High Energy

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

5 Modern

Viktor ging gerne sehr früh ins Büro. Manchmal nur, um sich dort in Ruhe der Zeitungslektüre zuzuwenden. Wie heute Morgen. ‚Campus für Lehrlinge und Studenten setzt neue Maßstäbe.‘ An dieser Überschrift blieb er hängen. ‚Gestern öffnete das Wohn- und Ausbildungszentrum für 2300 Jugendliche seine Pforten am Osthafen. „Ich bin begeistert vom Studentenleben mit modernem Wohnraum, Manufakturen und Kulturstätten“, sagte der Bildungsminister. Die Stadt Frankfurt dankte innerhalb der feierlichen Eröffnungszeremonie einem ihrer engagiertesten Unternehmer, Stephan Brückner, Gründer und Vorsitzender der BrueCklean AG, für die außerordentliche Unterstützung dieses Vorhabens. Der Minister sprach von Zukunftsorientierung und Selbstlosigkeit. Namhafte Wirtschaftsvertreter sind an diesem Projekt mit Investitionen und unternehmerischer Praxis beteiligt. Wirtschaftsminister Schulz überzeugte sich vor Ort von ihren innovativen Leistungen. Ausbildungsstandorte in Manufakturen für Bioholzmöbel und faires Modedesign sowie einer veganen Bäckerei beleben den Campus. Die Konzepte der Wirtschaftsvertreter werden vor Ort erprobt und gemeinsam mit den Studenten weiterentwickelt. So setzt das junge Unternehmen BetaLion auf die Zusammenarbeit mit der Jugend und erprobt ihre Kühlschränke mit Produktscannern in der Hauptmensa, wo der Verbrauch der Zutaten bereits bei der Entnahme automatisch erfasst wird. „Anhand dieses Anwendungsbeispiels werden wir unsere Produkte aus der Reihe Fridgescan weiterentwickeln und fit machen für den Einsatz in Krankenhäusern, Altenheimen und Kinderbetreuungseinrichtungen“, sagte der Chef der BetaLion AG. Auch Campus-Förderer BrueCklean wird neben der allgemeinen Hausverwaltung neue Verfahren zur Raumpflege erproben. Weiterhin sei geplant, so der geschäftsführende Inhaber der AG Stephan Brückner, im Verlauf des nächsten Jahres die Stromversorgung einiger Campusareale dezentral auf ökologischer Grundlage sicher zu stellen. „Vielen jungen Menschen wird auch diese Erfahrung neue berufliche Perspektiven eröffnen“, pflichtete Josef Hofmacher, Vorstandsvorsitzender des regionalen Energieversorgers EnVer AG bei. Hofmacher bestätigte außerdem, dass sich sein Unternehmen in Tradition einer erfolgreichen Kooperation mit BrueCklean gemeinsam auf Wege von strategischer Tragweite begeben wird. „Anspruchsvolles Facilitymanagement und progressive Stromversorgung gehören von nun an zusammen. Ich habe vollstes Vertrauen in das neue Vorstandsmitglied für Forschung und Entwicklung bei der EnVer AG, Professor Doktor Viktor Schlegel“, so Brückner.‘

An dieser Stelle legte Viktor die Zeitung empört nieder. Was bildet sich dieser Brückner ein? Der hat vollstes Vertrauen in mich? Da ist ja die Höhe! Er schlug mit der Zeitung auf die Tischplatte und stand auf. Wutschnaubend schritt er im Büro auf und ab. Es half nichts. Hofmacher hatte ihm Hochdruckforschung zugesichert, ohne Störungen, imagegetriebene Miniprojekte oder verfrühte Verlautbarungen. Die Überlegungen bezüglich der Kooperation für die spätere Platzierung der technischen Lösungen waren doch bis gestern Interna gewesen. Hat Hofmacher diesen Brückner nicht besser im Griff? Bloß gut, dass der nicht auch noch den Wasserstoff-Akku erwähnt hatte. Dann wären wir gleichgezogen mit den veganen Brötchen. Angefüllt mit Missbilligungen machte sich Viktor auf den Weg zu Hofmachers Büro. Solche Bekundungen, gleichgültig wo sie abgedruckt waren, störten! Die falschen Rahmenbedingungen und ungenaue Ausdrucksweisen. Zu kleine Projekte und unangemessene Vertrauensbekundungen. Hofmacher, wir wollen doch den Strommarkt, die gesamte Welt der Energieversorgung revolutionieren! Wir müssen uns nicht anschleichen. Aber er selbst schlich auf einmal. Im Flur zu Hofmachers Bürotrakt wurden seine Schritte vom weichen dunkelgrünen Teppichboden abgebremst. Ganz unmerklich war er langsamer geworden und seine Emotionen glätteten sich ein wenig. Auf den in mattem Hellbraun gestrichenen Wänden hingen Aquarelle mit Landschaftsmotiven, die von winzigen Lampen ausgeleuchtet waren. Unsere Fortschritte beim Wasserstoff-Akku und seine Eingliederung in Versorgungsanlagen mit erneuerbaren Energien dürfen auf keinen Fall in die Bastlerecke geraten. Brückner als Fürsprecher und zaghafte Studentenprojekte begründen doch keine Revolution! Warum darf dieser Brückner öffentlich über Themen reden, von denen er keine Ahnung hat? Und was bildet der sich ein, sein vollstes Vertrauen in mich zu bekunden? Viktor fuhr sich durch die Haare, strich über das Sakko und richtete die Krawatte. Wie viele Bilder hängen hier eigentlich?

Er überlegte gerade einen versöhnlichen Einstiegssatz, als Hofmacher bereits an der Tür seines Bürotrakts stand. „Viktor, hast du den Artikel über Brückners Campus gelesen? Wärst du nur dabei gewesen. Es war grandios, eine mitreißende Stimmung, die uns guttat.“

„Ich frage mich, ob das der richtige Anlass und Zeitpunkt gewesen war, auf einen Richtungswechsel der EnVer hinzuweisen“, erwiderte er. „Wir sind der größte Energieversorger, wir sollten unsere Entwicklungen nicht über ein Hintertürchen platzieren.“

„Ach was. Es ist immer gut, wenn man sich in positivem Licht sonnt.“

„Aber von solch einem Projekt war nie die Rede.“

„Wir brauchen aber jetzt schnell etwas für den guten Ruf“, sagte Hofmacher.

„Das bedeutet einen enormen Spezifikationsaufwand, der uns von dem eigentlichen Ziel ablenken wird.“

„Ach was, wir müssen das doch nicht schnell durchziehen. Hauptsache, wir sind erst einmal mit von der Partie.“ Hofmacher wechselte in eine ruhigere Tonlage. „Dieses Projekt hat eine unglaubliche Strahlkraft. Ob wir da drei oder 30 MWh hinstellen, ist doch ganz egal. Von dem neuen Vertrauen in uns werden letztlich alle, erst recht dein Team und auch du ganz persönlich profitieren.“

Ist es Begeisterung oder Artillerie? Bin ich eitel, wenn es um meine Akkus geht? „Ich dachte, wir hätten einen Forschungszeitraum ohne Störungen vereinbart.“

„Das sollt ihr auch haben. Viktor, wärst du dabei gewesen, du hättest die Gunst der Stunde ebenfalls genutzt. Es herrschte eine unglaubliche Dynamik.“

Während Hofmacher zu Viktor von Dynamik sprach, gönnte sich Isabel wieder einmal ihren ganz eigenen Tagesbeginn, in dem der Tee langsam sein Aroma entfaltete. Durch das spaltbreit geöffnete Küchenfenster bahnten sich frische Luft, Sonnenschein und Vogelstimmen ihren Weg. Ihren Gefallen daran hatte Isabel vor einige Wochen widergefunden. Heute blätterte sie in der Zeitung und nicht in einer Diplomarbeit. Beim Campusprojekt und Stephan Brückner blieb sie hängen und erinnerte sich an ihr Mittagessen mit Sarah. Der Tee floss heiß ihre Kehle hinunter. Warum war Viktor nicht dabei gewesen? Es war sein Forschungsgebiet, worüber sich Hofmacher und der Brückner im Artikel geäußert hatten. War sich Viktor wieder zu fein gewesen, waren seine Akkus zu schade, seine Abneigung gegenüber solchen Veranstaltungen zu groß? Dabei wartet die Welt auf sein Wissen und auf ihn. Es wird wirklich Zeit, dass er jetzt einen wie den Brückner zur Seite bekommt. Wie nannte es Hofmacher? ‚Strategische Tragweite.‘ Mit der heißen Teetasse in der Hand lehnte sie sich zurück. Ihr Kopf schmerzte wieder einmal. Etwas lustlos sah sie auf die Uhr und erhob sie sich nur schwerfällig. Im Bad griff sie nach dem Kajalstift. Danach Lippenstift und so weiter. Gleich wird sie zu ihren Kollegen und ihren Studenten fahren. Isabel nahm ein Kleenex zwischen ihre Lippen und küsste den Lippenstift stumpf. Studenten. Ha! Sie sind kleine Schuljungen und -mädchen ohne Inspiration und Mut. Sie gieren nach ihren Abschlüssen, nach dem heilbringenden guten Job. Sie sollten sich alle ein Beispiel an diesem Stephan Brückner nehmen. Einem Mann, der gewiss keine Milchbrötchen zum Frühstück bekommen hatte und ganz ohne Master in Economic Sciences der Maiers Business School ausgekommen war. Sie nahm zwei Tabletten gegen ihren Kopfschmerz, verließ das Badezimmer und schnappte sich im Flur ihre Tasche.

Als Isabel ins Auto stieg, unterhielt sich Viktor immer noch mit Hofmacher. „Was ist jetzt mit diesem Brückner? Es sieht so aus, als müsste ich mich ernsthaft mit ihm auseinandersetzen.“

„Überzeug dich selbst davon, was für ein Zugpferd der Mann ist. Der platziert unseren Turnaround zur richtigen Zeit bei den richtigen Leuten wie von selbst. Sei beim nächsten Mal einfach dabei!“ Hofmacher klopfte Viktor auf die Schulter.

6 Pech

Mit dem Toten, den sie aus dem Main gefischt hatten, war kein unmittelbarer krimineller Akt verbunden. Allenfalls wurde der Mann in den Tod getrieben, aber Mord war es nicht. Nur der Zufall würde sie noch zu den Menschen führen, die vor zwei Jahren in der Reinigungsfirma des Opfers randaliert und dabei alle Computer zerstört, Akten gefleddert, Wände besprüht, Möbel zertrümmert und Fahrzeuge demoliert hatten. Das ganze Programm eben. Vor einem halben Jahr dann der Brand, der die kleine Firma restlos in die Knie gezwungen hatte. Die Mutter und in diesem Fall auch Buchhalterin des Firmenbetreibers war im Feuer ums Leben gekommen. Klar war der Typ fertig, noch dazu als die Branduntersuchungen auf eine seiner Zigaretten als mögliche Brandursache hingewiesen hatten. Wären diejenigen, die seinem kleinen Unternehmen zugesetzt hatten auffindbar, wären sie lediglich für Vandalismus oder Erpressung dranzukriegen. Wirkliche Brisanz und Dringlichkeit war mit diesem Fall also nicht verbunden. Sonst hätte Hoppe auch nicht mit diesem provisorisch zusammengestellten Team zusammengearbeitet. Jeder außer ihm war in den angestammten Abteilungen eingespannt und wurde bei Bedarf zugeordnet. Polizeiarbeit spielen mit einem Teilzeitteam! Austauschschüler eben! Leidlich motiviert war Hoppe auf dem Weg seine neuen Kollegen wiederzutreffen. Sie hatten tatsächlich einen nächsten Fall bekommen. Im Besprechungszimmer fand er nur mühevoll Argumente für die weitere Zusammenarbeit. „Wir werden wieder einen nicht so spektakulären Fall bearbeiten. Ich freue mich darauf und hoffe, das macht Ihnen nichts aus.“ Er machte eine Pause, merkte wie er den Kopf schüttelte. „Ich selbst habe, wie sie auch, noch einige andere Kleinigkeiten zu erledigen. Womit ich nicht sagen will, dass Ihre Aufgaben in Ihren eigentlichen Teams ebenfalls Kleinigkeiten sind.“ Wie sollte man in dieser Lage auch die richtigen Worte finden, fragte er sich. „Jedenfalls müssen wir für die fallspezifische Zusammenarbeit einen Weg finden.“ Wir sollten das Austauschjahr einfach so ehrlich wie möglich miteinander herumbringen und einander in Ruhe lassen.

 

Diese Hauptkommissarin Marlene Saalfeld sah ungeduldig aus. „Ich bin noch immer der Meinung, dass der Brandherd platziert worden war. Der Fall wäre mit mehr Zeit durchaus ergiebig gewesen.“

„Du wieder“, sagte der ältere Kollege Wolfgang Merz.

„Der Mann war absolut vom Pech verfolgt.“ Der Junge, wie Hoppe den jungen Polizeimeister Julian Keller heimlich nannte, hatte es erfasst.

„Man kann jemanden auch töten, indem man ihn fertig macht“, so der erfahrene Kollege.

Hoppe musste sich einbringen, bevor noch mehr Mutmaßungen und Philosophisches vom neuen Thema ablenkten. „Wir haben keinen Anlass, die Untersuchungen in Richtung eines Gewaltverbrechens fortzusetzen. Keine Spur.“ Der Fall war abgeschlossen!

„Das kennen wir ja bereits“, knallte diese Saalfeld einfach mal so hin.

Niemand ging auf ihre Anmerkung ein. Dennoch war sich Hoppe nicht sicher, ob das eine weitere Spitze Richtung Mallorca-Fall war. Die Kollegin konnte sich ja schon bei der ersten Begegnung nicht zurückhalten.

„Es gibt keine konkreten Anhaltspunkte. Ohne die bekommt kein Team weitere Ressourcen, um eventuelle und mittelbare Todesursachen zu untersuchen.“ Das wusste jeder im Raum. Hoppe kam sich rechtfertigend vor. „Wie dem auch sei, heute wollte ich Ihnen persönlich sagen, dass wir uns nun regelmäßiger sehen werden. Wir wurden vor ein paar Wochen ad hoc zur konkreten Zusammenarbeit …“

„Sagen Sie jetzt nicht genötigt“, fiel ihm der Alte ins Wort.

Zum Glück hat der wenigstens Humor, dachte Hoppe. „Wenn sie das nicht so sehen, umso besser.“

„Wenn ich etwas vorschlagen darf“, unterbrach ihn wieder dieser Wolfgang. „Wir zeigen Ihnen ein Stück Frankfurt und lernen uns dabei besser kennen.“

Hoppe war überrascht. Ich bin zwar der Austauschschüler, aber ich muss denen doch nicht auch noch privat zur Last fallen. Die uninteressanten Fälle genügten doch, um schlechte Laune zu verbreiten. Er kramte gerade nach einer höflichen Floskel, als der Alte etwas von „Stöffche“ zu den beiden anderen Kollegen sagte. Die verwiesen auf heute Abend. Mit Kollegen? Heute? Stoff?

Nun war er von Neugier angetrieben. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gerne.“

Am frühen Abend fuhr er gemeinsam mit der Hauptkommissarin Marlene Saalfeld per U-Bahn und nahm sein Fahrrad mit. Ausgerechnet sie wollte ihm den Weg zeigen. Doch schon in der U-Bahn war er versöhnlicher gestimmt und fragte sich, wann er das letzte Mal mit einem Fahrrad gemeinsam mit einer eher fremden Frau U-Bahn gefahren war? „Danke, dass Sie mit mir fahren.“ Er deutete auf sein Fahrrad, das er nicht am Polizeipräsidium stehen lassen wollte.

Nach der Bahnfahrt überquerten sie den Main und liefen ein Stück am Fluss entlang, was Hoppe ein wenig aus der Fassung brachte. Ich Fahrrad schiebenderweise unter Platanen mit hellgrünen Blätterknospen an einem Fluss mit einer eigentlich ganz attraktiven Kollegin um kurz nach sechs. Auf meiner Mainseite. Er schnaufte vor sich hin.

„Es ist ein angenehmer Abend. Ganz richtig für ein Stöffche“, sagte sie.

Ich bin doch längst bekifft. Und ich schäme mich dafür.

„Sie lächeln ja.“

„Ich?“

Auf das Lächeln ging sie nicht weiter ein und fragte, ob er sich gut eingelebt hatte? Hoppe sah sich um, wie immer, wenn er am Main anlangte. Aber grüne Anoraks brauchte man bei diesem Wetter nicht mehr. „Dort viel weiter oben die Straße rauf, da wohne ich. Vorübergehend für das eine Austauschjahr, meine ich.“ Jetzt hatte er gedankenversunken einfach über sein kleines Leben hier fast geplaudert. Das mochte er eigentlich nicht.

„Und diesen Weg legen Sie jeden Tag per Fahrrad zurück?“

„Es ist so gekommen.“ Wie so Vieles andere, überlegte er. Sie gingen noch ein Stück und bogen irgendwann in eine Gasse aus Kopfsteinpflaster ein. Richtige Straßen gab es auf einmal keine mehr. Bunte, manchmal etwas schiefe, kleine Häuser säumten den Weg. Etliche Leute waren unterwegs, dass er aufpassen musste, niemanden mit dem Fahrrad anzurempeln. Tische und Bänke waren einfach aufs Straßenpflaster unter Markisen und riesige Sonnenschirme gestellt. Wer keinen Platz gefunden hatte, stand mit seinem Glas in der Hand an provisorischen Bars vor den Fensterchen der kleinen Häuser herum. Ist das noch die gleiche Stadt? „Da vorn ist es.“ Seine Kollegin deutete auf ein paar lange Tische.

Während er ein Stück Wand suchte, um sein Fahrrad daran anzulehnen, kam ihnen Wolfgang Merz entgegen. „So, jetzt mal eine Portion frankfurterisch. Schließlich sollen Sie hier ja was lernen.“

Sie setzten sich zu Julian Keller, dem Jungen, an einen Tisch. „Ich habe das Stöffche schon geordert.“

Da war es wieder und jetzt wollte Hoppe auch endlich eintauchen in dieses Treiben. Der Kellner brachte ein Tablett mit einem blauen Krug und vier groben dicken Gläsern mit Waffelmuster. Sie tranken, schwatzten und stießen immerzu an. „Aufs Stöffche! Auf den Ebbelwoi!“, den Hoppe noch nie zuvor getrunken hatte. Jetzt wusste er auch, was vor Wochen in der Kneipe bei ihm um die Ecke ausgeschenkt wurde. Um sie herum ging es urig zu und auch zwischen ihnen entspannte sich die Atmosphäre. Oder bin ich es, der möglicherweise entspannt? Seit einer halben Stunde waren sie also Wolfgang, Julian, Marlene und er war Axel oder Hoppe, ganz wie sie wollten. Zum Apfelwein aßen sie Handkäs, Sauerbraten mit grüner Soße oder Würstchen. Die Luft war lau. In der Dämmerung gingen Lichterketten an. Sein Handy klingelte.

„Entschuldigt! Bin in der Nähe. Mit den Kollegen. Ja, bis später“, sagte Axel. „Das war Kathrin, meine Frau.“ Auf einmal war ziemlich viel seines Privatlebens hier angelangt und es fühlte sich im Moment gar nicht so verkehrt an. Also erzählte er heute Abend zum ersten Mal ein wenig über Kathrin, über seine Überwindung, etwas Neues auf Zeit zu wagen, über Michel und sogar über die kleine Wohnung, die seine Frau gemietet hatte. Der Kellner brachte noch einen Krug und eine Flasche Wasser. Julian hielt die Wasserflasche hoch. „Noch jemand gespritzt?“

Marlene und Wolfgang hielten Julian ihre Gläser entgegen. Ach so ist das gemeint, dachte er und mischte seinen Apfelwein ebenfalls mit Wasser. Jetzt hatte sich Axel also vorgestellt. Seine Kollegen hatten ebenfalls über sich gesprochen. Es fühlte sich insgesamt besser an, bis Marlenes Stimmung kippte. „Ich komme von dem armen Mann mit seiner kleinen Putzfirma nicht los.“

Das Stöffche machte sie nachdenklich. Jetzt sollten wir gehen. So spät am Abend mit einem deftigen Essen und diesem Apfelwein im Bauch ist alles gesagt. Gerade wollte er sich für den heutigen Abend bedanken und damit zum Aufbruch ansetzen, als Marlene ihn bei seinem ganz und gar versöhnlichen Ausklang störte. „Ein anderer macht genau das Gleiche und wird dabei steinreich. Du hast ihn doch kennengelernt!“

„Wen?“

„Na Brückner, unseren Putzpapst.“

„Wie kommst du darauf?“

„Mallorca, schon vergessen?“

Das war also der Haken am heutigen Abend. „Nein. Ich war in seinem Haus, in dem sich die Hauptzeugin und deren Mann befanden.“ ‚Schon vergessen’, verkniff er sich.

„Sie waren alle aus Frankfurt und wir wurden nicht hinzugezogen“, beharrte sie.

Zum Glück schienen die beiden anderen Kollegen darüber nicht erbost zu sein. Es interessiert eben nur die Frauen. Die werden alle ganz verrückt, wenn sie Mallorca hören. „Da war doch nur diese Sarah Schmidt.“

„Aber du hattest auch mit ihrem Mann gesprochen, ihrer Tochter, dem Kindermädchen und der Köchin.“

„Die war Polin, soweit ich mich erinnere. Und das Kindermädchen war irgendein Aupair. Aber das ist alles kalter Kaffee und dein Brückner war nicht da.“

Als er ‚dein Brückner‘ sagte, grinsten die beiden anderen Kollegen.

„Die Chance ist ja nun auch verpasst“, sagte sie.

„Welche Chance?“, fragte Julian.

Darauf blieb Marlene eine Antwort schuldig. Hoppe aber ergriff seine Chance, Marlenes Sticheleien eventuell beenden zu können. „Es ging um einen kleinen windigen Journalisten, der sich an eine reiche verheiratete Frau herangemacht hatte und vollgekokst von einem Riesenschiff ins Meer gestürzt war“, wandte er sich an Julian und Wolfgang. „Es gab nichts, Marlene. Der Typ ist nur ertrunken“, fügte er ihr gegenüber hinzu.

Er erinnerte sich an den spanischen Kollegen, der damals von einem ganz normalen Fall von Überschwänglichkeit gesprochen hatte. Sie hatten den Fundort untersucht, Aussagen geprüft, alle mit dem Todesopfer in Verbindung stehenden Orte auf der Insel abgeklopft und die gesamte Umgebung des Journalisten in Berlin auf Hinweise abgegrast. Der Fall war abgeschlossen!

„War das nicht dieser Robert Vleih?“ Julian hatte den Namen des Opfers parat. Mist! War das hier eingefädelt?

„Kanntest du den?“, interessierte sich nun auch Wolfgang.

„Er war nicht unbekannt“, entgegnete Julian.

„Wegen seiner vielen kleinen Krimis in seinem Blog, was er Enthüllungsjournalismus nannte. Aber glaubt mir, es gab damals nichts.“ Aufhören, wollte er schreien. Klatsch nach drei Litern Apfelwein, das geht nur schief.

„Und diese Schmidt war in Brückners Haus. Und der selbst war gar nicht da?“, fragte Marlene.

„Das steht alles in den Akten. Nein, der war nicht da, sagte ich doch.“ Wir hätten weniger trinken sollen, war sich Hoppe sicher.

„Diese Schmidt ist die Frau von Rüdiger Schmidt, der mit der Sicherheitsfirma, richtig?“ Marlene hatte sich festgefressen.

„Und jetzt willst du uns sagen, dass der Sicherheitsfirmenmann sowieso ein brutaler Typ ist, er seine Frau mit dem Journalisten überrascht und den daraufhin von Bord geworfen hat? Aber dann brauchen wir auch deinen Brückner nicht mehr.“ Mit dem ‚du‘ ging alles viel einfacher, wenn er sich schon verteidigen musste.

„Er ist nicht mein Brückner!“ Marlene war empört.

Wolfgang lächelte und Hoppe dachte darüber nach, ob dieser Brückner Marlenes Brückner war.

You have finished the free preview. Would you like to read more?