Dolmetschen im Medizintourismus

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From the series: Translationswissenschaft #16
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Im Rahmen der vorliegenden Studie wird aufgrund seiner Verbreitung im deutschsprachigen Raum der Terminus Medizintourismus verwendet. Die Autorin versteht darunter eine vorübergehende Verlegung des Wohnortes der PatientInnen ins Ausland aus medizinischen Gründen. Im Rahmen des Medizintourismus unterziehen sich PatientInnen entweder einer geplanten gesundheitswiederherstellenden Behandlung, zu der häufig im Herkunftsland kein Zugang besteht, oder suchen nach einer Diagnose für eine seltene und somit schwer diagnostizierbare Krankheit bzw. einer ärztlichen Zweitmeinung zu einer Diagnose oder zu einem Therapievorschlag.

1.2 Die wirtschaftliche Bedeutung des Medizintourismus

Aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung scheint der Medizintourismus das Potenzial zu haben, ein weiteres Marktsegment für DolmetscherInnen zu werden, die im Bereich Medizin arbeiten bzw. ihr Angebot an translatorischen Dienstleistungen diversifizieren möchten. Schon im Jahr 2006 verzeichnete die weltweite Gesundheits- und Medizintourismusindustrie einen Umsatz von über 60 Milliarden Dollar (vgl. Quast 2009: 16). Laut Patients Beyond Borders werden derzeit im Medizintourismus zwischen 74 und 92 Milliarden Dollar erwirtschaftet; 21 bis 26 Millionen PatientInnen aus verschiedenen Ländern geben pro medizinische Reise im Durchschnitt 3.550 Dollar für Untersuchungen, Reise und Transport aus (vgl. PBB 2020).

Die in der medizintouristischen Literatur beschriebenen Reisen können sowohl in Richtung günstigere Länder wie Ungarn oder Thailand als auch in Richtung teurere Regionen wie Europa und USA erfolgen.1 Ausschlaggebend für die Wahl des Reiseziels ist in erster Linie der Grund der Behandlungsreise. In Österreich wurden bisher kaum Studien durchgeführt, die den Medizintourismus, wie er in der vorliegenden Studie definiert wird, analysierten und die Anzahl der PatientInnen, die Österreich als Behandlungsort wählen, zentral erfassten.2 Die meisten Studien betreffen den breiter angelegten Gesundheitstourismus und zielen zumeist darauf ab, das Potenzial für die Tourismusindustrie zu eruieren. Die ermittelten Daten belegen die faktische internationale Präsenz von PatientInnen in Österreich sowie ihre wirtschaftliche Bedeutung: 2009 machten die gesundheitstouristischen Nächtigungen rund 23% (18 Millionen) der gesamten gewerblichen Nächtigungen (ohne Ferienwohnungen) aus, von denen circa zehn Prozent dem „Medical Wellness-Tourismus“ zuzuordnen waren (vgl. BMWFW 2014: 8). In einer Studie des österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft wird der „Medical Wellness-Tourismus“ wie folgt definiert: „Der medizinische Aspekt steht im Fokus der Anwendungen und Behandlungen. Auch der Bereich der Privatkuren (Kuraufenthalte, die nicht durch Sozialversicherungsträger finanziert werden) ist diesem Segment zuzuordnen“ (BMWFJ 2011: 3). Statistische Angaben werden vor allem von Krankenhäusern im privaten Sektor präsentiert. So ließen sich 2011 beispielsweise 11.200 PatientInnen in der Privatklinik Döbling in Wien betreuen, davon kamen etwa zehn Prozent aus dem Ausland (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 3). In den 19 österreichischen Privatkliniken dürften laut österreichischer Wirtschaftskammer acht bis zehn Prozent der Behandelten aus dem Ausland stammen. Diese Gruppe von PatientInnen trägt die Kosten für die gewünschte medizinische Dienstleistung in den meisten Fällen selbst (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 1). Häufig stellen seltene Krankheiten oder komplizierte chirurgische Eingriffe die Gründe für medizinisch bedingte Reisen dar (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 1, Klobassa 2016: 10). In österreichischen Krankenhäusern kann eine starke Präsenz von PatientInnen aus Russland, den arabischen und den GUS-Staaten, Rumänien, der Ukraine, der Schweiz und Weißrussland beobachtet werden (vgl. Klobassa 2016: 38). Zwar ist die finanzielle Situation der PatientInnen nicht in allen Fällen ausschlaggebend für den Entschluss zu einer medizinischen Reise, dennoch gehören die meisten PatientInnen, die sich in Österreich behandeln lassen, der Mittel- und Oberschicht an und bezahlen ihre medizinische Reise aus eigenen Mitteln (vgl. Klobassa 2016: 48ff.). PatientInnen, die nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, greifen häufig auf Privatinitiativen wie Crowdfunding, Wohltätigkeitsveranstaltungen u.a. zurück oder machen ihre Ansprüche auf Basis der Patientenmobilitätsrichtlinie (vgl. 1.3) geltend. In der bislang einzigen Studie, die sich speziell dem Medizintourismus in Österreich widmet, präsentiert Klobassa (2016: 18) Österreich als ein weitgehend unbekanntes Land im weltweiten Medizintourismus, das aber aufgrund der sehr guten Qualität der medizinischen Versorgung und der hohen PatientInnensicherheit ein großes Potenzial in dieser Hinsicht aufweist. Im Rahmen ihrer Studie führt Klobassa die Unbekanntheit der medizintouristischen Destination Österreich auf eine fehlende professionelle Werbung zurück, da in Österreich bislang nur Privatkliniken über ausreichend Erfahrung mit PatientInnen dieser Art verfügen und aktiv PatientInnenakquise betreiben. Das Potenzial des Medizintourismus wird in Österreich aufgrund einer nicht professionellen Vermarktung des Angebots nicht ausgeschöpft (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2). Die österreichischen Krankenhäuser scheinen zu zögern. Die öffentlichen Spitäler konzentrieren sich überwiegend auf die Versorgung der im Inland lebenden Bevölkerung, während die privaten Kliniken durch den zusätzlichen Aufwand – von der Visumbeschaffung bis zur Beauftragung von DolmetscherInnen – von der Betreuung der Gäste abschrecken lassen. Eine wichtige Rolle im Medizintourismus spielen einzelne ÄrztInnen, die auch außerhalb des Landes über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügen, oder Internetportale, die den Behandelten ein umfassendes und spezialisiertes Leistungsspektrum anbieten (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2f.).

Deutschland zählt hingegen zu den beliebtesten medizintouristischen Destinationen und hat das Potenzial dieses Sektors bereits erkannt (vgl. Spielberg 2009, Grätzel von Grätz 2010). Hier wird der Medizintourismus durch die Bildung von Gesundheitsclustern (vgl. Gottsauner-Wolf 2012: 2) wie jenem der bayerischen Landesregierung Bavaria – Better State of Health begünstigt, das in der Vermarktung des jeweiligen Landes als Anlaufstelle für ausländische PatientInnen von großer Bedeutung ist.3 Die Vernetzung von Kliniken, ÄrztInnen, Hotels und DienstleisterInnen ist für den Erfolg des Medizintourismus in Deutschland verantwortlich (vgl. Hochschule Bonn-Rhein-Sieg 2016). Das Potenzial des Medizintourismus kann als Wirtschaftsfaktor genutzt werden, wenn eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bereichen und VertreterInnen der Gesellschaft vorhanden ist (vgl. Kirsch 2017: 22).4 Anders als in Österreich werden in Deutschland von verschiedenen Institutionen regelmäßig Studien zum Medizintourismus veröffentlicht. Laut dem Statistischen Bundesamt Deutschland ließen sich im Jahr 2007 70.898 ausländische PatientInnen in deutschen Kliniken behandeln (vgl. Spielberg 2009), während die Anzahl deutscher StaatsbürgerInnen, die im selben Jahr im Ausland eine Behandlung in Anspruch nahmen, von den deutschen Kassenverbänden auf ca. 300.000 geschätzt wurde (vgl. Reisewitz 2015: 13). Im Jahr 2014 wurden 1,2 Milliarden Euro erwirtschaftet und 251.000 ausländische PatientInnen unterzogen sich stationären bzw. ambulanten Behandlungen in Deutschland, was laut einer Studie der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg in Sankt Augustin einer Steigerung von 4,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entsprach (vgl. Deutsche GesundheitsNachrichten 2016, Hochschule Bonn-Rhein-Sieg 2016).5 Laut Juszczak (2008: 6) ließen sich PatientInnen folgender Nationalitäten 2007 in Deutschland am häufigsten behandeln: Auf Platz 1 befinden sich die Niederlande (6.732), gefolgt von Frankreich (5.608), Österreich (4.823), Polen (4.763), Belgien (3.383), Russland (2.807), der Schweiz (2.566), Italien (2.375), Großbritannien (2.297) und den USA (1.856). Auch zehn Jahre später kommen die meisten PatientInnen noch aus diesen Herkunftsländern (vgl. OperationsKarriere 2018).

1.3 Der Medizintourismus innerhalb der Europäischen Union

Auch innerhalb der Europäischen Union reisen PatientInnen aus medizinischen Gründen. In diesem Kontext wird der Medizintourismus vorwiegend als PatientInnenmobilität bezeichnet. Durch die Einführung der Richtlinie 2011/24/EU – auch Patientenmobilitätsrichtlinie genannt –, die PatientInnen aus der EU, aus dem EWR-Raum sowie aus Liechtenstein, Island und Norwegen den Zugang zur sicheren und qualitativ hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung garantiert, wird die PatientInnenmobilität geregelt und begünstigt:

Diese Richtlinie zielt darauf ab, Regeln zu schaffen, die den Zugang zu einer sicheren und hochwertigen grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung in der Union erleichtern und die Patientenmobilität im Einklang mit den vom Gerichtshof aufgestellten Grundsätzen gewährleisten und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei der Gesundheitsversorgung fördern, wobei gleichzeitig die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Festlegung der gesundheitsbezogenen Sozialversicherungsleistungen und für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung sowie der Sozialversicherungsleistungen, insbesondere im Krankheitsfall, uneingeschränkt geachtet werden sollen. (RL 2011/24/EU)

Die Patientenmobilitätsrichtlinie schafft ein Regelwerk für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Diese haben eine nationale Kontaktstelle einzurichten, die die BürgerInnen über ihre Ansprüche informieren soll, und sind für die „Festlegung der gesundheitsbezogenen Sozialversicherungsleistungen und für die Organisation und Bereitstellung von Gesundheitsdienstleistungen und medizinischer Versorgung sowie der Sozialversicherungsleistungen […]“ zuständig (RL 2011/24/EU). Durch die Einführung der Patientenmobilitätsrichtlinie wurden PatientInnenreisen in Europa zumindest auf finanzieller Ebene erleichtert, denn die Kosten für die Behandlung in einem anderen EU-Land können bis zu der Höhe erstattet werden, die bei einer ähnlichen Behandlung im Inland angefallen wären (vgl. RL 2011/24/EU bzw. BMG 2016). Bei komplexeren Behandlungen, die ein „erhöhtes Planungsbedürfnis“ (BMG 2016, Pt. 14) aufweisen bzw. einen stationären Aufenthalt erfordern, ist meistens eine Genehmigung einzuholen. Die EU-Richtlinie schreibt vor, dass der Antrag in folgenden Fällen vor der Behandlung einzureichen ist: bei Übernachtungen im Krankenhaus, für Behandlungen mit „Einsatz einer hoch spezialisierten und kostenintensiven medizinischen Infrastruktur oder medizinischen Ausrüstung“ (RL 2011/24/EU, Art. 8 Abs. 2 Buchstabe a) und für Behandlungen mit einem Risiko für die PatientInnen (vgl. RL 2011/24/EU, Art. 8, Abs. 2, Buchstabe b). 14 EU-Länder verlangen einen solchen Antrag vor der Behandlung für die im Artikel 8 Abs. 2 Buchstabe a beschriebenen Eventualitäten; allerdings hat kein einziges dieser 14 Länder die Kriterien für die Kostendeckeng im Rahmen einer Übernachtung in einem Krankenhaus definiert (vgl. Europäische Kommission 2015b: 4ff.). Darüber hinaus haben nur neun Länder spezifiziert, welche Kriterien für die Hochspezialisierung herangezogen werden, obwohl dies laut Richtlinie verlangt wird. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit eines Antrags seitens der Krankenkasse kann je nach Herkunftsland 20 bis 150 Tage betragen (vgl. Europäische Kommission 2015b: 18). Diese Zeitspanne macht die langfristige Planbarkeit der Behandlung schwierig, da für eine Genehmigung in vielen Fällen die genaue Aufstellung der Kosten samt Datum der Behandlungen anzuführen sind. Einer der Gründe für eine positive Entscheidung seitens der Behörde im Herkunftsland sind die Kosten und die Verkürzung von Wartezeiten (vgl. Kirsch 2017: 31), während der Qualitätsfaktor nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Patientenmobilitätsrichtlinie sieht darüber hinaus vor, dass der Mitgliedsstaat, in dem die Behandlung erfolgt, PatientInnen aus anderen Mitgliedstaaten Informationen zur Verfügung zu stellen hat, anhand derer diese eine sachkundige Entscheidung treffen können (vgl. Spickhoff 2015: 17). GesundheitsdienstleisterInnen müssen detaillierte Informationen u.a. zu ihren Preisen und ihrem Zulassungs- oder Registrierungsstatus bereithalten. Dies bedeutet aber nicht, dass solche Informationen für PatientInnen mit einer anderen Sprache als jener des Ziellandes ausführlicher sein müssen (vgl. Spickhoff 2015: 17).

 

Aufgrund der dargelegten Beschränkungen stellen die Beantragung und Organisation einer Auslandsbehandlung trotz des erleichterten Zugangs zur medizinischen Versorgung innerhalb der EU für PatientInnen nach wie vor eine große Herausforderung dar. In der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studie zur PatientInnenmobilität namens „Study on Public Service Translation in Cross-border Healthcare“ (vgl. Angelelli 2015) zeigte sich, dass PatientInnen, die der Sprache des Ziellandes nicht mächtig sind, trotz der erwähnten Richtlinie nicht den gleichen Zugang zur Gesundheitsversorgung haben wie die im Zielland lebenden Menschen. Die gesetzlichen Bestimmungen der Europäischen Union enthalten keinen expliziten Hinweis auf die Zuständigkeit für die Zurverfügungstellung von Sprachdienstleistungen im Falle einer PatientInnenmobilität, was bedeutet, dass die PatientInnen selbst für die Beauftragung einer/eines DolmetscherIn oder einer/eines ÜbersetzerIn Sorge zu tragen haben (vgl. Angelelli 2015); darüber hinaus werden Übersetzungs- und Dolmetschkosten nicht zurückerstattet. Die fehlende gesetzliche Regulierung der Zuständigkeit sowie die nicht erfolgende Rückerstattung translatorischer Kosten können in manchen Fällen dazu führen, dass vonseiten der PatientInnen auf professionelle translatorische Leistungen verzichtet wird. Dies kann allerdings die Qualität und den Erfolg der medizinischen Behandlung negativ beeinflussen.

1.4 Beweggründe für medizinische Reisen

Die Beweggründe von PatientInnen im Medizintourismus unterscheiden sich hinsichtlich der Behandlung im Vergleich zu inländischen PatientInnen stark. Für Kirsch (2017: 13) bedarf es deswegen neben einer seriösen wissenschaftlichen Untersuchung des Phänomens ebenso einer differenzierten Betrachtung dieser zwei PatientInnengruppen, die durch ihre „unterschiedlichen Motive bei der Auswahl einer Destination, differierenden Bewertungen und Bedürfnisse sowie die weitaus stärkere Heterogenität von Auslandspatienten“ (Kirsch 2017: 14) geprägt sind. In der medizintouristischen Fachliteratur ist bereits eine relativ genaue Beschreibung der Hintergründe medizinischer Reisen zu finden. Berg (2008) identifiziert folgende Beweggründe:

 medizinische Leistungen, die im Ausland kostengünstiger und oft sogar qualitativ hochwertiger in Anspruch genommen werden können

 PatientInnenmobilität innerhalb der Europäischen Union

 Aufstieg vieler Zielländer (wie Thailand) vom Billigtourismusland in Richtung hochwertigen Tourismus

 Bestrebung nach Rentabilität seitens der Krankenhäuser und Kliniken

 medizinische Unterversorgung in Entwicklungsländern

 lange Wartezeiten für chirurgische Eingriffe

Illing (2009) und Quast (2009) fügen folgende Gründe für dieses Phänomen hinzu:

 aufgrund der Globalisierung der Sozial- und GesundheitsdienstleisterInnen möglich gewordene Behandlungen in einem anderen Staat, für die ein Antrag auf Rückerstattung der Kosten gestellt werden kann

 demografische Entwicklung und der damit verbundene Anstieg an Krankheits- und Pflegefällen

 restriktive Zuteilungspolitik des Staates und die konsequente Reduktion des Leistungsumfangs der kostenlosen medizinischen Behandlungen

 steigender Rationalisierungsdruck auf Krankenhäuser und die damit verbundenen Notwendigkeit, eine Behandlung an einem anderen Ort durchzuführen

 Investitionsbereitschaft der Menschen in die Gesundheit

 Ausbau von Flughäfen und die sich daraus ergebende vereinfachte Mobilität

Reisewitz (2015: 14ff.) weist weiters darauf hin, dass medizintouristische Reisen nicht nur aufgrund der Reduzierung des Leistungsumfanges der gesetzlichen Krankenversicherung im Herkunftsland und aufgrund der neuen Möglichkeiten internationaler Mobilität, sondern auch zur Vermeidung langer Wartezeiten im Herkunftsland angetreten werden. Neben dem qualitativen Mehrwert der Auslandsbehandlungen werden „Komforterwägungen“ (Reisewitz 2015: 16) sowie das „Streben nach möglichst perfekter körperlicher Konstitution“ (Reisewitz 2015: 17) angeführt. Auch ExpertInnen im medizinischen Bereich befassen sich immer häufiger mit den Ursachen für Medizintourismus. So unterscheidet die „ÄrzteZeitung“ (vgl. Wallenfells 2015) hinsichtlich der Beweggründe für die PatientInnenmobilität drei Typen von medizintouristischen PatientInnen: PatientInnen, die auf eigene Kosten medizinische Behandlungen im Ausland mit höchsten Qualitätsansprüchen verlangen; PatientInnen, die im Ausland kostengünstige Behandlungen in Anspruch nehmen; PatientInnen, die aufgrund langer Wartelisten im Herkunftsland ins Ausland gehen und auf Kassenkosten (z.B. gemäß der Richtlinie 2011/21/EU) diese Eingriffe vornehmen lassen. Diese Differenzierung vernachlässigt aber jene Menschen, die eine Behandlungsreise aufgrund hoch spezialisierter Eingriffe unternehmen – z.B. jene Menschen, die wegen einer bionischen Handprothese nach Wien reisen, da diese Operation in ihrem Herkunftsland nicht durchgeführt wird – und sich dennoch der Patientenmobilitätsrichtlinie bedienen, um eine Teilerstattung der Behandlungskosten zu erhalten. Auch grenzüberschreitende Bewegungen von PatientInnen zwischen Nachbarländern lassen sich immer häufiger beobachten.1 Darüber hinaus weist Connell (2011 sowie 2015) darauf hin, dass neue Typen von medizinischen Reisenden beobachtet werden können: Menschen, die in Ländern wohnen, in denen gewisse Behandlungen unmöglich oder illegal sind (z.B. Abtreibungen, Fruchtbarkeitsbehandlungen u.a.) sowie Menschen, die zu einem früheren Zeitpunkt ausgewandert sind, aber später aus Kostengründen nur zum Zweck einer bestimmten medizinischen Behandlung (auch einer einfachen Gesundheitsvorsorge) in ihr Herkunftsland zurückreisen.

Wie unter 1.3 bereits erwähnt, wurde das medizinische Reisen innerhalb der Europäischen Union mit der Patientenmobilitätsrichtlinie erleichtert. In diesem Zusammenhang fasst Kirsch (2017: 7ff.) die Ergebnisse der Umfrage „Eurobarometer 2015“ (Europäische Kommission 2015a) zusammen: 5% der Befragten aus allen EU-Ländern unterzogen sich einer spontanen oder geplanten Behandlung in einem anderen EU-Land, fast die Hälfte der Befragten konnte sich solch eine Behandlung innerhalb der EU vorstellen (vgl. Kirsch 2017: 18). 55% der Befragten, die sich keine Behandlung in einem anderen EU-Land vorstellen konnten, gaben als Grund Bequemlichkeit, Angst vor Verständigungsschwierigkeiten oder Unsicherheit betreffend die rechtliche Lage an (vgl. Kirsch 2017: 19). Darüber hinaus wurden die häufigsten Gründe für Behandlungen im Rahmen des Medizintourismus (vgl. Kirsch 2017: 19f.) erforscht: die Nichtverfügbarkeit der benötigten Behandlung im Herkunftsland (71%), die höhere Qualität der medizinischen Behandlung im Zielland (53%), der Wunsch nach namhaften SpezialistInnen, die die Behandlung durchführen (38%), sowie die Dringlichkeit der Behandlung (34%). Der Kostenfaktor wurde nur von 23% der Befragten als Reisegrund angegeben, was laut Kirsch der These zu widersprechen scheint, dass Medizintourismus überwiegend in Richtung günstigerer Destinationen verlaufen würde.

1.5 Das medizintouristische Angebot

Die Analyse des medizintouristischen Angebots unterscheidet sich je nach Definition des Begriffs Medizintourismus und Ausgangsdisziplin der Forschenden. Berg (2008) und Illing (2009) konzentrieren sich zum Beispiel auf den Gesundheitstourismus in puncto Wellness und beschreiben das umfassende Angebot, das von der Vermittlung der Reise über die Dienstleistungen von Kurorten und Bädern bis zu Beherbergungsmöglichkeiten reicht. Quast (2009) legt ihren Fokus auf den Medizintourismus von Deutschland aus in Richtung anderer Zielländer und analysiert unter anderem dessen Produkt,1 Infrastruktur und Distributions- und Kommunikationskanäle. Quast (2009: 28ff.) unterteilt das medizintouristische Angebot in primäre, sekundäre und tertiäre Angebote. Das primäre Angebot stellt das eigentliche Produkt dar: die medizinische Leistung. Im sekundären Angebot sind Zusatzprodukte enthalten, die zwar keinen rein medizinischen Zweck erfüllen, aber die Voraussetzung für den Erfolg der medizinischen Reise bilden. Beispiele der Produkte innerhalb dieser Kategorie sind die Klinik mit ihrer Einrichtung und Ausstattung, die Verpflegung, die kürzeren Wartezeiten im Vergleich zu den regulären Behandlungen, die Dolmetschleistungen, die Möglichkeit der Religionsausübung und die Berücksichtigung religiöser und kultureller Traditionen. Das tertiäre Angebot beinhaltet schließlich ergänzende Produkte wie die Erledigung der Reiseformalitäten für die Betroffenen und deren Begleitpersonen, die Betreuung vor Ort, die Organisation von Taxi- oder Bustransfers sowie Freizeitaktivitäten und Vor- und Nachsorge.