Steine brennen nicht

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Auch er schien beschenkt worden zu sein, denn er sah satt und zufrieden aus.

Während Effel die paar Schritte zu dem vereinbarten Treffpunkt zurückkehrte, ging die Sonne auf und es versprach, wieder ein schöner Tag zu werden.

Perchafta erwartete ihn bereits und diesmal erkannte Effel ihn sofort. Er lehnte an einer Wurzel und lachte Effel entgegen:

»Aber ich bin Effel und ich bin hier«, imitierte er freundlich lachend die letzten Traumworte.

»Also habe ich es doch laut gerufen und ich dachte, es sei nur im Traum gewesen.«

»Nun, jedenfalls so laut, dass ich es bis hierher hören konnte, aber verlegen zu sein brauchst du deswegen nicht, im Gegenteil. Es ist ein schönes Zeichen, sehr symbolisch. Es ist eine gute Voraussetzung für deine erste Reise in die Anderen Welten. Ich sehe es dir an, dass du bereit bist.«

Effel fühlte sich heute Morgen sehr gut. Er wusste nicht, ob das an seinem lebhaften Traum lag, an den er sich in allen Einzelheiten erinnern konnte, oder ob das Frühstück sein Wohlbefinden verursacht hatte. Vielleicht war es auch einfach das Gefühl, dass jetzt seine Reise wirklich begonnen hatte.

»Zunächst möchte ich mich für das wunderbare Frühstück bedanken, Perchafta, es war doch von dir?«

»Direkt von mir war es zwar nicht, aber ich werde deinen Dank gerne weiterleiten, doch nun lass uns aufbrechen, Effel, der Zeitpunkt ist günstig.«

»Und du wirst bei mir sein?«, Effel war immer noch ein wenig skeptisch.

»Ich werde bei dir sein, auch wenn du es manchmal vergessen wirst.«

»Wieder so eine rätselhafte Aussage«, dachte Effel.

»Darf Sam mitkommen?«, fragte er.

»Sam wird hier bleiben müssen, er hätte ohnehin nichts davon. Vielleicht geht er währenddessen auf seine eigene Reise. Jedenfalls wird er dich hier bestimmt wieder erwarten.«

Perchafta winkte mit seiner kleinen Hand den Hund zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Sam sich niederlegte.

Dann schickte Perchafta sich an, tiefer in den Wald zu gehen, für Effel ein unmissverständliches Zeichen, dem Krull zu folgen. Vorher kniete er aber noch nieder, um Sam zu streicheln und ihm Lebewohl zu sagen. Dann beeilte er sich.

Seine Augen gewöhnten sich immer besser an den Krull. Er konnte ihn mühelos erkennen, wie er dort vorne sehr zielstrebig seinen Weg durch den dichter werdenden Wald fand.

Er hatte ihn bald eingeholt, denn Perchafta blieb immer mal wieder stehen. Er schien dann und wann mit einem Käfer zu plaudern oder er hielt an, um Ameisen vorüberzulassen. Er schien sich hier bestens auszukennen. Jetzt liefen sie nebeneinanderher und bald darauf, sie waren vielleicht 15 Minuten gegangen, kamen sie auf einer kleinen Lichtung an. In der Nähe musste eine Quelle sein, denn Effel hörte das Plätschern von Wasser. Sonst war es angenehm still im Wald. Eine Taube flog vorüber, ihr Flügelschlag verhallte.

In der Nähe eines kleinen Teiches, der von der Quelle gespeist wurde, ließ Perchafta sich nieder und deutete Effel an, es ihm gleichzutun. Es war am Fuße einer uralten Eiche. Gleich neben dem Krull war ein sehr bequemer Platz, mit weichem Moos dick gepolstert. Effel setzte sich.

»Machen wir jetzt schon eine Rast?«, fragte Effel.

»Nein, wir sind angekommen, hier ist heute der Eingang zu einer Welt, die ihr die untere nennt. Man könnte sie allerdings auch die obere nennen, aber lass uns nicht mit Definitionen aufhalten.«

»Hier? Ich kann nichts Besonderes erkennen.« Effel schaute sich nach allen Seiten um. Er hatte sich den Eingang ganz anders vorgestellt, irgendwie geheimnisvoller, mystischer.

»Das Tor ist nicht außen, es ist innen.« Perchafta hatte sich vorgebeugt, seine Stimme klang ein wenig leiser als sonst.

»Schaue nach innen, mein Freund, dort ist die Tür.«

Effel wurde ganz warm ums Herz. Perchafta hatte ihn »Freund« genannt und seine kleine Hand auf seine Schulter gelegt. Und da geschah etwas, was ihn vollkommen verblüffte. Der Krull strahlte eine solch lebendige Energie aus, die alles um ihn herum verblassen ließ. Eine wohlige Wärme floss zu ihm hinüber. Es war wie Magie, denn er entspannte sich auf eine unglaublich angenehme Art und Weise, sein Atem wurde ruhiger, die Augen fielen langsam zu, seine Muskeln schienen irgendwie weicher zu werden und er lehnte sich an den Stamm des Baumes an.

»Komisch«, dachte er, »ich bin noch nicht einmal müde, nur mein Körper scheint irgendwie willenlos zu werden. Was ist, wenn der Krull gar kein Freund ist?«, sprang es ihn aus seinem tiefsten Unbewussten an. Gleichzeitig war es ihm, als würde jemand in seinem Kopf über diesen Gedanken lachen. Dieses innere Zwiegespräch spielte sich jedoch nur am Rande seiner bewussten Wahrnehmung ab.

Das Plätschern der Quelle drang gedämpft in sein Bewusstsein und Perchaftas Stimme, sanft und weich, die ihm empfahl, sich einfach mehr zu entspannen, nach innen zu schauen, sich den Bildern hinzugeben, zu träumen - und dann war kein Denken mehr da. Er hatte sich inzwischen hingelegt, das hatte sein Körper irgendwie von ganz alleine gemacht.

Er sah sich, zunächst wie durch ein Kaleidoskop, in Mindevols Haus. Es war Winter. Das Feuer im Kamin verbreitete eine wohltuende Wärme in dem behaglichen Raum und an den kleinen Fenstern klebten Eisblumen. Effel saß am großen Ahorntisch, Hand in Hand mit Saskia, und rührte mit einem Löffel in seinem Tee.

Das Bild wurde klarer.

Vor ihnen auf dem Boden lag Sam und schlief, den Kopf auf Saskias Füssen. Effel liebte den würzigen Rauch des Tees. Mira, Mindevols Frau, war eine Meisterin im Zubereiten von Kräutertees und wohlschmeckenden Gewürzmischungen. Sie wusste, dass jeder Tee, jedes Gewürz und jedes Kraut auch Medizin waren, wenn sie zur richtigen Zeit in der genau bemessenen Menge eingenommen würden. Durch jahrelange Übungen hatte Mira sich das Wissen ihrer Großmutter, einer Zauberheilerin, angeeignet und inzwischen gab sie dieses Wissen in ihrer kleinen Heilkundeschule auch weiter. Das Auffälligste an Mira war ihr dickes, lockiges Haar, das sie immer mit einem farbigen, breiten Band zu bändigen versuchte.

Ihre Bewegungen waren geschmeidig und sie schien nie etwas unbewusst zu tun.

In der Runde um den Tisch befanden sich mehrere Dorfbewohner.

Soko, der Schmied, Sendo, der Korbmacher, Birja, die Lehrerin und Susa, Sokos alte Mutter.

All das sah Effel jetzt ganz genau, wie in einem Film. Mindevol saß in seinem behaglichen Ohrensessel und Minka, die wohlgenährte Lieblingskatze, schnurrte in seinem Schoß.

Ein Auge hatte sie immer wachsam auf Sam gerichtet, das andere geschlossen. So machte sie einen demonstrativ entspannten Eindruck, der sich in das Gegenteil verwandeln würde, wenn Sam ihr zu nahe käme. Sie traute einem Hundefrieden nie. Mindevol liebte das Gespräch mit Freunden um diese Zeit des Tages ganz besonders.

Obwohl Effel auf einer Waldlichtung lag und neben ihm ein Krull saß, konnte er sich in aller Ruhe die Bilder aus seiner Vergangenheit, die sich seinem inneren Auge zeigten, anschauen und gleichzeitig hörte er auch noch das gedämpfte Plätschern der Quelle, die in der Nähe war.

Neben Mindevol saß Malu auf einem Hocker und spielte bekannte Lieder auf seiner Gitarre, die er leise summend begleitete. Mira bediente ihre Gäste wie immer mit fröhlicher Gelassenheit. Mal goss sie Tee in eine der Tassen nach, mal brachte sie Gebäck. Sie wurde von den anderen mit der gleichen Dankbarkeit und Achtung behandelt wie ihr Mann. Es gab kaum jemanden in Seringat, dem sie nicht zumindest einmal durch ihre Heilkunst geholfen hatte.

Effel war überrascht, wie viele Einzelheiten er sehen konnte, und auch darüber, wie schnell Gedankenverbindungen zu den Bildern kamen. Er erinnerte sich sogar an die Tageszeit. Es war später Nachmittag, die Stunde kurz vor der Dämmerung, für Effel die behaglichste des Tages. Er hatte gerade zu Saskia gesagt, dass er morgen früh gleich nach den Beeten schauen wolle, als es klopfte. Malu, der der Tür am nächsten saß, legte sein Instrument beiseite und stand auf, um zu öffnen. Die Katze war mit einem leisen Mauen von Mindevols Schoß herunter gesprungen und mit einem für ihre Körperfülle unglaublich eleganten Sprung auf der Fensterbank gelandet. Ihr Schwanz zuckte nervös. Gleichzeitig war Sam mit gesträubten Nackenhaaren, leise knurrend aufgestanden. Alle Anwesenden schauten gebannt zur Tür, denn es war ungewöhnlich, dass jetzt noch jemand aus dem Dorf kam. Normalerweise war man mit Vorbereitungen für das Nachtessen beschäftigt.

Heute war der dritte Vollmond des Jahres und es würde - wie in jedem Monat - ein Fest im Dorfhaus geben.

Als die Tür offen stand, war das Erste, das Effel bemerkte, wie dunkel es draußen bereits war. Nur das Dorfhaus war hell erleuchtet und sein Licht brachte den Schnee auf dem Platz davor zum Glitzern, da, wo er noch nicht niedergetrampelt war.

Es hatte Ende März noch einmal viel Schnee gegeben. Man konnte die Leute aus dem Dorf geschäftig umhergehen sehen, sogar die weißen Atemwolken waren zu erkennen. Fast jeder trug irgendetwas in Händen, seinen Beitrag zum Fest.

Eine in einen dunkelgrauen Mantel gehüllte Gestalt trat in die Tür und versperrte damit den Blick auf den Dorfplatz. Sie blieb auf der Schwelle stehen. Nachdem sie die Kapuze zurückgeschlagen hatte und eingetreten war, erkannte Effel, dass es ein Mann war. Über seiner linken Schulter hing eine mächtige Armbrust. Malu hatte auf einen kurzen Wink Mindevols hin den Weg freigegeben und seine Hand lag noch um die Türklinge. Sein Blick ging zwischen dem Besucher und Mindevol hin und her.

Jetzt, im Schein des Feuers und der Kerzen, konnte man den Fremden besser erkennen. Seine Haut war von bronzenem Schimmer, ganz anders als bei den Menschen, die Effel bisher gesehen hatte. Sein Gesicht konnte man schön nennen. Er war groß gewachsen, Malu wirkte klein neben ihm. Er mochte um die 40 Jahre alt sein. Das Eis an seinem mächtigen Schnurrbart begann zu schmelzen und unter ihm bildete sich bereits Tropfen für Tropfen eine kleine Wasserlache. Das Auffälligste an ihm aber war, dass er schwarze Augen hatte und der Kontrast brachte das Weiß der Augäpfel fast zum Leuchten.

 

Kapitel 6

Professor Rhin war aufgestanden um Nikita zu begrüßen, und ging dann wieder hinter seinen Schreibtisch, nicht jedoch ohne ihr den Platz davor anzubieten.

Nikita musste innerlich immer schmunzeln, wenn sie dabei zusah, wie der Professor seine zwei Meter Körpergröße in dem Schreibtischsessel zusammenfaltete.

»Nikita, ich hätte Sie nicht so schnell hergebeten, wenn es nicht außerordentlich wichtig wäre«, eröffnete er das Gespräch noch im Hinsetzen. »Wir brauchen jemanden für eine besondere Aufgabe und ich will direkt zur Sache kommen: Wir haben dabei an Sie gedacht.« Jetzt saß er.

»Sie sind sowohl körperlich als auch geistig in Topform. Was für die Durchführung dieses Auftrages aber auch Grundvoraussetzung ist, Sie sind wissenschaftlich auf dem Laufenden wie kaum ein anderer. Ich versichere Ihnen, dass es wohl nie wieder eine solche Gelegenheit für Sie geben wird, einen gewaltigeren Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Ja, ich darf sagen, wenn Sie Erfolg haben, werden Sie in die Geschichte der Wissenschaften eingehen.«

Seine stahlgrauen Augen fixierten sie, als wolle er testen, wie sie auf solch eine Ankündigung reagierte.

»Selbstverständlich testet er mich, aber warum? Und warum trägt er so dick auf?«, dachte Nikita bei sich. Er ist die Kapazität auf dem Gebiet der Verhaltensbiologie. Seine frühen Arbeiten handelten von Stressoren und den unbewussten menschlichen Reaktionen darauf. Seinen Forschungen war die Entwicklung vieler segensreicher Medikamente zu verdanken, so konnte zum Beispiel die biologische Halbwertszeit des Cortisols, des Hormons, das beruhigend auf den Hypothalamus wirkt, von 90 Minuten auf vier Stunden verlängert werden. Professor Rhin hatte drei Doktorate und 43 Ehrendoktorate. Er war Mitglied in mehreren Duzend der renommiertesten wissenschaftlichen Vereinigungen. Er hatte seinen internationalen Respekt nicht nur für seine wissenschaftlichen Errungenschaften erhalten, sondern auch durch seinen Einsatz im praktischen Umsetzen seiner Arbeiten. Seine Bücher waren Bestseller.

Komisch, dass sie sich jetzt in diesem Moment daran erinnerte. Aber Verhaltenspsychologie war auch ihr Lieblingsfach gewesen. So gelang es ihr, ihre Gesichtszüge entspannt aussehen zu lassen und den Professor auch weiterhin direkt anzublicken.

Ihre Füße konnte er von dort aus nicht sehen, sonst hätte er bemerkt, dass ihr linker übergeschlagener Fuß nach oben zuckte. Ihr selbst aber fiel es auf und sie fand im gleichen Moment die These bestätigt, dass der Körper nicht lügen kann.

Was er aber bemerkte war, dass sie immer noch hoch atmete, deshalb fuhr er fort, indem er sich zurücklehnte:

»Ich möchte Ihnen auch genauer erklären, warum unsere Wahl auf Sie gefallen ist. Möchten Sie etwas trinken?«

War er ihr anfangs ziemlich steif vorgekommen, so fand er jetzt zu seiner gewohnten Lockerheit und Umgänglichkeit zurück.

Genau das, was Nikita an ihrem Chef so zu schätzen gelernt hatte. In den letzten Monaten ihrer Zusammenarbeit war eine Vertrautheit zwischen ihnen entstanden, die Nikita bei niemand anderem im Team sonst beobachtet hatte.

»Danke, einen Kaffee vielleicht, ich werde Alma Bescheid sagen. Möchten Sie einen neuen, Ihrer sieht kalt aus?« Im Kaffeetrinken wäre der Professor sicher Weltmeister geworden, wenn es solche Meisterschaften gegeben hätte. Nikita erhob sich, um bei Alma, der Sekretärin, das Gebräu in Auftrag zu geben.

Der Professor gehörte, was seine Arbeit anbetraf, sicherlich zu den fortschrittlichsten Menschen auf diesem Planeten. Aber in puncto Sekretariat, und hier im Besonderen das Kaffeekochen, war er bestimmt der Altmodischste. Er hatte auf einer eigenen Sekretärin bestanden und diese natürlich auch genehmigt bekommen.

Das ganze Institut amüsierte sich über diese Marotte und Alma liebte ihren Chef abgöttisch, aber platonisch.

Als Nikita sich wieder setzte, blickte ihr Chef von seinen Unterlagen auf und legte seine Stirn in Falten.

»Es handelt sich um eine Reise«, nahm er den Faden wieder auf, »um eine weite Reise mit ungewissem Ausgang und auch nicht ganz ungefährlich. Das kann und möchte ich Ihnen nicht vorenthalten.« Nikita beugte sich interessiert nach vorne. Der Professor hatte es spannend genug gemacht.

»Sagt ihnen das Projekt: Energie aus Myon-Neutrino-Feldern etwas?« Er hatte die Worte gedehnt ausgesprochen.

»Ja«, antwortete sie, »ich habe darüber gelesen. Es gab einen Forschungsauftrag, den meine Uni gerne bekommen hätte.

Wenn ich richtig informiert bin, geht es bei diesem Projekt um die Gewinnung von Strom und Licht direkt aus dem Äther. Aber das Projekt wurde doch wegen Undurchführbarkeit ad acta gelegt, obwohl es fast alle unsere Probleme lösen würde.

Ich war auf dem Jahreskongress meiner Universität und dort bei einem Vortrag von Dr. Wenstin, der sich wohl mehr als zehn Jahre lang mit dieser Materie beschäftigt hat, immerhin mit einem Stab von 15 fähigen Leuten und mächtigen Sponsoren im Rücken. Er meinte damals, man müsse dieses Projekt aufgeben, es würde nie möglich sein, eine solche Maschine zu bauen und man müsse sich jetzt wieder anderen Ideen zuwenden.

Ich erinnere mich noch ganz genau an seine Schlussworte: ››Weisheit kann auch bedeuten, zu erkennen, wann man auf dem

Holzweg ist‹.« Dabei ahmte Nikita Dr. Wenstins näselnde Stimme gekonnt nach. »Ich dachte damals noch: Eine teure Weisheit.«

»Das Projekt ›Myon-Neutrino‹ ist nicht gestorben und auch nicht ad acta gelegt, Nikita«, fuhr Professor Rhin fort.

»Man hat es Dr. Wenstin entzogen und es wurde ihm nahe gelegt, vor dem Kongress die Aussage zu machen, die Sie eben zitiert haben. Lediglich offiziell ist die Arbeit an diesem Projekt damit beendet worden, verstehen Sie?

Dr. Wenstin hatte ein Problem. Er konnte es nicht lassen, in seinem Bekanntenkreis und wer weiß noch wo mit seinen Forschungsergebnissen zu prahlen. Man musste befürchten, dass dadurch auch die Konkurrenz davon Wind bekommt. Wir waren also gezwungen, den Kongress einzuberufen, das Projekt öffentlich zu machen und im gleichen Atemzug auch zu begraben. Eine für uns sehr unangenehme Geschichte, obwohl er schon weit gekommen war.«

»Hatte Dr. Wenstin nicht erkannt, dass es falsch war, den Äthergedanken zu verdammen und durch das Prokrustesbett, einer für ruhende wie für bewegte Quellen und Beobachter gleich großen mathematisch konstanten Ein- und Zweiweglichtgeschwindigkeit zu ersetzen, nur weil man die Geschwindigkeit der Erde gegenüber dem Äther und die Einweglichtgeschwindigkeit nicht messen konnte?« Nikita erinnerte sich genau an die Veröffentlichung.

»Das stimmt, Nikita. In Analogie zu Luft und Schall«, dozierte Professor Rhin, »sah bereits die Äthertheorie des 19. Jahrhunderts in einem im Raum ruhenden Äther das Ausbreitungsmedium für elektromagnetische Wellen. Immerhin eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, unter welchen Bedingungen damals geforscht wurde. Auf den ersten Blick scheint der Äther, der kosmische Urstoff, mit dem Einzug der Relativitätstheorien Albert Einsteins in die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts aus selbiger verbannt worden zu sein. Doch der Schein trügt. Denn bereits Einstein versuchte, den Äther über Quantenfelder wieder einzuführen. Früher beobachteten Philosophen zunächst die Natur und leiteten dann Gesetzmäßigkeiten aus den wahrgenommenen Phänomenen ab.

Soweit die Fortschritte in der Mathematik dies erlaubten, beschrieben sie als solche erkannte ›Naturgesetze‹ auch auf mathematische Weise. Seit Einstein gehen Naturwissenschaftler bei ihren Beobachtungen immer häufiger umgekehrt vor: Sie untersuchen die bereits formulierten Naturgesetze auf mathematische Weise, um aus ihnen ›Naturgeschehen‹ herzuleiten.

Widersprechen reale Erscheinungen dabei den mathematisch gewonnenen Erkenntnissen, verliert dieser Teil unserer Realität gelegentlich seine Existenzberechtigung. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Erhält man Ergebnisse, die sich in der Natur so gar nicht wieder finden lassen, werden die mathematischen ›Rätsel‹ schlichtweg zum Bestandteil unserer Natur erklärt.«

Jetzt war Nikita in ihrem Element. Sie liebte philosophischwissenschaftliche Diskussionen.

»Haben sich nicht selbst schon Wissenschaftler der Antike Gedanken um den Äther gemacht? Und hat sich nicht sogar die Wissenschaft der Magie mit diesem Phänomen befasst? Was war mit dem fünften Element gemeint?«

»Das fünfte Element nannten manche Wissenschaftler, aber auch Philosophen, den Himmel, manche nannten es Licht, andere Äther.« Jetzt hatte auch der Professor Feuer gefangen und fuhr fort: »Im Äther finden wir die feinsten Eigenschafen der anderen Elemente ebenso wie das, was dem Äther selbst eigen ist. Dies ist auch der Grund dafür, dass in der so genannten niedrigen Magie oft der Äther überhaupt nicht erwähnt wird; man dachte, dass das Element selbst ohnehin auch die feinsten Essenzen in sich trägt. Dass aber der Äther auch Eigenständigkeit besitzt, erschien nur jenen, die sich in ihm verwirklichen konnten, erarbeitungswert.«

»Die Vier-Elemente-Lehre wurde doch auch von griechischen Philosophen weiterentwickelt. Platon ordnete meines Wissens jedem der vier Elemente einen regelmäßigen Körper zu.

Aristoteles wiederum gab den vier Elementen die Eigenschaften warm/kalt, trocken/feucht. Aristoteles fügte dann den Äther als fünftes Element, die so genannte Quintessenz, hinzu«, erinnerte sich Nikita jetzt wieder.

»Sicher«, bestätigte Professor Rhin, »vieles von dem, was wir heute wissen, verdanken wir der Vorarbeit mutiger Generationen von Wissenschaftlern. Dr. Wenstin war auf einer guten Spur, leider mit den erwähnten Nebenwirkungen. Inzwischen kann er nicht mehr angeben, denn er erlitt kurz darauf tragischerweise einen Herzinfarkt. Eine seltene Krankheit heutzutage.

Der Forschungsauftrag, den Ihre Universität so gerne bekommen hätte, kam von der Firma, für die Sie heute arbeiten, von BOSST. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass es im Interesse eines Auftraggebers ist, solch ein Projekt geheim zu halten.«

Nikita konnte ihre Überraschung kaum verbergen.

»Oh ja, das glaube ich«, antwortete sie, »das Unternehmen, das ein Gerät oder eine Maschine entwickeln würde, mit deren Hilfe man Energie aus Myon-Neutrino-Feldern gewinnen kann, hätte wohl alles auf seiner Seite.«

»Das kann man so sagen«, Professor Rhin nickte, »und die Menschen, die sie bauen würden, auch. Es gibt in diesem Zusammenhang neue Erkenntnisse, Nikita, um die es in unserem Gespräch gehen wird.«

»Sie machen es spannend, Herr Professor, was soll ich bei dieser ganzen Angelegenheit für eine Rolle spielen? Wollen Sie mir etwa diesen Forschungsauftrag zutrauen?«

»Das ist nicht mehr nötig, Nikita. Das Verfahren gibt es nämlich schon. Es wurde bereits vor mehr als 1100 Jahren entwickelt.« Professor Rhin beobachtete Nikita hierbei genau.

Es kam nicht oft vor, dass Nikitas Mund vor Staunen offen blieb, jetzt aber war es so »Habe ich Sie richtig verstanden, dass es vor 1100 Jahren schon ein Verfahren gab, mit dem man einen Großteil der damaligen Probleme hätte lösen können? Und dass es dennoch nicht angewandt wurde?«

»Ja, das stimmt. Das kann aber mehrere Gründe haben. Ein Grund - man war technisch einfach noch nicht so weit, diese Maschine zu realisieren.

Oder man hielt es aus irgendwelchen, heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht für opportun. Vielleicht wurde dem Entwickler auch zu wenig Geld geboten.

Oder, ganz einfach, die Pläne wurden ihm gestohlen.

Es wäre übrigens nicht die erste Erfindung, die des Geldes wegen zurückgehalten wurde. Schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Beispiel war ein Automobilantrieb erfunden, der nur mit Sonnenenergie lief. Die Ölmultis zahlten dem Erfinder zehn Millionen Dollar dafür, dass er seine Erfindung in der Schublade ließ. Er nahm das Geld.«

»Wenn es nicht mehr nötig ist, dieses Verfahren zu entwickeln, was soll ich dann bei der ganzen Angelegenheit noch machen? Lassen Sie uns dieses Ding bauen, Professor.«

 

»Schön, wenn es so einfach wäre, Nikita«, sagte der Professor und lächelte.

»Das Verfahren wurde zwar entwickelt, Nikita, aber bisher nur theoretisch. Es gibt bislang lediglich die Pläne, also die Unterlagen für den Bau dieser Maschine. Wir haben die Pläne nicht, noch nicht, aber Sie sollen sie beschaffen. Sie sind gescheit, Nikita, Sie sind ausdauernd und nach unserer Meinung die richtige Frau für diese Aufgabe. Von ganz oben ist man auf Sie aufmerksam geworden, vielleicht freut es Sie, das zu hören.«

Der Professor hatte Nikita immer noch sehr genau im Visier. Verriet sie etwas?

Nein, sie schien wirklich keine Ahnung zu haben. Noch nicht einmal aus ihrem Unbewussten kam eine Reaktion.

»Was soll daran so schwierig sein, diese Unterlagen zu bekommen, ist nicht alles in den Archiven gespeichert? Warum wusste Dr. Wenstin das nicht?«, fragte Nikita, ohne sich durch die offensichtliche Schmeichelei besonders beeindrucken zulassen.

»Die Dokumente und Baupläne, wahrscheinlich in Form von Schriftrollen, befinden sich in dem Teil der Welt, zu dem wir offiziell keinen Zugang haben.« Jetzt war die Katze aus dem Sack.

»Das ist der Haken an der Sache, Nikita. Wenn wir eine Art diplomatische Anfrage stellen würden, bekämen wir die Unterlagen nicht. Wir müssen sie uns also auf einem anderen Weg beschaffen. Und dieser Weg sind unserer Auffassung nach Sie, Nikita. Wir glauben an Sie. Ein Mensch, der sich drüben schnell anpassen kann, wird nicht auffallen. Außerdem haben Sie das Wissen, die Unterlagen zu erkennen, wenn sie vor Ihnen liegen. Wir werden Ihnen die Arbeiten von Dr. Wenstin zur Verfügung stellen, lesen Sie sich ein. Was wir noch haben, erhalten Sie auf elektronischem Weg. Uns ist natürlich bewusst, dass wir damit bestehende Verträge verletzen, aber bedenken Sie den Wert, den diese Unterlagen bedeuten, Nikita.«

Nikita brauchte für ihre nächste Frage länger als sonst.

»Das hieße für mich«, fasste sie zusammen, »eine Reise von unbestimmter Dauer in ein Land, das ich nicht kenne. Wo soll ich mit der Suche beginnen, wenn ich drüben bin? Wenn ich überhaupt so weit komme. Die Menschen dort werden mir nicht gerade wohl gesonnen sein, wenn sie entdecken, warum ich da bin. Wie gefährlich schätzen Sie das alles ein? Und was meinen Sie mit anpassen?«

»Wenn Sie nicht besonders auffallen und es schnell geht, dürften Sie ziemlich sicher sein. Kontakt zu den Anderen müssen Sie natürlich aufnehmen, denn wir sind überzeugt, dass man drüben auch irgendwelche Aufzeichnungen, zum Beispiel in alten Bibliotheken, finden kann. Wir können Ihnen allerdings nicht mit einer Armee zu Hilfe kommen, das müssen Sie verstehen. Zu viel steht auf dem Spiel. Es darf auch nie ein Verdacht aufkommen, dass die Firma etwas damit zu tun hat.

Nichts darf von diesem Auftrag bekannt werden. Sie sind dort ganz alleine auf sich gestellt, Nikita, wir werden aber immer in Verbindung bleiben. Wir haben selbstverständlich Informationen über die Lebensweise in diesem Teil der Welt. Man kann sagen, sie ist so ziemlich das Gegenteil unserer eigenen.

Lesen Sie alles, was Sie über die Zeit vor der Industrialisierung bekommen können, dann wissen Sie in etwa, wie man dort lebt.«

»Also eine Reise in die Steinzeit?« Nikita konnte es kaum glauben. »Ich hoffe, Sie verstehen, Herr Professor, dass ich nicht gleich zusagen kann. Dazu brauche ich Bedenkzeit. Das muss ich mir erst einmal alles durch den Kopf gehen lassen.

Geben Sie mir wenigstens einen Tag Zeit, ich bitte Sie. Woher weiß man eigentlich, dass die Unterlagen drüben sind und nicht hier?«

»Weil sie nur drüben sein können. Unterschätzen Sie diese Zeit nicht, Nikita. Denken Sie doch nur an die griechischen Philosophen, die haben noch früher gelebt. In unserem Teil der Welt wurde zu der damaligen Zeit überhaupt noch nicht geforscht.

Einen Tag bekommen Sie, alles andere würde die Sache unnötig verzögern, Nikita. Ich gebe Ihnen heute frei. Gehen Sie Golf spielen und treffen Sie die richtige Entscheidung. Ich möchte es noch einmal betonen, dass die Zeit drängt. Wenn die andere Seite auf irgendeine Art und Weise gewarnt wäre, würde das für Sie nur zusätzliche Erschwernis bedeuten.«

Der Professor sagte Nikita nicht, was genau er damit meinte.

Nachdem Nikita gegangen war, betrat Professor Rhin den kleinen Raum, der unmittelbar an sein Büro anschloss und den keiner seiner Mitarbeiter kannte. Nachdem sich die Tür hinter im geschlossen hatte, betätigte er einen Knopf und der Raum setzte sich zunächst langsam, dann schneller in Bewegung. Er glitt nach unten in die Tiefe der Erde. Die leuchtenden Zahlen an einer der Wände verrieten ihm den Fortgang seiner Fahrt. Schon nach ca. einer Minute erschien die Zahl 20. Er war angekommen und die Tür glitt auf. Vor ihm lag ein großer, achteckiger Raum, der beherrscht wurde von einer riesigen Leinwand und einem ebenfalls achteckigen Pult mit einem Durchmesser von acht Metern in der Mitte des Bereichs.

Professor Rhin nahm auf einem der Stühle Platz und betätigte mit sicherer Hand einen der vielen Schalter. Der Raum dunkelte sich selbsttätig ab und die Leinwand wurde heller, als die Silhouetten von acht Menschen dort sichtbar wurden. Sie schienen sich irgendwo an einem runden Tisch zu befinden. Mehr konnte der Professor nicht erkennen.

»Ich hoffe, Sie können uns Positives berichten, Herr Professor. Sie wissen, dass die Zeit drängt.«

Den Eigentümer der Stimme, die aus dem Lautsprecher kam, kannte Professor Rhin als Einzigen aus der Runde, persönlich.

Von den anderen kam ab und zu eine Frage oder ein Kommentar.

Außer Mal Fisher hatte er noch niemanden aus dieser dunklen Runde zu Gesicht bekommen, immer nur ihre Schatten. Das Einzige, was er aus seinen Beobachtungen wusste, war, dass es sich neben Mal um weitere vier Männer und drei Frauen handelte. Natürlich war im klar, dass die Acht nicht wirklich am gleichen Tisch saßen, sondern sich, von wo auch immer auf der Welt, an diesen virtuellen Ort projizierten.

»Es tut mir Leid, Sir, aber sie hat sich noch Bedenkzeit ausgebeten. Ich denke aber, sie wird es machen, sie ist ehrgeizig und liebt Herausforderungen. Ihr Persönlichkeitsprofil prädestiniert sie geradezu, wenn sie nicht sowieso schon aus anderen Gründen die Richtige wäre.«

»Sie können ganz offen reden, Ted. Wir alle wissen, dass Frau Ferrer die Einzige ist, die eine Chance hat. Sie muss einfach zusagen. Der Tatsache, dass wir heute alle versammelt sind, entnehmen Sie bitte nochmals die Dringlichkeit der Angelegenheit, aber das brauche ich Ihnen sicherlich nicht noch einmal zu sagen.«

»Ich bin mir durchaus der Tragweite dieser Aufgabe bewusst, Sir, deswegen habe ich auch nur einer kurzen Bedenkzeit zugestimmt.«

»Nun, Sie wissen sicherlich, was Sie tun, aber allzu viel Zeit bleibt nicht. Wir haben Meldungen darüber, dass die andere Seite gewarnt ist und ihrerseits bereits Vorkehrungen trifft. Es darf nichts schief gehen.«

»Das wird es auch nicht, Sir«, Professor Rhin strahlte Ruhe aus.

»Ich bin mir sicher, dass es Frau Ferrer schaffen wird.«