Weihnacht

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Als der Beamte sah, in welchem Zustande sich die Legitimation befand, wies er sie mit den freundlichen Worten zurück:

»Oh bitte, bitte, zweifeln Sie doch nicht an meiner Menschenkenntnis, die mir gleich beim ersten Blicke gesagt hat, daß ich es mit geistig hochstehenden und polizeilich unbeanstandeten Personen zu thun habe!«

»Schön!« nickte Carpio. »Wir erkennen Ihren Scharfsinn an und werden jenseits der Grenze an geeigneter Stelle erzählen, daß die Bewohner der österreichischen Länder auf ihre Polizeimacht stolz sein können.«

Indem er den wieder zusammengefalteten Paß in die Westentasche steckte, nickte er dem Gendarm in so gönnerhafter Weise zu, als ob er eine der höchsten Stellen im Wiener Justizministerium bekleide.

Als wir jeder drei Gläser Buttermilch getrunken hatten, wurden wir zum Schankbier avanciert und bekamen dazu Cigarren angeboten, welche der Wirt als zur besten Sorte Österreichs gehörig bezeichnete. Wenn ich mich nicht irre, waren es Virginias, die man zuweilen auch mit dem hochpoetischen Namen »Giftnudeln« zu bezeichnen pflegt. Als Carpio die seinige anbrannte und den lächelnden Ausdruck bemerkte, mit welchem er dabei von rundumher beobachtet wurde, machte er eine hoheitsvolle Handbewegung und sagte in geringschätzigem Tone:

»Ich will Ihren Kaiserstaaten gewiß nicht zu nahe treten, aber was Cigarren betrifft, so sind wir Ihnen in jeder Beziehung über. Diese hier zum Beispiel, welche von vorzüglicher Qualität sein soll, würde mir für den täglichen Gebrauch viel zu schwach sein. Es giebt bei uns eben ganz andere Raucher als hier bei Ihnen, meine Herren!«

Leider aber ließ er seine »Nudel« so oft ausgehen, daß er mit den Zündhölzern immer zwischen ihr und dem Asbestgläschen unterwegs war - es stand nämlich ein sogenanntes Tunkfeuerzeug auf dem Tische. Da ihm dabei der Geruch des Schwefels so oft in die Nase fuhr, zog er, ohne daß ich weiter darauf achtete, ein Papier aus der Tasche, zerriß es in lange, schmale Streifen, um Fidibus aus ihnen zu machen, und holte sich nun mit deren Hilfe das zum Anbrennen nötige Feuer von der in seiner Nähe qualmenden Öllampe. Damals gab es bekanntlich weder Gas- noch gar elektrisches Licht.

Trotz dieser immerwährenden Unterbrechungen war er, als ich die erste Cigarre geraucht hatte, schon mit seiner zweiten fertig. Man bot uns neue an, und als ich da für uns beide ablehnte, schlug Carpio diese Anmaßung in empörtem Tone zurück:

»Mische dich nicht in meine Angelegenheiten, Sappho! Eine Mondscheinnatur, wie die deinige ist, kann freilich nichts vertragen; ich aber bin aus Stahl und Stein gebaut und möchte die Cigarre kennen lernen, die meine Konstitution erschüttern könnte!«

»So ist es recht!« stimmte Franzl bei. »Ein guter Student muß ausgepicht und gegen Nikotin und Spiritus unempfindlich sein. Nummus ubi loquitur, Tullius ipse tacet. Nehmen Sie also immer noch eine!«

Und der Busenfreund nahm noch eine und hatte sie noch nicht aufgeraucht, als seine Fidibus zu Ende waren. Ich sah, daß er, wie ein Orientale sich ausgedrückt hätte, die Morgenröte seines Angesichts verlor, sagte aber nichts, weil ich ihn nicht beleidigen wollte.

Dann brachte die Wirtin das Abendessen herein. Es bestand in einer mächtigen Schüssel Fisolen und einer ebenso großen Schüssel geräuchertem Schweinefleisch. Beim Anblicke der großen, appetitlichen Fleischstücke lief mir, wie es später dem persischen Schah in London ergangen sein soll, das »allerhöchste Wasser seiner Majestät« im Munde zusammen; den Busenfreund aber schien die Lukullität dieses Nachtmahls kalt zu lassen; wenigstens lag, während meine Augen höchst wahrscheinlich vor Freude leuchteten, in den seinen ein entsagungsvoll nach innen gerichteter Blick und in seinen wehmutsvoll zusammengezogenen Mundwinkeln der Ausdruck jener schmerzlichen Resignation, mit welcher ein sonst sehr vernünftiger Bettler einst behauptet haben soll, daß es ihm niemals einfallen werde, einen Hundertthalerschein anzunehmen.

Wenn man bedenkt, daß zu diesen Fisolen und zu diesem Fleische nicht Bier, sondern Wein getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzu sehr nötigen ließ. Mein guter Carpio aber wollte, wie Franzl sich auszudrücken beliebte, »gar nicht anbeißen« und erklärte schließlich, als er sich durch teilnahmsvolle Fragen und Zusprüche in die Enge getrieben sah, daß er leider heute mittag zuviel gespeist und infolgedessen jetzt noch gar keinen Appetit habe. Dabei richtete er sein Auge mit der stummen Bitte um Verschwiegenheit auf mich; ich gewährte sie ihm im stillen, wurde aber dafür von ihm mit dem grassesten Undank belohnt, denn als man ihn darauf aufmerksam machte, daß doch ich nicht so ganz appetitlos sei, antwortete er wie aus einer Wolke der Erhabenheit herab:

»Es sind nicht alle Menschen gleich besaitet. Während der eine den Genüssen des Geistes und des Gemütes den Vorzug giebt, liebt es der andere, in materiellen Dingen zu schwelgen und schreckt am Ende sogar nicht davor zurück, seine Seele in Fisolen und Selchfleisch zu versenken. Weiter brauche ich wohl nichts zu sagen; Sie wissen ja: de gustibus non est disputandum, wie der Lateiner sagt.«

»Ja, ja,« nickte der Wirt, erfreut über die Gelegenheit, wieder einen Beweis seines Wissens geben zu können. »Es freut mich natürlich riesig, daß es Ihrem Kollegen so vortrefflich schmeckt, doch weiß auch ich die Vorzüge des Geistes zu schätzen und sage mit den Gelehrten des Altertums: Omne nimium nocet.«

O Franzl, Franzl, wüßtest du, was du mir soeben gesagt hast! So dachte ich, aß natürlich aber trotzdem ruhig weiter, denn ich hatte mich nun einmal so tief in das Materielle versenkt, daß man mir eine schnelle Umkehr aus dieser geistigen Verfisolung nicht zutrauen durfte. All mein psychisches Können und Wollen war, wie ich zu meiner Schande gestehen muß, in diesem Augenblicke schon so verlottert, daß ich, wenn ich überhaupt beim Essen etwas sagte, schon längst nicht mehr in Reimen sprach, kann aber zu meiner Ehrenrettung den sehr moralischen Grund hinzufügen, daß ich den Wert des delikaten Geselchten weder durch trockene Jamben und Trochäen noch durch ungeräucherte Amphibrachen und Daktylen unvorteilhaft beeinflussen wollte.

Die Stube war bis zum Essen voller Gäste gewesen; nun ich mich aber mit solcher Schweigsamkeit den beiden Schüsseln widmete und mein Busenfreund ebenso still in sein geistiges oder, was wahrscheinlicher war, in sein körperliches Innere hinunter stieg, stockte die Unterhaltung, und der Fleiß, mit welchem wir in diesen Richtungen thätig waren, legte die Vermutung, daß wir so bald nicht wieder genießbar sein würden, in einer Weise nahe, daß sich einer nach dem andern entfernte, um zu Hause dasselbe zu thun, was wir hier thaten, nämlich essen.

So kam es, daß wir noch vor Beendigung des Abendmahles mit den Wirtsleuten allein waren, doch nicht lange, denn es stellten sich neue Gäste ein, welche mein Interesse sofort in vollstem Maße in Anspruch nahmen.

Es war ein alter Mann mit einer jüngeren Frau und einem vielleicht dreizehn Jahre alten Knaben. Sie mußten arm, sehr arm sein, wie ihre Kleidung bewies, welche keinen Schutz gegen die Kälte des Winters bieten konnte. Der weißhaarige, tief gebückte Alte kam mit wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl niederfallen. Da schloß er, ohne uns zu beachten, die tiefliegenden Augen und holte in einer Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm mit der andern Hand die zum Erschrecken hagere Wange. Beide hatten, der eine vor Ermüdung und der andere aus kindlicher Unkenntnis, keinen Gruß gesagt. Die Frau aber grüßte, legte das Bündel, welches sie trug, neben dem Alten nieder, faltete die Hände und fragte in flehendem Tone:

»Haben Sie vielleicht einen Platz für uns im Stalle?«

»Bettelvolk, das sich verstellt und nichts thun als vielleicht nur stehlen will,« flüsterte die Wirtin ihrem Manne zu.

Sie war nicht so gutmütig wie er, der gar nicht auf diese Worte hörte, sondern die drei Personen mit mitleidigen Augen betrachtete und sich dann erkundigte:

»Warum im Stalle und nicht im Bett?«

»Weil wir nicht bezahlen können,« antwortete die Fremde mit einem schweren Seufzer.

»Warum kommt ihr da zu uns? Hier ist keine Herberge für Handwerksburschen und Leute, wie ihr seid!« fiel die Wirtin schnell ein.

»Wir haben nach der Herberge gefragt, aber wir konnten nicht weiter; mein Vater fiel vor Müdigkeit um.«

Die Wirtin wollte noch etwas sagen, aber Franzl winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und forderte die Fremde auf, ihm die Legitimation zu zeigen. Sie zog einen sorgfältig in ein Tuch gewickelten Paß hervor, den sie dem Wirte gab. Er las ihn, schüttelte den Kopf, musterte die drei Personen noch einmal und sagte dann im Tone des Erstaunens:

»So weit kommt ihr her - in diesem Schnee und dieser Kälte! Und nach Amerika wollt ihr - nach Amerika, in diesen Kleidern und ohne Geld! Entweder ist das eine Lüge, oder seid ihr nicht bei Troste!«

»Es ist keine Lüge,« versicherte sie; »der Paß beweist es ja.«

»Aber wer nach Amerika will, muß Geld haben! Die Fahrt auf dem Schiffe hat kein Mensch umsonst!«

»Mein Mann hat uns die Schiffskarten geschickt.«

»Ihr Mann? Ist der schon drüben?«

»Ja. Er ist vor drei Jahren hinüber und hat gearbeitet und gespart, bis er uns die Schiffskarten schicken konnte.«

»Nur die Karten? Man braucht doch auch Geld, um bis nach der Hafenstadt zu kommen!«

»Das hatten wir, denn wir haben alles, was wir besaßen, verkauft. Viel war es freilich nicht, denn wir sind arme Leute, und die Käufer waren ebenso arm wie wir; aber bis nach Bremen hätte es gereicht, wenn mein Vater nicht krank geworden wäre. Er bekam einen Blutsturz, und es dauerte fast zwei Monate, ehe wir weiterkonnten; da ist das bißchen Reisegeld alle geworden.«

 

»Aber, mein Gott, da hättet ihr doch nicht weiter-, sondern wieder heimgehen sollen!«

»Heim? Was wollten wir dort, wo wir nichts mehr hatten und wo es uns schon vorher schlecht gegangen war? Wir haben doch die Schiffskarten, und drüben wartet mein Mann auf mich.«

»Ja, richtig! Aber es ist doch ein Kreuz und ein Elend, sich so ohne Geld und in einer solchen Kälte bis nach Bremen durchzubetteln! Ich weiß gar nicht, wie lange man da zu laufen hat, um hinzukommen. Wißt denn ihr den Weg?«

»Wir haben gefragt und werden uns auch weiter so durchfragen.«

»Na, sehr weit werdet ihr wohl nicht kommen, wenn der alte Mann so bleibt, wie er jetzt da auf dem Stuhle sitzt!«

»Wir werden uns ausruhen, wenn er es nur noch einen oder zwei Tage aushalten kann. Wir haben droben in Graslitz einen Verwandten, einen Blasinstrumentenmacher, der uns bei sich behalten wird, bis sich der Vater erholt hat.«

»Nach Graslitz wollt ihr? So hoch hinauf, bei diesem Schnee? Leute, ihr seid verrückt!«

»Oder auch sie sind nicht verrückt,« sagte seine Frau. »Man soll nur Mitleid haben. Der Paß wird wohl richtig sein; aber ob sie auch wirklich nach Amerika oder nur so herumzigeunern wollen, das ist eine andere Frage.«

Da begann die Fremde zu weinen, wickelte noch ein Couvert aus dem Tuche, gab es dem Wirte und schluchzte:

»Wir sind nur unglückliche Leute, aber keine Vagabunden. Wenn Sie sich überzeugen wollen, so machen Sie dieses Couvert auf; die Schiffskarten liegen drin!«

»Nein, behalten Sie es nur; ich brauch' es nicht zu sehen,« sagte Franzl, den die Thränen der Frau rührten. »Wollen sehen, was wir mit euch machen. Vor allen Dingen werdet ihr Hunger haben. Setzt euch dort an den Tisch!«

Die Frau warf ihm einen innigen Blick des Dankes zu und folgte seiner Aufforderung; die Wirtin aber stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche. Als sie hinaus war, raunte uns Franzl in vertraulichem Tone zu:

»Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will. Mann ist Mann, und wenn er tausend Weiber hat; annus producit, non ager, und nach dem Stalle werde ich diese armen Teufel doch nicht weisen.«

Auch wir zwei fühlten Mitleid mit den Leuten und thaten ungesäumt, was wir, die wir hier nichts zu sagen hatten, thun konnten: Ich trug mein volles Weinglas dem Alten hin, um ihn trinken zu lassen, und Carpius, dessen Teller noch voll war, gab ihn dem Knaben, der sich mit wahrem Heißhunger sofort über das Essen machte.

Es verging eine ziemliche Weile, ohne daß die Wirtin wiederkam; da wurde nun auch Franzl wild; er stand vom Tische auf und ging in die Küche, aus welcher dann die durch die Thür unterdrückten Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten. daß die Wirtin der Küche durch eine zweite Thür Valet sagte. Dann kam Franzl strahlenden Gesichtes wieder.

»Sie ist zur Nachbarin gegangen, wo nun weiter geblasen wird,« gestand er uns, die wir nicht wenig stolz auf dieses sein Vertrauen waren. »Inzwischen können wir hier machen, was wir wollen. Nun passen Sie einmal auf!«

Er nahm die große, noch halbvolle Fisolenschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm die ebenso noch halbvolle Fleischschüssel und trug sie den Leuten hin; er nahm noch eine ganz volle Weinflasche und trug sie den Leuten hin; er nahm alles, was auf unserm Tische stand und lag, und trug es den Leuten hin, und als es nichts mehr zu nehmen und zu tragen gab, setzte er sich noch selber zu ihnen hin und forderte uns auf:

»Kommen Sie auch her, meine Herren Studenten! Wir wollen uns mit diesen guten Leuten über Amerika unterhalten. Vielleicht können wir Neues von drüben erfahren, da der Mann dieser Frau geschrieben hat.«

»Interessieren Sie sich für Amerika?« fragte Carpio.

Er besaß nämlich eine große Vorliebe für das Land jenseits des atlantischen Oceanes, denn es wohnte ein Verwandter von ihm drüben, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen. Welchen Grades die Verwandtschaft war, hatte ich nie von ihm erfahren können. Er liebte es, den amerikanischen Vetter so tief wie möglich zu verschleiern, und ließ aus diesem Dunkel nur zuweilen drei einzelne Blitze hervorschießen, die mir nach und nach so bekannt wurden, daß ich sie endlich selber auch hervorschießen lassen konnte: Erster Blitz - - El Dorado! Zweiter Blitz - - Millionär! Dritter und hellster Blitz - - Universalerbe! Ob er diese Blitze auch jetzt erscheinen lassen werde, darauf war ich sehr gespannt.

Franzl gestand aufrichtig, daß ihm die Gegend von Eger bis nach Karlsbad viel bekannter sei als die vielen Staaten und Territorien der United-States of America, und so setzte sich mein alter respektive sein neuer Busenfreund in Positur und ließ denjenigen Abschnitt unsers »Lehrbuches für höhere Schülerklassen« los, welches von den Vereinigten Staaten handelte. Er hatte ihn nämlich wegen der oben erwähnten drei Blitze auswendig gelernt. Er fand für seinen Vortrag in Franzl einen sehr aufmerksamen, in mir einen sehr zerstreuten und in den drei Fremden gar keinen Zuhörer, denn diese waren zu sehr mit sich selbst und der Stillung ihres Hungers beschäftigt, als daß sie auf die trockenen Einwohnerzahlen der verschiedenen See-, Fluß- und andern Städte hätten achten können.

Es war rührend, anzusehen, welche liebevolle Sorgfalt die Frau ihrem Vater widmete und wie auch der Knabe ihm das Beste von dem anbot, was er auf seinem Teller liegen hatte. Der Greis war so schwach, daß er sich kaum aufrecht halten konnte und wie ein Kind gespeist werden mußte. Der Wein that ihm gut, doch essen konnte er nur wenig; er schien vor allem der Ruhe, des Schlafes zu bedürfen, und wenn ich ihm so in das abgehagerte Gesicht blickte, war es mir so, als ob dieser Schlaf sein letzter sein werde.

Die Frau hatte, ehe sie nach dem ersten Bissen langte, laut gebetet, und man sah es ihr dabei an, daß sie das nicht unsertwegen, sondern aus Gewohnheit und Überzeugung that; am Schlusse des Mahles betete sie wieder und bat dann den Wirt, ihren Vater zur Ruhe legen zu dürfen. Da aber schüttelte der Alte den Kopf und sagte mit seiner müden, hohl klingenden Stimme:

»Nein, laß mich noch sitzen, meine Tochter! Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein Licht anzünden und nichts schenken können; ihr mußtet frieren und hungern während der heiligen Tage, und da ich euch nicht auch noch mit Thränen betrüben wollte, weinte ich sie in mich hinein. Hier aber ist mir wohl; hier sind wir freundlich aufgenommen worden; hier ist es warm, und wir sind satt; hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!«

Seine Worte waren oft durch einen trockenen, quälenden Husten unterbrochen worden. Jetzt, als er schwieg, faltete er die Hände und bewegte leise betend die Lippen. Die Frau legte ihre Hände auch zusammen und weinte leise vor sich nieder. Der Knabe biß die Zähne zusammen und sah uns an, im Zweifel darüber, wie wir uns verhalten würden, wenn er sein gewaltsam unterdrücktes Schluchzen nicht mehr niederhalten könne. Er war ein wackerer, kleiner Kerl!

Der betende Greis kam mir jetzt nicht mehr wie ein Bettler vor. Wenn die Berge hoch zum Himmel steigen, bedecken sie ihre Häupter mit Schnee, und wenn der Schnee des Alters den Menschen krönt, ist er dem Himmel nahe; Himmelsnähe aber erweckt Ehrfurcht in jeder fühlenden Menschenbrust. Der mit zitternden Lippen um Einlaß in den Himmel bittende Alte, die still weinende Frau und der mit seinen Thränen kämpfende Knabe, sie waren für mich ihrer Bettlerschaft entkleidet und zwangen mich, an die Schriftworte zu denken: »Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« Welchen Eindruck machte die jetzige Situation gegen die kindische Heiterkeit, welche vorher hier geherrscht hatte! Während draußen in der Abendkälte das Elend sich mühsam durch die verschneiten Wege geschlichen hatte, waren wir beschäftigt gewesen, die Zeit mit schülerhaften Witzen totzuschlagen. Ich schämte mich!

Der Wirt schien etwas ähnliches wie ich zu fühlen; er räusperte sich einigemal, wie um aus einer inneren Verlegenheit herauszukommen, und sagte dann:

»Ja, ihr sollt hier Weihnachten feiern; ich thue es; ich hole ihn herein!«

Er ging in den Flur hinaus, und dann hörten wir ihn jenseits desselben eine Thür öffnen, welche, wie wir später erfuhren, in das Wohnzimmer führte. Wer der »ihn« war, den er holen wollte, sahen wir, als er einen buntbehangenen Christbaum getragen brachte, dessen Lichter noch nicht ganz abgebrannt waren. Er stellte ihn auf den Tisch, bat uns, die Lichter anzuzünden, und entfernte sich dann wieder. Der fremde Knabe sprang auf und bat uns mit strahlenden Augen, uns helfen zu dürfen, ein Wunsch, den wir ihm natürlich mit Freuden erfüllten.

Dann kam Franzl wieder. Er brachte einige Kleidungsstücke von sich und seiner Frau, auch einen Kuchen und eine Wurst, welche er unter den Baum legte; dazu fügte er fünf blanke Gulden, indem er sagte:

»Hier, das beschert euch das heilige Christkind, welches eure Thränen gesehen und euer Gebet gehört hat. Bedankt euch bei ihm und nicht bei mir!«

Welch eine Freude gab es jetzt! Die Augen des Greises öffneten sich weit, um das Licht der Weihnachtskerzen in sich aufzunehmen; die Frau weinte jetzt nicht mehr Schmerzens-, sondern Freudenthränen, und der Knabe schlang seine Arme um ihren Hals, um das Schluchzen, welches ihn jetzt von neuem übermannen wollte, an ihrer Brust zu verbergen. Ich konnte nicht anders, ich mußte in die Tasche greifen und einen Gulden herausnehmen, den ich zu den fünf des Wirtes legte. Als Carpio dies sah, sagte er leise zu mir:

»Ja, ihr könnt geben, ihr! Der Franzl hat reich geheiratet, und du hattest fünf Thaler, ich aber nur drei; ich bin der Ärmste und kann nichts - - und doch, doch, ich kann auch etwas geben, wenn auch kein Geld wie du; paß nur auf!«

Er bat um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

»Ich verkünde große Freude,

Die Euch widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Euer Heiland Jesus Christ - -«

Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme? Je weiter er sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? Er breitete die auf dem Tische liegenden Hände auseinander und öffnete sie, als ob er, sich aus seiner zusammengesunkenen Haltung aufrichtend und den vorher so müden Kopf hoch hebend, eine unsichtbare, von oben kommende Gabe ergreifen und festhalten wolle. Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf, so daß er kräftig und kerzengerade am Tische stand, und bat:

»Noch einmal das letzte, noch einmal! Oh bitte, wiederholen Sie es von da an, wo der Priester spricht!«

Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien:

»Und der Priester legt die Hände

Segnend auf des Toten Haupt:

>Selig, wer bis an das Ende

An die ewge Liebe glaubt!

Selig, wer aus Herzensgrunde

Nach der Lebensquelle strebt

Und noch in der letzten Stunde

Seinen Blick zum Himmel hebt!

Suchtest du noch im Verscheiden

Droben den Erlösungsstern,

Wird er dich zur Wahrheit leiten

Und zur Herrlichkeit des Herrn.

Darum gilt auch dir die Freude,

Die uns widerfahren ist,

Denn geboren wurde heute

Auch dein Heiland Jesus Christ!<« - -

Da legte der Alte die ausgebreiteten Hände wieder ineinander, sank auf den Stuhl zurück, schloß, indem ein seliges Lächeln über sein Gesicht ging, die Augen und wiederholte leise, doch so, daß wir sie hörten, die Worte:

 

»Darum gilt auch dir die Freude, - - die uns widerfahren ist, - - denn geboren wurde heute - - auch dein Heiland Jesus Christ! Das gilt auch mir - - mir - - - mir! Ich habe ihn gesucht - gesucht - gesucht - - und heut ist er gekommen! Ich sehe ihn; ich sehe seinen Stern; ich sehe das Licht, welches da leuchtet auf den Feldern von Bethlehem! Und wie war das, wie? Ich meine das, was Simeon sagte, als er im Tempel den Heiland sah.«

Ich nickte Carpio zu, und dieser antwortete:

»Herr, nun lässest du in Frieden

Deinen Diener zu dir sehn,

Denn sein Auge hat hienieden

Deinen Heiland noch gesehn!«

»Ja, ja, so ist es; ich sehe ihn!« fuhr der Alte fort, noch immer geschlossenen Auges. Er bewegte die Lippen wieder wie früher, jetzt aber nicht betend; das sah man deutlich; er schien nach Worten zu suchen, nach Worten, welche er gehört hatte und in ihrem Zusammenhange nicht wiederfinden konnte. Dann fragte er: »Und wie, wie heißt es in dem Gedichte von dem Sünder? Wie sagte er, als er um Erbarmen flehte?«

Diesesmal antwortete Carpio, ohne meinen Wink erst abzuwarten:

»Betend faltet er die Hände,

Hebt das Auge Himmel an:

>Vater, gieb ein selig Ende,

Daß ich ruhig sterben kann!

Blicke auf dein Kind hernieder,

Das sich sehnt nach deinem Licht;

Der Verlorne naht sich wieder;

Geh mit ihm nicht ins Gericht!<« - -

»Blicke auf dein Kind hernieder,« wiederholte der Greis,- - »das sich sehnt nach deinem Licht; - - der Verlorne naht sich wieder; - - geh mit ihm nicht ins Gericht! - - - Nicht, nein, nein! - - nicht ins Gericht!« rief er laut aus, indem er die Augen weit aufriß und mit einem angstvollen Blicke rund um sich starrte. Dann schloß er sie wieder; der Ausdruck der Angst verschwand; ein leises, uns zu Herzen gehendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht, und dann kam es flüsternd und immer leiser und langsamer werdend über seine Lippen: »Suchtest du noch im Verscheiden - - droben den Erlösungsstern - - wird er dich zur Wahrheit leiten - - und zur Herrlichkeit des Herrn - -! Wahrheit - - Herrlichkeit, oh Herrlichkeit - -! Ich bin müde; ich will schlafen, schlafen gehen - - schlafen gehen - - schlafen!«

Er legte den Kopf hintenüber und ließ ihn dann zur Seite nach der Schulter fallen.

»Mein Gott, er stirbt - er stirbt!« sagte der Wirt besorgt.

»Nein, er stirbt nicht,« beruhigte ihn die Frau. »Er ist nur müde von dem weiten, schweren Wege und von der innern Erregung jetzt. Er hat oft solche doppelte Müdigkeit. Aber schlafen muß er jetzt. Bitte, sagen Sie mir, wohin ich ihn bringen soll!«

»Bringen? Sie werden ihn tragen müssen?«

»Halb geht er, und halb halte ich ihn.«

»Ich werde Ihnen helfen. Wir haben oben eine Stube mit drei Betten. Ihr Sohn mag dort das Licht nehmen!«

Sie griffen dem Alten unter die Arme und zogen ihn empor; er kam wieder zu sich und schritt, von ihnen unterstützt, doch ohne die Augen zu öffnen, zur Thür hinaus. Als ich nun mit Carpio allein war, sagte dieser:

»Das war eine unerwartete Weihnachtsfeier, unerwartet und ergreifend, wie ich noch keine erlebt habe! Aber, Sappho, was sagst du dazu? Diese Leute sind keine gewöhnlichen Leute; ich glaube nicht, daß sie dem gewöhnlichen, dem Arbeiterstande angehören.«

Der allerwegs zerstreute Freund pflegte dergleichen Beobachtungen sonst nicht zu machen; ich war ganz seiner Ansicht, erkundigte mich aber:

»Warum denkst du das?«

»Sie haben eine Weise, sich auszudrücken, welche auf einen bessern als den gewöhnlichen Arbeiterstand schließen läßt. Und sodann hat der Alte die Disposition, den Gedankengang deines Gedichtes so schnell begriffen und sich einzelne Strophen so leicht gemerkt, daß ich darauf schwören möchte, er habe es früher mehr mit geistiger als mit anderer Arbeit zu thun gehabt. Oder bist du anderer Meinung?«

»Nein. Ich vermute sogar noch mehr.«

»Was?«

»Daß diese Familie unter einem sehr schweren Schicksale gelitten hat.«

»Verdienter Weise?«

»Ob verdient oder nicht verdient, das kann ich natürlich nicht wissen. Der angstvolle Blick, mit welchem der Greis so plötzlich aufgerissenen Auges um sich schaute, giebt auch keinen Anhalt. Diese Angst kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen. Doch, das geht uns nichts an. Ich stimme dir aber darin bei, daß es wirklich eine ergreifende Weihnachtsfeier war, die ich nicht so leicht vergessen werde.«

»Ich auch nicht. Du hast recht: Diese Leute gehen uns eigentlich nichts an; aber ich möchte doch gar zu gern wissen, wer oder was sie sind oder vielmehr früher gewesen sind.«

Jetzt kam der Wirt, um die bescherten Gegenstände zu holen und hinaufzutragen. Als er dann wieder zurückkehrte und sich zu uns setzte, sagte er:

»Der Abend hat so lustig angefangen und so ernst geendet; für uns drei aber darf er noch nicht zu Ende sein. Ich freue mich, solche Leute, wie Sie sind, einmal bei mir zu haben. Wir trinken noch eine Flasche Wein und bleiben so lange wie möglich auf. Und morgen lasse ich Sie erst recht noch nicht fort!«

»Aber Ihre Frau - -?« fragte ich.

»Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen. Das alte, gute Wort Multis ictibus dejicitur quercus ist ihr ebenso gut wie mir bekannt. Aber Bettler, Bettler und sonstiges Gesindel, das mag sie gar nicht leiden; da schimpft sie über jeden Kreuzer, den ich gebe; ich aber gebe gar zu gern, weil ich nämlich früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet.«

»Wird sie, wenn sie von der Nachbarin zurückkehrt, hier hereinkommen?«

»Nein.«

»So kann der Baum, der zum Verräter würde, hier stehen bleiben?«

»So lange wir aufbleiben, ja; dann trage ich ihn hinüber.«

»Aber sie wird morgen sehen, daß die Lichter vollends abgebrannt sind!«

»Alle Bomben! Ja, das ist wahr!« rief er aus. »Das giebt dann eine Hetz, die ich vermeiden möchte. Was ist da zu thun? Ich weiß mir keinen Rat! - - Halt, halt, ich hab's, ich hab's! Sind Sie klug genug, es zu erraten, Herr?«

»Nein.«

»Ich steck' nachher neue Lichte in die Dillen; die brennen wir an und löschen sie wieder aus, wenn sie halb herunter sind. Da denkt sie, es sind die alten. Pfiffig muß man sein, pfiffig, sag ich Ihnen, Herr - - - Sa - - Saff - - - Wie heißen Sie eigentlich? Ich kann mir diesen Namen gar nicht merken. Karb - - Karb - - und Saff - - Saff - -!«

Ich erklärte ihm, daß Carpio und Sappho nur unsere Studentennamen seien, und nannte ihm unsern richtigen. Mein Freund nahm daraus die Veranlassung, seine Gründlichkeit zu zeigen, und sagte:

»Ich kann Ihnen sogar Schwarz auf Weiß beweisen, daß ich den genannten Namen mit vollster Berechtigung trage. Hier ist mein Reisepaß!«

Er griff in die Westentasche, wo er, wie er sich genau erinnerte, die Legitimation in sichere Verwahrung gebracht hatte, zog aber die Finger leer zurück. Nun suchte er in der andern Westentasche, dann in allen Rock- und Hosentaschen, vergeblich; der Paß war wieder einmal verschwunden.

»Wo er nur hingekommen sein mag?« fragte er bestürzt. »So ein Papier, welches noch dazu gestempelt ist, kann doch nicht so mir nichts, dir nichts verschwunden sein!«

»Sollte etwa wieder deine Schwester - -?« erkundigte ich mich zart andeutungsvoll.

»Die?« antwortete er, ohne meine arglistige Verworfenheit zu ahnen. »Diesesmal ist sie unschuldig, wirklich unschuldig, denn ich habe den Paß ja im Stiefel gehabt. Alle Wetter, sollte ich ihn etwa wieder hineingesteckt haben? Das wäre ja eine Zerstreutheit, und die kommt bei mir niemals vor. Der Schuster hat die Nagelspitze ja doch abgezwickt! Aber besser ist besser; ich werde nachsehen. Welcher Stiefel war es denn? Weißt du es, Sappho?«