Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert

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Mühen der Sieger

Sogar in den Bevölkerungen der Siegermächte regte sich bald Enttäuschung über die Demokratie, denn sie fanden ihren Lohn für die erbrachten Opfer unangemessen gering und den Übergang von der Nachkriegszeit zur Normalität mühsam. Das bessere Leben, das die Propaganda ihnen versprochen hatte, ließ auf sich warten, und viele Trophäen, die gewisse Geheimverträge in Aussicht gestellt hatten, blieben unerreichbar. Ferner zeigte sich, dass die Umdisponierung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft zeitaufwendiger, teurer und störanfälliger war als gedacht. Der Bedarf an Konsumgütern, den man während der Kämpfe hatte zurückstellen müssen und nun endlich wieder befriedigen konnte, bewirkte zwar einen kurzlebigen Nachkriegsboom. Doch die öffentlichen Kreditaufnahmen, mit denen die Kriegsausgaben finanziert worden waren, trugen zu einer kräftigen Inflation bei. Kaum waren die Ersparnisse verbraucht, brach die Kaufkraft weg, was eine Rezession zur Folge hatte, die sich noch verschärfte, als heimgekehrte Soldaten dringend zivile Arbeitsstellen suchten. Als illusionär erwies sich auch die Erwartung, man könne die Kosten ja den besiegten Feinden zuschieben, denn die Reparationszahlungen fielen niedriger aus als erwartet. Daneben hatten die Alliierten untereinander Schulden, und ein selbstgerechter US-Kongress beharrte stur auf deren Begleichung. Binnen weniger Monate wich die Siegeseuphorie der Frustration, was im Inland für Zwist sorgte und international das Aushandeln von Kompromissen blockierte.

Streitigkeiten prägten nun auch das politische Leben in der konstitutionellen Monarchie Großbritannien, weshalb deren Übergangsphase besonders strapaziös verlief. Der damalige Premierminister, der aus WalesWales stammende Liberale Lloyd GeorgeLloyd George, David, versprach während der durch den Krieg geprägten sogenannten Khaki-Wahlen 1918 den Soldaten ein Land, »in dem Helden leben können«. Seiner Koalition aus Liberalen und Konservativen gelang ein beeindruckender Sieg, und die Mehrheitsverhältnisse erlaubten ihm, einige gesellschaftliche Reformen anzuschieben. Man baute das Bildungswesen aus, förderte sozialen Wohnungsbau, erweiterte den Arbeitslosenversicherungsschutz und erhöhte die Renten. Im Oktober 1922 aber verließen die Konservativen, denen soziale Maßnahmen missfielen, das Regierungsbündnis, während die Labouristen für weitere Reformen agitierten: Dank der nächsten Wahl kurz danach konnten sie die Liberalen als stärkste Oppositionspartei ablösen. Ihr talentierter, aber politisch etwas konfus agierender Führer Ramsay MacDonaldMacDonald, Ramsay bildete 1924 die erste Labour-Regierung, doch schon bald musste er den Premiersitz für seinen Vorgänger räumen, den konservativen Hardliner Stanley BaldwinBaldwin, Stanley, der dann seinerseits die Wahl 1929 verlor. Das brachte wiederum MacDonaldMacDonald, Ramsay an die Macht, der 1931 eine Regierung der nationalen Einheit bildete.1 Während der Zwischenkriegsjahre blieb das Vereinigte Königreich in zwei große Lager gespalten: eine defensiv agierende Konservative und eine reformistische Labour-Partei. Keine der beiden war stark genug, um effizient zu regieren.

Die politischen und sozialen Spannungen spitzten sich zu im Generalstreik vom Mai 1926. Obwohl die britischen Bergwerke an Ergiebigkeit eingebüßt hatten und Kohle sich infolge der Rückkehr zum Goldstandard schlechter verkaufte, forderten die Bergarbeiter bessere Bezahlung und mehr betriebliche Sozialleistungen. Premier BaldwinBaldwin, Stanley betraute ein spezielles Expertengremium, genannt Samuel-Kommission, mit der Lösung des Problems, die empfahl, die staatlichen Subventionen für den Bergbau zu streichen und die Bergarbeiterlöhne um 13,5 Prozent zu beschneiden. Entsetzt und empört protestierten die Gewerkschaften samt ihrem Dachverband, dem Trade Union Congress (TUC). Man rang bis zum Äußersten um einen Kompromiss, und nachdem dies gescheitert war, erklärte der TUC den Generalstreik. In dessen Verlauf wurden drei Millionen Arbeiter ausgesperrt, und das Transportwesen kam zum Erliegen. Da es Anarchie befürchtete, organisierte das Kabinett sofort Noteinsatzkräfte, Streikbrecher und spezielle Milizen, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Als Gerichte den anderen Gewerkschaften verboten, in Solidaritätsstreiks zu treten, blies der TUC den Generalstreik nach neun Tagen ab und nahm grollend die Lohnkürzung hin.2 Die Konfrontation zeigte, dass die britische Gesellschaft gespalten war zwischen einer laissez-faire-orientierten Mittelklasse und einer wachsenden Arbeiterbewegung, deren radikale Mitglieder von einer sozialen Revolution träumten.

Ein weiterer Konflikt, der sich ähnlich heftig gegen Lösungen sperrte, betraf die Zukunft Irlands. Dort brodelte ein hochentzündliches Gemisch aus Nationalismus, religiösem Fanatismus und sozialer Unzufriedenheit. Ausgelöst durch konfessionelle Feindseligkeit zwischen Protestanten und Katholiken und zusätzlich befeuert durch Spannungen zwischen nicht ortsansässigen Grundbesitzern und lokalen Arbeitern, bestritt die irische Unabhängigkeitsbewegung den Briten das Recht, über die grüne Insel zu herrschen. 1914 bewilligte ihr London endlich, wofür irische Patrioten wie Charles Stewart ParnellParnell, Charles Stewart jahrzehntelang agitiert hatten: die sogenannte home rule, eine weitgehende Selbstbestimmung. Nun durfte im Weltkrieg eine eigenständige Formation irischer Freiwilliger an der Seite Englands kämpfen. Aber als die radikalen Nationalisten sich Ostern 1916 erhoben, schlugen die Briten sie mit brutaler Gewalt nieder; dadurch verhalfen sie freilich der separatistischen Partei Sinn Féin und ihrer Kampagne für vollständige Unabhängigkeit zu noch mehr Popularität. Das Kernproblem war, was aus den sechs Grafschaften der nordirischen Provinz UlsterUlster werden sollte, in denen die Protestanten dominierten. 1921 handelte Lloyd GeorgeLloyd George, David den Anglo-Irischen Vertrag aus: Die 26 katholischen Grafschaften durften sich unter der Präsidentschaft von Éamon de ValeraValera, Éamon de zum weitgehend unabhängigen »Irischen Freistaat« zusammenschließen, der den Status eines dominion erhielt. NordirlandNordirland verblieb beim Vereinigten Königreich. Dies sollte sich zwar als realitätstauglicher Kompromiss erweisen, beseitigte aber nicht den Hass, den die Protestanten und Katholiken in UlsterUlster gegeneinander hegten und der noch jahrzehntelang für fortgesetztes Blutvergießen sorgen würde.3

Frankreich wiederum fand zwar sein Prestige durch den Sieg gesteigert; doch außenpolitische Schwierigkeiten und Konfusion im Inneren blieben auch ihm nicht erspart. Ruhm und Ehre hatten ihren Preis gefordert: 1,5 Millionen Tote und 3,5 Millionen Verwundete. Der Aderlass hatte eine Bevölkerung von rund 40 Millionen getroffen – Deutschland hatte damals 62 Millionen. Dieses relative demografische Defizit empfanden nationalistische Hardliner als Sicherheitsrisiko; wirksamen Schutz gegen ein wiedererstarkendes Deutschland könne es nur geben, wenn man auf der Erfüllung der Bestimmungen des Versailler Vertrages bis zum letzten Buchstaben bestehe. Dagegen suchten führende Köpfe der Linken nach einer flexibleren Strategie und empfahlen eine Annäherung an die Weimarer Republik, schon um die Belastungen zu mildern, die hohe Verteidigungsausgaben mit sich brächten. Die verwüstete Infrastruktur und die beschädigte Ökonomie mussten restauriert, zerstörte Wohnbauten in NordfrankreichNordfrankreich wiedererrichtet werden; all dies verursachte enorme Kosten, die sich nicht gänzlich auf die niedergeworfenen Feinde abwälzen ließen. Immerhin bewirkte die steuerliche Förderung des Wiederaufbaus einen Schub bei der industriellen Modernisierung. Ironischerweise bereitete Frankreich sogar der vielgefeierte Rückgewinn Elsass-LothringensElsass-Lothringen Sorgen, denn diese teilweise deutschsprachige Region wollte eine gewisse Autonomie gegenüber der Zentralregierung behalten, besonders in religiösen Angelegenheiten.4 Das Grundproblem, vor das ParisParis sich gestellt sah, war, wie es die Früchte des Sieges bewahren konnte, ohne sich dabei zu übernehmen.

Die Dritte Republik fand keine klare Lösung, denn dazu hätte es einer Mehrheit bedurft. Doch die entscheidenden politischen Kräfte im Land – hier die nationalistische Rechte, dort die internationalistische Linke – waren ungefähr gleich stark. Witzbolde behaupten seit jeher, die Franzosen trügen ihr revolutionäres Herz links, aber ihre Brieftasche rechts. Die nationalistischen Hardliner bildeten einen aus mehreren Splitterparteien lose gefügten »nationalen Block«, während die Reformisten sich zu einem »Kartell der Linken« zusammenfanden. Das parlamentarische Karussell brachte bald einen Vertreter der Unerbittlichen, bald einen Gemäßigteren auf den Premierstuhl. Der rigorose ClemenceauClemenceau, Georges, der insistiert hatte, dass die Bestimmungen des Versailler Vertrages unbedingt Strafcharakter haben müssten, wurde 1921 durch den versöhnlichen Aristide BriandBriand, Aristide ersetzt. Offenbar ging er zu sanft mit Deutschland um, denn schon ein Jahr später drängte ihn der Bellizist Raymond PoincaréPoincaré, Raymond vom Sessel. Nachdem sich dessen Reparationspolitik als Fiasko entpuppt hatte, gelangte 1924 der moderate Linke Édouard HerriotHerriot, Édouard an die Macht, doch bereits 1926 saß wieder PoincaréPoincaré, Raymond auf dem Sitz. Da es Letzterem gelang, eine akute Finanzkrise zu beheben, indem er den Franc abwertete, ließ man ihn bis 1929 regieren.5 Dieser rasche Wechsel an der Staatsspitze führte im Inland wie international zu einem Zickzackkurs, aufgrund dessen sich kein Mittel fand, um der inneren Zerstrittenheit und der strukturellen Schwäche des Landes abzuhelfen.

Vom Kriege geschwächt, ein dynamisches Deutschland als Nachbar – Frankreich hatte sehr zu kämpfen, um seine Hegemonie über den Kontinent zu bewahren. Mit der Oktoberrevolution war ihm ein verlässlicher Verbündeter, das zaristische Russland, abhandengekommen. Den neuen Machthabern traute das bourgeoise ParisParis nicht, da es fürchtete, der bolschewistische Virus könnte sich auch unter den eigenen Arbeitern verbreiten. Ferner sah Frankreich sich allein nicht in der Lage, die Einhaltung des Friedens zu erzwingen. Dazu bedurfte es der militärischen Rückendeckung der USAVereinigte Staaten und Großbritanniens, und ob die ihnen auf Dauer sicher war, erschien den Franzosen mit der Zeit immer zweifelhafter. ParisParis schaute sich nach Ersatzpartnern um und schuf ein Netz neuer Bündnisse, das Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien einschloss. So entstand etwas, was als »Kleine Entente« in die Geschichte einging. Dieser geopolitisch kluge Schritt erwies sich freilich in der Folge als für Frankreich ziemlich teuer, denn die vier Partner verlangten massive Subventionen von ParisParis – schließlich mussten sie ja ihre Länder wirtschaftlich auf Vordermann bringen und militärische Schlagkraft entwickeln. Frankreich agierte generell glücklos: Selbst als es versuchte, die fristgerechte Entrichtung der Reparationen zu forcieren und sich dafür beispielsweise zur Ruhrbesetzung im Januar 1923 entschloss, ging der Schuss nach hinten los. Angesichts des »passiven Widerstandes« der Deutschen musste ParisParis erkennen, dass man mit Bajonetten keine Kohlen graben kann, und das Wagnis schließlich abbrechen. So strapazierte die Aufrechterhaltung der Dominanz die französischen Ressourcen bis an die Grenze der Belastbarkeit.6

 

Anstatt vielfachen Profits bereitete der Triumph im Ersten Weltkrieg den Siegerländern unerwartete neue Probleme. Immerhin verstärkte der Sieg im Westen die Empfindung, dass man mit der liberalen Modernisierung auf dem rechten Pfad sei, schließlich habe am Ende die Demokratie die Autokratie geschlagen. Man freute sich auch über mehr Territorien, neue Kolonien, höhere militärische Sicherheit und weniger ökonomische Wettbewerber. Doch daheim bestätigte der Sieg nicht nur die parlamentarische Regierung, sondern auch die kapitalistische Ausbeutung und die Klassenhierarchie; die Forderungen der Kriegsveteranen nach Ausweitung des Wahlrechts, mehr sozialen Reformen und mehr Gleichheit blieben unerfüllt. Zwar entwarfen die Friedensvereinbarungen eine neue internationale Ordnung, nämlich ein Miteinander demokratischer Nationalstaaten; aber sie perpetuierten auch bestimmte Feindseligkeiten aus Kriegszeiten, denn das Eintreiben der Vertragsleistungen sorgte wiederum für Konflikte und zog sich entsprechend in die Länge.7 Die Regelungen entfachten gewaltigen Unmut bei jenen, die sich von ihnen übervorteilt fühlten und daher kaum Neigung hatten, sie als einen konstruktiven Plan für die Zukunft Europas zu akzeptieren. Hochfliegende Hoffnungen verwandelten sich dergestalt in bittere Enttäuschung – sogar bei manchen Siegerstaaten, darunter besonders Italien.

Internationale Kooperation

Dauerhaften Frieden zu stiften, hieß nicht allein, für ein Ende der Kämpfe zu sorgen, sondern auch, abgebrochene Verbindungen wiederherzustellen. Nur eine moderne internationale Ordnung konnte eine Wiederkehr des Gemetzels verhindern. Die vielen einzelnen Schritte hin zur Versöhnung mussten zahlreiche Hindernisse überwinden. Die Amerikaner und Briten zogen ihre Besatzungstruppen rasch wieder ab, die der Franzosen und Belgier blieben dagegen bis 1930 im Rheinland. Auch galt es, die Propagandaapparate zu demontieren, die während des Krieges den jeweiligen Feind herabgewürdigt hatten. Zwar wurde der Kaiser nicht vor Gericht gestellt, aber die »Kriegsschuldfrage« erregte noch jahrelang mit gegenseitigen Anklagen die Gemüter. Die Kooperation in internationalen Vereinigungen und Verbänden musste erneuert werden, sodass zum Beispiel Delegierte aus Verliererländern wieder Zutritt zu wissenschaftlichen Organisationen erhielten, in denen die Sieger dominierten. Und schließlich musste die Blockade beendet und der freie Handel über die Grenzen hinweg wiederaufgenommen werden. Die ökonomische Wiederbelebung wurde aber immer wieder gehemmt: Man stritt um Patente, die der Feind für nichtig erklärt, um Betriebe, der er beschlagnahmt hatte – von dem ganzen Gezänk um die Reparationen gar nicht zu reden. Die Nachwirkungen des Krieges zu heilen und den freundschaftlichen Austausch wiederherzustellen, war also ein langfristiger Prozess, in den auch nichtpolitische Bedrohungen störend hineinwirkten, etwa die Grippeepidemie 1919.1

Mit der Lösung jener Probleme, die sich aus den Friedensregelungen ergaben, und dem Wiederbeleben internationaler Kooperation betraute man eine neue Organisation namens »Völkerbund«. Er wurde 1919 als intergouvernementales Gefüge gegründet und nahm sein Hauptquartier in GenfGenf – einer französischsprachigen Stadt in der neutralen Schweiz. An der Spitze dieser Assoziation souveräner Staaten stand der Generalsekretär; die eigentliche politische Tätigkeit verrichtete der Exekutivrat, der ein paar wenige ständige Mitglieder und rund ein Dutzend nichtständige hatte, wobei die letzten nach einem festen Turnus wechselten. Oberstes Entscheidungsorgan war aber die Generalversammlung, in der jedes Mitgliedsland eine Stimme besaß. Dem Ständigen Generalsekretariat arbeiteten mehrere Untergremien zu, welche die Kooperation in bestimmten Bereichen arrangierten, so der Ständige Internationale Gerichtshof, die Internationale Arbeitsorganisation, die Gesundheitsorganisation und die Hohe Flüchtlingskommission. Laut Satzung strebte der Völkerbund die Verhinderung eines weiteren Weltkrieges an; zu diesem Zweck sollte »internationaler Frieden und Sicherheit« durch offene Diplomatie, Abrüstung, Verhandlungen und Schlichtungen erreicht werden. Diese neue Institution, eine persönliche Kopfgeburt Präsident WilsonsWilson, Woodrow, war ein kühner Versuch, die klassische Politik des Gleichgewichts der Mächte durch die Formalisierung internationaler Kooperation auf eine höhere Ebene zu heben.2

Beim Friedensstiften hatte der Völkerbund nur begrenzten Erfolg, denn ein paar wichtige Staaten gehörten ihm nicht an, und seine Entscheidungen trugen doch sehr die Handschrift der Siegermächte. Dass die USAVereinigte Staaten nicht beitreten mochten, war für die Genfer Liga ein harter Schlag. Deutschland und Russland wiederum ließ man zunächst nicht hinein – damit fehlten aber ausgerechnet zwei der problematischsten Mächte in den Beratungen der Organisation. Gebunden an den Versailler Vertrag, garantierte sie die Unabhängigkeit DanzigsDanzig (Gdańsk), beaufsichtigte die französische Besetzung des SaargebietsSaarbecken und sicherte die Neuzuteilung der Kolonien über das Mandatssystem. Bei einigen Konflikten, etwa den deutsch-polnischen Rangeleien um OberschlesienOberschlesien, gelang es dem Völkerbund, Plebiszite zu organisieren, nach deren Ergebnissen er schließlich die Teilung der Provinz zwischen den beiden Staaten bestimmte. In geringfügigeren Angelegenheiten wie den Grenzstreitigkeiten zwischen Griechenland und Bulgarien 1925 konnte die Liga erfolgreich vermitteln. Ging es jedoch um die nationalen Interessen großer Länder, erwies sich der Völkerbund als weitgehend hilflos. Denn widerspenstige Mitglieder konnten sich erlauben, seine Beschlüsse zu ignorieren, vertrauten sie doch darauf, dass er nicht in der Lage war, diese militärisch durchzusetzen.3

Um sich aus der Isolation ihrer Verbannung zu befreien, schlossen die outcasts Deutschland und Russland April 1922 im italienischen Badeort RapalloRapallo einen Freundschaftsvertrag. Das Agreement, das die Außenminister der beiden Staaten Walther RathenauRathenau, Walther und Georgi TschitscherinTschitscherin, Georgi ausgehandelt hatten, verstörte die Siegermächte des Krieges, denn es zeigte, dass die Weimarer Republik und Sowjetrussland nicht allein von ihrem guten Willen abhängig waren. Der Text des Vertrages kam recht harmlos daher, denn er legte nur fest, was die Partner einander erlassen wollten: Beide Länder, hieß es, »verzichten auf den gegenseitigen Ersatz ihrer Kriegskosten sowie auf den Ersatz der Kriegsschäden«. Praktisch bedeutete dies, dass das Reich keine Reparationen mehr für während der Oktoberrevolution verstaatlichtes ehemals deutsches Eigentum verlangte. Auch die Sowjets forderten keine Wiedergutmachung dessen mehr, was die Berliner Okkupanten auf russischem Boden angerichtet hatten. Der Vertrag versprach ferner, dass man künftig wieder normale diplomatische Beziehungen unterhalten und die wirtschaftliche Kooperation wiederaufnehmen werde; und das hatten beide Länder bitter nötig, weil sie aufgrund von Krieg und Revolution darniederlagen. Zusätzlich gab es in dem Text noch eine geheime Klausel, hinter der sich Brisanteres verbarg, nämlich die beiderseitige Bereitschaft zur militärischen Zusammenarbeit. Dadurch konnte die Reichswehr die Versailler Entwaffnungsbestimmungen umgehen, und die Sowjets erhielten Zugang zu deutscher Flugzeug-, Panzer- und U-Boot-Technik.4

Der strittigste unter den Punkten, die nun die internationale Kooperation behinderten, war die Frage der Reparationen. Als die Reparationskommission den zu entrichtenden Betrag auf 269 Milliarden Goldmark festsetzte, war die deutsche Öffentlichkeit schockiert; und selbst einige ausländische Ökonomen hielten die Summe für zu hoch. Vielleicht hätte BerlinBerlin tatsächlich zahlen können, wenn es die Steuern erhöht und den Lebensstandard des deutschen Volkes gesenkt hätte. Dies wagte die Regierung jedoch nicht, da sie sich bereits zu sehr in der Defensive befand. Also spielte sie auf Zeit und begann erst einmal schleppend, Sachlieferungen zu leisten. Die anschließende RuhrbesetzungRuhrgebiet entfachte nationalistische Leidenschaften, zumal sie die ohnehin galoppierende Inflation beschleunigte. Darunter litt vor allem die Reichsmark, die Okkupation strapazierte aber auch die französischen Ressourcen. In diese festgefahrene Situation konnten nur amerikanische Vermittler wieder Bewegung bringen. Unter der Verhandlungsführung des republikanischen Bankiers und späteren US-Vizepräsidenten Charles G. DawesDawes, Charles G. wurde ein Kompromiss gefunden mittels der Kürzung des Gesamtbetrages um die Hälfte sowie der Reduktion der jährlichen Zahlung auf vorläufig 1 Milliarde Mark. Spätestens nach fünf Jahren musste die jährliche Rate aber auf 2,5 Milliarden steigen. Finanziert werden sollte die Summe durch neue Steuern und amerikanische Anleihen. Unter dem Vorsitz Ramsay MacDonaldsMacDonald, Ramsay ratifizierte die Londoner Konferenz von 1924 diese Vereinbarung und hob auch die Pattsituation auf, die durch die Ruhrbesetzung verursacht worden war.5

Diese Lösung verbesserte das internationale Klima hinreichend, um weitere Schritte in Richtung Kooperation zu tun. Dazu gehörten auch die Verträge, die der deutsche Außenminister Gustav StresemannStresemann, Gustav, sein britischer Amtskollege Austen ChamberlainChamberlain, Austen und Frankreichs Premierminister Aristide BriandBriand, Aristide 1925 in Locarno schlossen. Es handelte sich um Nichtangriffsvereinbarungen, mit denen die drei Länder die neuen Westgrenzen des Deutschen Reiches ratifizierten, wie sie in Versailles gezogen worden waren. Des Weiteren gab es in LocarnoLocarno Schiedsabkommen mit Polen und der Tschechoslowakei, die freilich nur festlegten, dass man künftig Streifragen gewaltfrei regeln wolle. So eröffnete sich für Deutschland die Chance auf eine friedliche Revision jenes Teils des Versailler Vertrages, der die Ostgrenzen betraf. Dieser Kompromiss verschaffte den Westmächten die Gewissheit, dass ihre Besitztümer sich außer Gefahr befanden. Zugleich vergalt er den Deutschen ihre »Erfüllungspolitik« mit der Hoffnung, dass die Verluste im Osten vielleicht nicht unbedingt dauerhaft seien – eine Hoffnung, die allerdings in Polen für Unruhe sorgte. Der versöhnliche »Geist von LocarnoLocarno« zeitigte eine Phase der Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, die nicht nur möglich machte, dass BerlinBerlin 1926 dem Völkerbund beitrat, sondern auch, dass die französischen und belgischen Truppen schon 1930, also fünf Jahre früher als ursprünglich vorgesehen, das RheinlandRheinland räumten.6 Obwohl sich der dabei demonstrierte good will als flüchtig erwies, zeigte LocarnoLocarno doch, was die zwischen den Kriegen versuchte Versöhnungspolitik hätte erreichen können, wäre sie nur mit mehr Ernsthaftigkeit betrieben worden.

Mit dem Nachlassen der Spannungen in Europa wurde es denkbar, dem dornigen Problem der Reparationen dadurch zu Leibe zu rücken, dass man die Ansprüche der Sieger noch weiter hinunterschraubte. Zwischen den meisten unparteiischen Beobachtern bestand mittlerweile Einigkeit, dass die Bürde für die deutsche Regierung zu schwer war. Erzwänge man die volle Begleichung, hätten die Rechten leichtes Spiel damit, die Weimarer Republik des Ausverkaufs zu zeihen. 1929 präsentierte deshalb eine internationale Kommission unter Leitung des US-Industriellen Owen D. YoungYoung, Owen D. folgenden Plan: Der Gesamtbetrag solle auf 115 Milliarden Mark reduziert werden, zahlbar in 59 Jahren, nur ein Drittel der Zwei-Millionen-Rate würde jährlich fällig, den Rest könne Deutschland später nachreichen.7 Freilich wurde mit dem Zusammenbruch der Wall-Street-Börse auch diese Summe illusorisch. Präsident Herbert HooverHoover, Herbert sah sich veranlasst, 1930 ein einjähriges Moratorium zu verkünden – in der Hoffnung, später würden die Zahlungen wieder aufgenommen. Doch die Große Depression wirkte so verheerend, dass man 1932 auf einer Konferenz in LausanneLausanne den Betrag um weitere 90 Prozent senkte, und als selbst diese Summe ein Ding der Unmöglichkeit schien, durfte Deutschland sich für zahlungsunfähig erklären. Nur ein Achtel des Totums wurde je gezahlt; die Bundesrepublik überwies den letzten Abschlag 2010!

 

Obwohl die Emotionen der Bevölkerung die Versöhnung schwierig machten, bewies die in der zweiten Hälfte der 1920er schrittweise erfolgende Annäherung doch, dass Kooperation möglich war, wenn man sich nur ernsthaft genug darum bemühte. Aber das Erinnern an die Millionen toter und verstümmelter Soldaten, die Kriegerdenkmäler, die dafür errichtet wurden, und das Veranstalten von Veteranenparaden hielten den Hass gegen die ehemaligen Feinde lebendig. Viele Probleme, wie die neuen Grenzen und ethnische Minderheiten, waren unausräumbar, da konnten die Rahmenbedingungen noch so gut sein. Dennoch bot der Völkerbund ein vielversprechendes Forum für internationale Debatten und Konfliktlösungen – sofern die streitenden Parteien Bereitschaft zeigten, sich seinen Entscheidungen auch zu fügen. Die Sieger bemerkten zunehmend, dass ein Entgegenkommen bei bestimmten Punkten die Verlierer dazu bringen konnte, die übrigen zu beherzigen, während es den Niedergeworfenen langsam dämmerte, dass sie vielleicht ein paar der Bestimmungen würden modifizieren können, wenn sie den Rest des Vertrages akzeptierten. Damit sich der Abgrund des Misstrauens ein Stück weit schloss, bedurfte es eines langwierigen diplomatischen Prozesses, unterstützt durch eine freundliche Berichterstattung in den Medien. Nach LocarnoLocarno schien solch ein Fortschritt gar nicht mehr fern, doch als neue Unruhen den guten Willen auf die Probe stellten, erwies sich seine mangelnde Belastbarkeit.8