wieder die volle Aufmerksamkeit der Krankenschwester.

»Hatten Sie früher schon einmal so einen Schwächeanfall?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Haben Sie heute schon etwas gegessen?«, forschte sie weiter und wirkte dabei, als würde sie nicht eher aufgeben, bis sie den Grund für meine Ohnmacht ergründet hatte. Also entschied ich mich für eine kleine Notlüge und behauptete einfach, mein Frühstück ausnahmsweise vergessen zu haben.

Beruhigt, die Ursache so schnell gefunden zu haben, verschwand sie im Nebenzimmer. Ich hörte ein Klappern und kurz darauf erschien sie mit einem Käsesandwich und einer Tasse.

Nachdem ich unter ihren wachsamen Blicken die Hälfte des trockenen Sandwiches heruntergewürgt und etwas an der heißen Flüssigkeit genippt hatte, die ich als Pfefferminztee identifizieren konnte, ließ sie mich endlich allein. Allerdings nicht, ohne kopfschüttelnd etwas von magersüchtigen Teenagern und unverantwortlichem Verhalten vor sich hin zu murmeln.

Auf einmal merkte ich, dass ich doch noch nicht so fit war. Vielleicht war es ganz gut, dass ich mich ausruhen konnte. Allein und ohne noch mehr nervige Fragen.

Während ich mit geschlossenen Augen auf der Krankenliege vor mich hin döste, dachte ich darüber nach, was überhaupt passiert war.

Der Neue. Ich hatte ihn beobachtet und dann hatte er sich ganz plötzlich umgedreht. Erschrocken riss ich die Augen auf, als mir der »Stromschlag« wieder einfiel. Ich wusste genau, wie sich so etwas anfühlte, denn ich hatte schon mal einen leichten von einer kaputten Lampe bekommen. Aber das heute, das war sehr viel intensiver gewesen. Und dann diese seltsame Welle, die Kälte und die furchtbaren anderen Dinge. Ich schauderte. Das alles hatte sich so schrecklich echt angefühlt.

Und ich erinnerte mich an noch etwas - den Blick des Neuen. Der Typ hatte wütend ausgesehen. Aber weshalb? Weil ich ihn angestarrt hatte? Nein. Das konnte nicht der Grund gewesen sein. Schließlich war es doch normal, am ersten Tag in einer neuen Schule Aufmerksamkeit zu erregen. Konnte ich ihn sonst irgendwie verärgert haben? Wieder lautete meine Antwort nein. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen, also wie hätte ich?

Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Genauso wenig wie zu glauben, dass ich nur durch seinen Blick ohnmächtig geworden war. Schon es so zu formulieren, klang idiotisch. Nein, es musste eine ganz einfache und logische Erklärung für das Ganze geben.

Genau, das musste es sein! Er hatte bestimmt nur an etwas Unangenehmes gedacht und dabei zufällig in meine Richtung gesehen. Und ich? Ich hatte vergessen zu atmen vor Schreck, weil ich von ihm ertappt worden war. Tja, und wenn man keine Luft bekam, konnte man auch ohnmächtig werden. Das war alles. Aus! Ende! Das nächste Mal, wenn ich ihn sah, würde ich bestimmt nicht noch mal umfallen und keine gruseligen Sachen erleben.

Doch beim Gedanken daran, ihm wieder zu begegnen, verspürte ich ein eigenartiges Kribbeln in meinem Magen.

»… und dann hat’s plötzlich Rums gemacht und sie lag auf dem Boden.«

Kathy erzählte die Story von meinem Zusammenbruch gefühlt schon zum zehnten Mal, während ich genervt in meinen Nudeln herumstocherte. Inzwischen waren sie ganz kalt und schmeckten überhaupt nicht mehr.

»Können wir vielleicht mal das Thema wechseln.«

Abby war ein Schatz. Natürlich wusste sie, dass ich nichts mehr hasste, als im Mittelpunkt zu stehen, und mit der bescheuerten Ohnmachtsaktion war es mir gelungen, das Thema des ersten Schultages zu werden.

Vielleicht hätte ich Schwester Kendalls Angebot doch annehmen und lieber nach Hause fahren sollen.

»Oh ja genau, lasst uns lieber über den Neuen reden. Der ist doch der Oberhammer, oder nicht?«, säuselte Kathy begeistert. »Sein Name ist übrigens Cassian Beckett. Hat vorher in Kalifornien gewohnt.«

Kalifornien also. Meine Fantasie verselbstständigte sich sofort. Der Typ sauste auf einem Surfbrett über die Wellen und einzelne goldene Strähnen seiner braunen Haare leuchteten in der untergehenden Abendsonne …

»Cassian? Ist das nicht irgend so ein komischer Heiliger?«, witzelte Tyler und holte mich aus meiner kitschigen Traumwelt wieder zurück in die Realität der Schulcafeteria und meiner kalten Nudeln.

»Na den Eindruck eines Heiligen macht er auf mich aber nicht.« Sandra lächelte wissend.

»Stimmt. Dazu ist er viel zu sexy«, seufzte Kathy verzückt, während Sandra jetzt ein Gesicht machte wie eine Katze, die drauf und dran war, eine Maus zu verspeisen. »Oh ja, das ist er.«

Ihr dummes Gequatsche ärgerte mich und ich war offenbar nicht die Einzige, der es so ging, denn Doug schnaubte verächtlich: »Na so toll ist der Kerl ja nun auch wieder nicht.«

 

»Genau. Soll erst mal zeigen, ob er es sportlich draufhat«, unterstützte Tyler seinen Kumpel und Dougs Miene hellte sich augenblicklich auf. Vielleicht stellte er sich ja gerade vor, wie er den Neuen auf dem Footballfeld in die Mangel nahm?

»Also sagt, was ihr wollt, nett ist er auf jeden Fall. Er hat mir nämlich für Celia was zu trinken gegeben, als es ihr so mies ging.«

Bei Kathys Worten fiel mir fast die Gabel aus der Hand. Die Flasche war von IHM gewesen?

In meinen Ohren hallte der warme, beruhigende Klang seiner Stimme wider. »Sie sollte vielleicht etwas trinken.«

Er war garantiert nicht wütend auf mich gewesen. Das war jetzt endgültig klar und aus irgendeinem Grund war ich froh darüber.

»Ist doch total süß von ihm, nicht?« Kathys Gesicht hatte einen verträumten Ausdruck angenommen. Wahrscheinlich stellte sie sich gerade vor, an meiner Stelle auf dem Fußboden zu liegen.

Ha, wenn sie wüsste, wie ätzend das gewesen war.

Doug ließ wieder sein abfälliges Schnauben hören, doch bevor er etwas sagen konnte, ertönte der Schulgong und beendete unsere Mittagspause.

Abby und ich brachten unsere Tabletts gemeinsam weg, denn wir hatten als nächstes Bio, und auf dem Weg zu unserem Unterricht fragte ich mich, ob dieser Cassian wohl auch da sein würde.

Er war es nicht. Auch in Englisch traf ich ihn nicht, den letzten beiden Stunden, und so verging der restliche erste Schultag ohne weitere spektakuläre Ohnmachtsanfälle.

Allerdings konnte ich so auch nicht feststellen, wie ich reagieren würde, wenn ich Cassian Beckett wiedersah. Ich musste mich bis morgen gedulden.

Nach der Schule verabschiedete ich mich von Doug und Tyler, mit denen ich die letzten Stunden gehabt hatte, und lief zu Abby, die schon auf dem Schulparkplatz auf mich wartete. Kathy, die sie normalerweise immer mitnahm, da sie praktisch Nachbarn waren, wollte gemeinsam mit Sandra nach Hanlay zum Einkaufen fahren. Natürlich hatten sie auch Abby und mich gefragt. Doch mir war heute nicht nach einer ihrer ausgedehnten Marathon-Shoppingtouren und Abby musste später noch arbeiten.

Als mein alter Ford wenig später vor Abbys Haus hielt, stieg sie nicht gleich aus.

»Ist bei dir alles okay?« Sie sah mich prüfend an.

»Klar doch.«

»Ist schon komisch, dass du einfach so umfällst.«

Ich fühlte mich unwohl unter ihrem Röntgenblick und zuckte betont gleichgültig die Achseln. »Vielleicht hatte ich ja wirklich Hunger und hab’s nur nicht gemerkt.«

Doch ich konnte ihr ansehen, dass ich sie nicht überzeugte.

»Und? Was hältst du von dem Neuen?«

Ich hoffte, wenigstens jetzt cool zu wirken. »Was Kathy erzählt, scheint er ganz okay zu sein.«

»Meinst du?« Wieder sah sie nicht so aus, als wäre sie meiner Meinung. »Erinnerst du dich noch, was ich in den Karten gesehen habe?«

»Na klar.« Ich grinste. »Vielleicht ist ja dieser Cassian der geheimnisvolle Fremde, in den ich mich verliebe.«

»Möglich … wer weiß. Aber da war noch was anderes.« Sie betrachtete ihre schwarz lackierten Fingernägel. Der Lack an ihrem kleinen Finger löste sich bereits.

»Irgendwas wird passieren.«

»Passieren?«

»Ja.« Sie sah auf. »Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, weil ich noch nicht so viel Erfahrung mit den Karten habe. Vielleicht irre ich mich ja auch, aber ich glaube, es ist doch besser, wenn du es weißt.«

»Wenn ich was weiß?«

»Da war nicht nur dieser eine Typ. Da war noch jemand. Und vor dem musst du dich unbedingt vorsehen.«

Ich fröstelte, obwohl die Heizung in meinem Auto auf vollen Touren lief.

»Und … vielleicht ist das ja auch dieser Cassian. Ich hab ihn nur in Geschichte kurz gesehen, aber irgendwie das Gefühl gehabt, dass mit ihm was nicht stimmt.« Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß auch nicht.«

Obwohl ich noch immer keine Erklärung für den seltsamen Vorfall hatte, erschien mir das, was Abbys da sagte, doch zu absurd. »Du spinnst. Er ist ein ganz normaler Junge aus Kalifornien. Was sollte mir denn ein neuer Schüler schon antun wollen? Also, wenn du mich fragst, liest du eindeutig zu viele von deinen komischen Büchern. Sag jetzt bloß noch, du hältst ihn für einen Vampir?« Ich hatte es lustig gemeint, doch meine Freundin verstand diesmal offensichtlich keinen Spaß.

»Sei nicht albern. Natürlich tue ich das nicht«, erwiderte sie kühl und hatte es plötzlich sehr eilig auszusteigen. Sie reagierte nicht einmal mehr auf mein »Wir sehen uns morgen in der Schule!«

Na super, jetzt hatte ich wegen dieses blöden Typen auch noch Stress mit meiner besten Freundin. Wütend ließ ich den Motor aufheulen und legte die Strecke nach Hause in neuer persönlicher Bestzeit zurück. Nur gut, dass ich unterwegs nicht Sheriff Baileys Streifenwagen begegnete.

Das Haus meiner Grandma lag etwas außerhalb von Eagle Lake. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es nur noch ein Haus. Es stand mitten im Wald und war seit dem Tod des alten Mr. Warner vor ein paar Jahren unbewohnt, weil seine Kinder irgendwo in Texas lebten.

Ich fuhr an der Einfahrt vorbei und sah aus reiner Gewohnheit auf die Seite, obwohl ich das Haus von dieser Stelle aus gar nicht sehen konnte. Es galt unter den Jugendlichen als Mutprobe, dorthin zu gehen, da es in dem Haus angeblich spukte. Auch heute durchfurchten Wagenspuren den matschigen Weg und da es den ganzen Tag geregnet hatte, musste erst vor Kurzem jemand dort hochgefahren sein.

Ein lautes Hupen hinter mir ließ mich zusammenfahren. Ohne es zu merken, hatte ich angehalten.

Entschuldigend hob ich die Hand und fuhr weiter.

Als ich die Eingangstür aufschloss, empfing mich ein köstlicher Duft. Rasch stellte ich meinen Rucksack auf die Treppe, wusch mir in der Gästetoilette die Hände und ging in die Küche.

Grandma deckte den Tisch und als ich ihr zur Begrüßung einen Kuss auf ihre faltige Wange drückte, lächelte sie.

»Wie war der erste Schultag, Liebes?«

»Och wie immer, Gran«, schwindelte ich schnell. Sie sollte sich keine Sorgen machen und eigentlich war ja auch nicht wirklich etwas passiert.

Seitdem meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, lebte ich bei der Mum meines Dads. Und ich hatte echt Glück. Sie war kein bisschen streng und ich hatte Freiheiten, die meine Freundinnen nicht hatten.

Aber nicht nur dafür liebte ich sie. Ihre Kochkünste waren eindeutig auch ein Grund. Interessiert spähte ich durch die Glasscheibe des Backofens. »Hmmh, Gemüselasagne, super! Ich sterbe vor Hunger.«

»Dann ist es ja gut, dass sie in einer Minute fertig ist.«

Als wir am Tisch saßen, erkundigte sie sich nach meinen Plänen für den Abend. Da ich wusste, dass sie heute ihre Theatergruppe hatte, behauptete ich, dass ich jede Menge Hausaufgaben machen musste, was nur im Hinblick auf die Menge ein wenig geflunkert war.

Grandma hatte manchmal ein schlechtes Gewissen, weil sie so viel unterwegs war, aber mich hatte das nie gestört. Ich fand es klasse, dass sie nicht wie andere Großeltern nur zu Hause hockte, sondern ihr eigenes Leben und einen riesigen Freundeskreis hatte. Schließlich hatte ich ja auch genug Freunde, mit denen ich etwas unternehmen konnte.

»Weißt du, ob wieder jemand in dem alten Warnerhaus wohnt?«, wechselte ich das Thema.

»Nein. Wie kommst du darauf?«

»Ach, es sah nur so aus, als wäre da jemand hochgefahren.« Ich schaufelte mir den Rest Lasagne von meinem Teller in den Mund.

»Na hoffentlich sind das nicht wieder irgendwelche Rowdys, die alles verwüsten.« Die Furchen auf Grandmas Stirn vertieften sich. »Vielleicht sollten wir besser dem Sheriff Bescheid geben. Möchtest du noch etwas?« Sie nickte zur Auflaufform hin.

Ich schüttelte den Kopf, denn ich war kurz vorm Platzen. »Wann musst du eigentlich weg?«

Grandma sah auf die Wanduhr. »Jetzt. Das heißt, eigentlich müsste ich schon längst im Auto sitzen. Liebes, wärst du so nett und …?«

»Klar, geh ruhig. Ich räum ab.«

»Du bist ein Schatz.« Erleichtert erhob sie sich und öffnete die Schleife ihrer Schürze.

Fünf Minuten später verabschiedete sie sich mit der Bemerkung, dass es spät werden würde, und ich machte mich daran, die schmutzigen Teller in die Spülmaschine zu räumen. Nachdem ich den Rest Lasagne in den Kühlschrank gestellt und den Tisch abgewischt hatte, schaltete ich das Licht aus, schnappte mir meinen Rucksack und ging die Treppe hinauf ins Dachgeschoss.

Hier oben war mein Reich. Während Grandma das Schlafzimmer und das Bad im ersten Stock benutzte, lagen mein Zimmer und mein Bad direkt unter dem Dach. Es war super, dass ich mich hierher zurückziehen konnte, wo ich ungestört war. Aber am meisten liebte ich den Ausblick aus meinem Fenster. Von hier oben konnte man über die Baumwipfel bis zu den Bergen hinübersehen, auf denen bereits die ersten Schneefetzen blitzten, und an sonnigen Herbsttagen leuchtete das Laub des Waldes in allen Farben, wie auf diesen kitschigen Postkarten für die Touristen.

Heute allerdings hatte sich der Nebel kaum aufgelockert und da es inzwischen wieder zu regnen begonnen hatte, war es beinahe dunkel. Daher verschwendete ich auch keinen Blick an die Landschaft vor meinem Fenster, sondern schaltete sofort meine Schreibtischlampe an und holte die Bücher aus meinem Rucksack, die ich für die Hausaufgaben brauchen würde.

Die Lehrer waren an unserem ersten Schultag gnädig gewesen und deswegen hatte ich die wenigen Aufgaben schnell erledigt. Nachdem ich fertig war, beschloss ich zu duschen. Immerhin hatte ich heute einige Zeit auf dem Fußboden verbracht.

Vorher wollte ich aber unbedingt noch Abby anrufen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Ich hasste es, wenn wir uns gestritten hatten. Es kam nicht oft vor, aber wenn, wollte ich das möglichst schnell klären. Also nahm ich mein Handy und tippte auf ihren Namen. Es tutete. Einmal, zweimal … nach dem fünften Mal ging ihre Mailbox ran. Mist!

»Äh, hi Abby. Ich wollte sagen … Mensch, sorry. Ich hab doof reagiert vorhin. Hoffe, du bist nicht mehr sauer auf mich? Ich find’s ätzend, wenn wir streiten. Also nicht mehr böse sein, ja? Ich bin ein Idiot. Wir sehen uns morgen. Bye!« Enttäuscht beendete ich den Anruf. Entweder wollte sie nicht mit mir sprechen oder aber sie hatte während ihrer Arbeit einfach keine Zeit.

Es gab nicht viele Möglichkeiten, in Eagle Lake auszugehen, und so war das Krugers nicht nur für die meisten älteren Schüler der Eagle Lake High ihr Stammlokal und bestimmt auch heute, am ersten Tag nach den Sommerferien, brechend voll.

Da ich nichts weiter tun konnte, ging ich ins Bad und drehte den Wasserhahn der Dusche auf. Beim Einseifen strich ich mit dem Finger über die Narben an meiner Schulter. Trotz der langen Zeit waren sie noch immer deutlich zu fühlen und kaum verblasst. Sie würden mich wohl ewig an den Tag erinnern, an dem ich fast gestorben wäre. Schnell schob ich die unangenehmen Gedanken an die Vergangenheit beiseite, drehte das Wasser wieder auf und spülte den Schaum ab.

Zurück in meinem Zimmer, machte ich es mir auf meinem Bett gemütlich und schlug Emma Roberts »Alice« auf und tauchte in die düstere Welt von Schloss Ravenhill ein.

Ich war wieder in Ravenhill. Ich sah mich selbst vor dem schmiedeeisernen Tor stehen. Eine kleine, zierliche Gestalt mit braunem Haar, in einem dunklen Reisekostüm, die den Weg vor sich betrachtete. Die ehemals prachtvolle Allee, links und rechts gesäumt von kunstvoll zurechtgestutzten Bäumen, war verschwunden. Üppig wuchernde Pflanzen, denen niemand Einhalt gebot, hatten die Herrschaft übernommen und nur noch einen schmalen Pfad übrig gelassen. Lange, sehr lange war keine Kutsche mehr über die Auffahrt gerollt.

Wie von Geisterhand schwangen die Flügel des Tores auf und gaben den Weg für mich frei. Doch da ich träumte, ging ich nicht hindurch, ich schwebte. Unbehelligt von den Pflanzen, die am Boden wucherten und ihre grünen Arme in alle Richtungen ausstreckten, glitt ich über sie hinweg. Immer weiter hinein in den düsteren Wald, doch am Ende würde mich ein gemütliches Zuhause erwarten.

Irgendwo nicht weit von mir entfernt heulte ein einsamer Wolf. Es klang so wehmütig, dass mein Herz ganz schwer wurde, und als ich weiterflog, wusste ich, dass ich nicht länger allein war. Nur noch eine Wegbiegung und ich hatte mein Ziel erreicht.

Es war nicht das Haus, das ich aus meiner Erinnerung kannte. Ich sah keinen gepflegten Garten, in dem mich ein gedeckter Tisch zum Nachmittagstee erwartete, und auch keinen Rauch, der aus dem Kamin aufstieg und von der Anwesenheit der Bewohner zeugte. Nur Fensterscheiben, blind vom Schmutz, und ein loser Laden, der meinen Blick auf sich zog. War er einst strahlend weiß und ein Schutz gegen die grelle Sonne und die nächtliche Dunkelheit gewesen, klapperte er jetzt nur schmutzig grau und nutzlos im Abendwind.

 

Traurigkeit überfiel mich. In nicht allzu ferner Zukunft würde nur noch eine Ruine von dem einst so imposanten Haus übrig sein.

Mit einem Mal hatte ich meine Körperlichkeit wiedererlangt und so musste ich einen großen Schritt über den dicken Ast machen, der auf den Eingangsstufen lag. Meine Hand umfasste den Türgriff. Doch bevor ich ihn drehen konnte, schwang auch diese Tür wie durch Zauberei auf.

Ich erwartete ein unbewohntes Gebäude vorzufinden, doch mir schlug wohltuende Wärme entgegen. Ein knisterndes Geräusch drang an mein Ohr und mein Herz begann erwartungsvoll zu klopfen. Als ich die Bibliothek betrat, flackerte ein behagliches Feuer im Kamin. Einer der Holzscheite brach knackend zusammen und Funken flogen auf. Ich erschrak und plötzlich hatte ich das gleiche Gefühl wie auf der Auffahrt. Ich war nicht allein.

Der schwere Ledersessel vor dem Kamin zog mich magisch an. Langsam ging ich auf ihn zu, aber ich ahnte längst, wer dort auf mich wartete. Als ich neben den Sessel trat, drehte der Wolf seinen Kopf und ich starrte in eisgraue Augen.

Tuut, tuut, tuut … Ich fuhr hoch und drückte automatisch auf die Taste meines Radioweckers. Er zeigte kurz vor halb acht.

Mein Herz hämmerte noch immer wild, als ich mich zurück in die Kissen fallen ließ. Ich hatte nur geträumt. Der Roman lag aufgeschlagen neben mir auf dem Bett und ich trug noch immer meinen Bademantel. Das Handtuch, das ich abends nach dem Duschen um meinen Kopf gewickelt hatte, war zusammen mit meiner Decke auf den Boden gerutscht. Ich beugte mich über die Bettkante und zog die Decke über meine eiskalten Beine und während ich wartete, dass meine Zehen wieder auftauten, versuchte ich mich an meinen Traum zu erinnern.

Richtig. Ich war in Ravenhill gewesen, dem Haus aus meinem Roman. Allerdings hatte der Wolf nichts mit der Geschichte zu tun. Ich konnte mir auch nicht erklären, weshalb er gerade jetzt wieder in meinem Traum aufgetaucht war. Nach so langer Zeit.

Als Kind hatten mich oft Albträume gequält, besonders nach dem Tod meiner Eltern, und jedes Mal war der Wolf ein Teil davon gewesen. Ich hatte mich nach dem Aufwachen selten an die Einzelheiten meiner Träume erinnern können, nur an den grauen Wolf mit den grünen Augen. Er hatte das, was mir solche Angst gemacht hatte, immer verjagt.

Ich runzelte die Stirn. Aber heute hatte ich mich in meinem Traum nicht gefürchtet und noch etwas war anders gewesen. Der Wolf … seine Augen waren nicht grün gewesen. Ich schluckte. Er hatte Cassian Becketts Augen gehabt.

Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich beugte mich über das Bett und zog die Schublade meines Nachttisches auf. Das Fotoalbum und eine CD, die ganz oben lagen, schob ich zur Seite. Ich wollte an die kleine weiße Holzschatulle darunter. In ihr bewahrte ich die wenigen Schmuckstücke auf, die meiner Mum gehört hatten, und die dünne silberne Kette, die mir meine Eltern zu meinem siebten Geburtstag geschenkt hatten, zusammen mit dem Schwimmkurs.

Nachdenklich betrachtete ich den Anhänger, einen kleinen Wolf, ebenfalls aus Silber. Für mich war es jedenfalls einer, auch wenn Mum und Dad immer behauptet hatten, er sähe aus wie ein Hund. Für mich war es mein Wolf.

Ich hatte heute Nacht wohl irgendwie die Ereignisse des Vortags verarbeitet. Und dass der Wolf SEINE grauen Augen gehabt hatte, bedeutete vielleicht, dass ich nicht wollte, dass Abby mit ihrem Misstrauen und ihrer Kartendeutung richtiglag.

Es klopfte.

»Liebes? Bist du schon wach? Du musst aufstehen.«

»Ja, Gran. Bin schon auf.«

Schluss mit der Hobbypsychologie. Ich legte die Kette auf den Nachttisch neben mein Handy und stand auf. Meine Füße waren noch immer eiskalt und beim Blick in den Spiegel war klar, dass ich mir noch einmal die Haare waschen musste. Ich sah aus, als hätte ein Vogel ein Nest auf meinem Kopf gebaut. Seufzend drehte ich das Wasser auf.

Meine schulterlangen Haare föhnte ich danach in Rekordzeit. Creme, einen Hauch Puder, etwas Rouge und Mascara und fertig war ich. Ein Blick aus dem Fenster in den Nieselregen und ich entschied mich für den langärmligen hellblauen Pulli, der meine Augen so schön betonte.

Bevor ich die Treppe hinunterlief, warf ich noch einmal einen flüchtigen Blick in den Flurspiegel. Die funkelnde Silberkette sah hübsch aus. Warum nur hatte ich sie so lange nicht getragen?

»Morgen, Gran, bin spät dran.«

Im Stehen schmierte ich mir ein Erdnussbutterbrot und stürzte hastig meinen viel zu heißen Kaffee herunter. Prompt verbrannte ich mir die Zunge.

»Au, verflixt!«, schimpfte ich gereizt.

»Das kommt davon, wenn man nicht aus den Federn kommt«, zog mich Grandma lächelnd auf.

»Ich weiß. Bye, Gran.« Ich schnappte mir meinen angebissenen Toast und sauste aus der Küche.

Im Flur angelte ich mit der freien Hand nach meiner Jacke und meinem Rucksack, den ich auf der Treppe fallen gelassen hatte, stopfte mir den Rest Brot in den Mund und öffnete die Haustür.

Zehn Minuten später auf dem Schulparkplatz sah ich mich automatisch nach dem Neuen um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken, aber auf dem Weg zu Chemie traf ich Abby. Sie sah heute in ihrer Jeans, dem Pulli und der dicken Weste - alles in Schwarz - beinahe normal aus und zu meiner Erleichterung lächelte sie.

»Sorry, aber gestern war im Krugers die Hölle los. Ich glaub, die ganze Eagle High hat das Ferienende begossen. Und dann war es zu spät, um dich noch anzurufen.«

Ich lächelte zurück. Hauptsache, zwischen uns war wieder alles okay.

Als wir im Unterrichtsraum unsere Plätze suchten, hielt ich wieder nach Beckett Ausschau, aber offenbar hatten wir auch diesen Kurs nicht zusammen. In der darauffolgenden Stunde hätte ich eigentlich Kunst gehabt, aber der Unterricht fiel aus, da Mr. Jefferson krank war.

Und auch als wir während dieser Freistunde die Hausaufgaben aus der vorherigen Stunde erledigten, war er wieder nicht dabei. In der Pause sah ich mich weiter unauffällig nach ihm um, doch vergeblich. Er tauchte nirgendwo auf.

Auch Kathy beschäftigte seine Abwesenheit offenbar, denn während wir uns für den Sportunterricht umzogen, spekulierte sie, ob er womöglich krank war.

Als er auch am nächsten Tag verschollen blieb, war ich überzeugt, dass sie damit richtiglag.