Das Tagebuch der Jenna Blue

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»Nein«, entgegne ich sofort.

»Warum nicht? So bleibt die Reihe unvollständig.«

»Lass es.«

Sie zuckt mit den Schultern. »War nur eine Idee.«

»Eine beschissene!«

Ihre Augen verengen sich zu Schlitzen. So sitzen wir da, nebeneinander auf dem Dachfirst, in zu kurzen Kleidern und schweren Herzens, und haben uns nichts zu sagen.

Als auch die letzte Zigarette verglimmt, schnippt sie den Stummel hinfort und streckt sich. »Ich werde heute Abend mit Derek Schluss machen.«

Mein Kopf ruckt herum. »Was? Warum?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Warum nicht?«

»Ich dachte, ihr seid glücklich.«

»Was die Liebe aufregend macht, ist das Vielleicht. Will sie mich? Hat sie einen anderen? Was denkt sie gerade? Ich genieße den Kitzel der ersten Wochen, mich reizt das Ungewisse, danach wird es langweilig.«

»Man nennt es Vertrautheit.«

»Oder Gewohnheit – und das ist langweilig. Ich mag Derek, aber da er sich meiner sicher ist, benimmt er sich unmöglich. Ich will umworben werden –«

»Ach, sag bloß, das wirst du nicht?«

»Du verstehst das nicht. Du bist –«

»Langweilig?«, rate ich und kann nicht verhindern, dass es bitter klingt.

»Ich hätte ein anderes Wort gewählt. Du bist nicht per se uninteressant, eher unsichtbar. Du wirst schlicht übersehen. Daher weißt du nicht, wie es ist, die Aufmerksamkeit zu besitzen oder gar zu verlieren.«

»Unsichtbar.« Ich wende das Gesicht ab, damit Scarlett nicht sieht, wie tief mich ihre Worte treffen.

Unsichtbar. Das ist zu wahr.

Die Turmfenster der Spukvilla blenden mich, es kommt mir vor, als würden sie blinzeln. Sie reflektieren das goldene Abendlicht, während die Veranda und das erblindete Gewächshaus bereits im Schatten versinken. Die Villa in all ihrer deplatzierten Pracht wirkt genauso verloren zwischen den gedrungenen Reetdachhäusern unseres Dorfes, wie ich mich fühle. Wir gleichen einander, fallen aus dem Rahmen, sind zur falschen Zeit am falschen Ort.

Wobei der Vergleich hinkt. Scarlett wäre die alte Villa und ich entspräche unserem Resthof.

»Heute Abend ist alles anders«, prophezeit Scarlett. »Du wirst schon sehen.«

Und so elegant, wie sie das Dach erklommen hat, rutscht sie auch wieder hinab und verschwindet durch ihr Fenster im Innern des Hauses. Ich gehe im Kopf alle möglichen Ausreden durch, um doch nicht auf die Party zu müssen, als sich im Hof eine Tür öffnet.

Ein goldenes Rechteck aus Licht verdrängt die fortschreitende Nacht, Anna tritt hinaus, in der Hand das Altpapier. Ihr folgt – Papa. Es ist so windstill, dass seine Worte bis zu mir dringen: »Sie wird niemals mitgehen.«

»Sie hat keine Wahl«, widerspricht Anna harsch.

»Was ist mit Jenna?«

»Jenna ist erwachsen.«

Papa klingt irritiert. »Aber …«

»Ich bat meinen Onkel um ein paar zusätzliche Aufgaben auf dem Friedhof. Du wirst sie kaum bemerken.«

»Du hast vorgesorgt.«

Anna klingt schrecklich kühl. »Irgendwer muss das tun.«

»Wann wirst du es ihnen sagen?«

»Nicht heute.« Anna drückt den Zeitungsstapel in die blaue Tonne. »Die beiden gehen aus.«

Überraschung lässt Papas Stimme steigen. »Zusammen?«

»Ja, zusammen.«

Er brummt etwas, das wie »Höchst seltsam« klingt, und ich kann ihm nur zustimmen. Heute ist alles seltsam. Scarlett, Anna, selbst Papa. Er bleibt allein im dämmrigen Hof zurück und ich bete zu allen mir bekannten Göttern, dass er nicht über das Buch stolpert. Er streckt eine Hand aus, ich beuge mich vor – und verliere für einen Augenblick die Balance. Papa hebt alarmiert den Kopf, findet mich auf dem Dach sitzen und erstarrt. Ich sehe es förmlich in seinem Kopf rattern. Ohne ein Wort flüchtet er ins Haus.

Worüber haben sie gesprochen?

»Wo bleibst du?« Scarlett steckt den Kopf aus dem Fenster. Ein Kaugummi tanzt zwischen ihren Zähnen und verdeckt den Geruch des Rauchs. »Derek sollte bald kommen. Wir müssen los. Ich will nicht, dass er sieht, wo wir wohnen.« Wie aufs Stichwort nähert sich ein Wagen. Zwei suchende Lichtkegel, die das Tor der Spukvilla finden. Scarlett flucht. »Er ist zu früh – es wird Zeit, dass ich ihm eine Lektion erteile. Los jetzt, Jenna! Wir gehen hintenrum.«

Hintenrum, damit unser erbärmliches Zuhause nichts weiter ist als das: irgendein Haus, mit dem wir nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Es ist so was von wie ich.


Jede gute Geschichte braucht einen Gegenspieler, der alles wagt, um den Helden vernichtend zu schlagen. Dabei darf der Held zweifeln, straucheln, ja sogar von der dunklen Seite kosten, der Antagonist jedoch wäre wenig glaubhaft, besäße er keine guten Züge. Er muss über eine allzu menschliche Schwäche verfügen, Verzweiflung kennen, Katzen lieben oder Blumen sammeln.

Wie Scarlett.

Sie wäre die perfekte Antagonistin, ich jedoch eine lausige Heldin. Zudem haben wir uns auf ein Patt geeinigt. Wir ignorieren einander, sind weder des anderen Feind noch Freund. Wenn es also einen Antagonisten in dieser Geschichte gibt, so kann es nicht Scarlett sein.

Nur wer ist es dann?

Ich bin versucht, Mutter die Rolle überzustülpen, doch das hieße, sie käme zurück, und ich bezweifle, dass sie es tut. Sie mir auf der Schwelle unseres Hauses vorzustellen, in der einen Hand ihren veilchenblauen Koffer, in der anderen einen Regenschirm, lässt mich an Mary Poppins denken; und wie dort wäre das Glück ihrer Anwesenheit nur von kurzer Dauer.


17

Papier ist widerstandsfähig. Es übersteht Hitze und Kälte, selbst Stürze aus größter Höhe. Stifte sind weniger zäh, dennoch lässt sich mit dem meinen noch schreiben, obwohl der Schaft gesprungen ist. Ich werde ihn wechseln müssen, dabei hasse ich das. Ein guter Stift ist ebenso schwer zu finden wie ein wahrer Freund.

»Los jetzt, Jenna.« Scarlett wartet ungeduldig an der Mauer auf mich. Sie besteht darauf, dass wir das Grundstück der Villa umrunden, um uns Derek von der anderen Seite zu nähern. Sie schämt sich ihrer Herkunft, was offenbart, dass sie im Innern nicht so abgebrüht ist, wie sie tut. Sorgsam verstaue ich mein Buch in der veilchenblauen Handtasche. Es ist eine winzige Version des Koffers, samt dem Mutter verschwand – wie Scarlett sofort bemerkt.

»Woher hast du die?«

Ich könnte ehrlich sein und gestehen, dass ich sie an dem Tag, als Anna von Mutters Abreise erzählte, aus ihrem hastig geleerten Schrank stahl, sie mit all dem, was mein damals siebenjähriges Ich für überlebensnotwendig hielt, vollstopfte und stundenlang auf den gesprungenen Stufen vor dem Haus saß, in der sicheren Annahme, sie würde mich holen.

Stattdessen sage ich: »Ein Geschenk.«

Scarlett wittert die Lüge, das erkenne ich an der Art, wie sie vor mir im Licht ihres Smartphones durchs kniehohe Gras stapft. Ob sie mir zürnt, weil ich dieselben Worte wie sie nutze? Oder glaubt sie, Mutter habe mir ihre Lieblingstasche vermacht? Ich tippe auf Letzteres, nicht grundlos habe ich sie ein Jahrzehnt unter dem Bett versteckt, obwohl Scarlett nicht zum Schnüffeln neigt. In einem alten Krimi las ich, wie Geheimagenten die Türen mithilfe eines Klebestreifens präparierten, sodass sie erkennen konnten, ob jemand während ihrer Abwesenheit die Räumlichkeiten betreten hatte. Ich tat es ihnen gleich und erlangte Gewissheit darüber, dass sich niemand – wirklich niemand – für mich oder mein Reich interessiert. So viel zu unsichtbar. Ich bin es selbst daheim.

Scarlett bleibt mit ihrer Tasche am Gestrüpp hängen. Sie flucht und zerrt. »Steh nicht bloß rum! Hilf mir lieber.«

Der Lichtstrahl des Smartphones zuckt unkontrolliert, sie trägt es an einem Band um den Hals, mit den Händen reißt sie an den Trägern der Tasche.

»Nicht mit Gewalt«, warne ich, da erklingt bereits ein vertrautes Ratschen, gefolgt von einer Stille, die der vor einem Wolkenbruch gefährlich gleicht. Ich taste mich durch die Dunkelheit und befreie die Tasche aus den Brombeerranken. Der blutrote Stoff ist gefurcht, als hätte ein Wolf sie gerissen.

»So ein Jammer«, sagt Scarlett und streckt die Hand aus, »nun brauche ich deine Tasche.«

»Wie bitte?«

»Es ist offensichtlich, dass ich mehr dabeihabe als du, daher ist es nur vernünftig.«

Ich stehe da wie angewurzelt. »Es ist meine Tasche.«

»Gewiss«, sagt sie und klingt dabei schrecklich unbeteiligt, »ich trage sie ja nur heute.«

»Nein.« Ich trete einen Schritt zurück.

Mittlerweile ist die Sonne bloß noch eine violette Ahnung am Horizont, die Luft merklich kühler und die Mauer neben uns nachtschwarz. Ich kann Scarletts Gesichtsausdruck weder erkennen noch deuten. Ich weiß nicht, wie nah ich dem Abgrund bin.

»Nein?«, fragt sie leise. »Du hast da was missverstanden, Jenna. Das war keine Frage, ja, nicht einmal eine Bitte. Ich brauche deine Tasche, denn meine ist kaputt. Du wirst sie mir also geben, betrachte es als Gegenleistung dafür, dass du mein Kleid tragen darfst.«

»Ich habe nicht darum gebeten«, weise ich sie zurück.

»Du trägst es aber, daher ist es nur recht und billig, wenn ich auch etwas von dir habe.«

 

»Nicht die Tasche.« Was ich eigentlich meine: nicht diese Tasche. Jede andere, alles andere, nur nicht das.

Scarlett nähert sich mir, die Andeutung eines Lächelns im Gesicht. »Wenn es um das Buch geht, so versichere ich, gut darauf zu achten; du kannst es beruhigt in der Tasche belassen. Ich hüte es für dich.«

Damit sagt sie genau das Falsche. Mir entschlüpft ein erstickter Laut, ich will zurückweichen, verheddere mich aber in den Brombeerranken. Sie verhaken sich im Stoff des Kleides. Ich halte die Luft an, versuche mich aus ihrer Umarmung zu winden, da greift Scarlett nach mir. Erst zucke ich zurück, was die Dornen lechzend begrüßen, dann glaube ich, dass sie meine Not erkannt hat, ehe ich begreife, dass sie die Tasche will. Sie packt zu.

»Nein«, zische ich und klammere mich an den Riemen.

»Sei nicht albern. Es ist bloß ein Abend.«

Es ist viel mehr als das, war es von Anfang an.

»Das ist kindisch«, schimpft Scarlett, lässt jedoch ebenso wenig locker wie ich. Wir zerren an der Tasche, sie am Beutel, ich am Träger. »Lass los, Jenna.«

»Niemals!«

Nicht heute. Nicht dabei.

Abgesehen von unserem Keuchen und dem Flüstern des Grases, das unter unseren Tritten ächzt, durchdringt der dumpfe Bass eines Radios die Nacht, als wäre sie ein lebendiges Wesen und das Wummern ihr Herzschlag. Dabei ist es gewiss Derek, der die Lautstärke voll aufgedreht hat, um die Wartezeit zu überbrücken – oder um besonders lässig zu wirken. Ob er ahnt, dass Scarlett seiner bereits überdrüssig ist? Sie wird ihn ersetzen. Wie die Tasche.

»Das hat keinen Zweck«, sagt Scarlett und gibt scheinbar nach. Ich schwanke, dann ist die Tasche mein. Erleichtert presse ich sie an die Brust, nur um entsetzt festzustellen, dass sie leer ist.

»Was haben wir denn da.« Scarlett dreht es in den Händen. Mein Buch. Ich fluche, Scarlett schlägt es auf und liest: »Das Tagebuch der Jenna Blue – wer soll das sein, du etwa? Was ist das? Der Versuch, dir eine Farbe anzueignen?«

Ich will ihr das Buch entreißen, strauchele jedoch über die Ranken und falle. Die Dornen sind überall: in meinen Handflächen, den Waden, den Knien, den Oberschenkeln – und in mir drin.

»Scarlett«, flehe ich, als sie die nächste Seite aufschlägt.

»Ja, so heiße ich, und im Gegensatz zu dir trage ich Rot tatsächlich im Namen. Beschwer dich bei Mutter, wenn’s dir nicht passt.«

»Gib es zurück!«

»Es war einmal eine Zauberin«, liest Scarlett außerhalb meiner Reichweite, »die nicht nur über beträchtliche Schönheit, sondern auch über immenses Heilwissen verfügte, sodass Menschen von nah und fern anreisten, um ihre Leiden zu lindern. Für jede Verletzung kannte sie das richtige Kraut, für jeden Fluch eine Erlösung. Was ist das, Jenna, ein Märchen?«

Ich beiße mir auf die Zunge, schmecke Blut, meine Schultern beben, dennoch schaffe ich es nicht, mich zu erheben, geschweige denn überhaupt zu bewegen. Ich bin wie erstarrt, gefangen von den Dornen und Scarletts Worten.

»Diese Dienste ließ sie sich teuer vergüten, sodass sie schon bald die prächtigste Villa und einen Garten so üppig besaß, wie es nie zuvor einen gab. Eines Tages klopfte ein schwer verwundeter Mann an und bat um Hilfe, er sei vergiftet worden und dem Tode nahe. (Nicht doch, kommentiert Scarlett spöttisch, wie theatralisch!) Da er nicht zahlen konnte, wies sie ihn ab. Er behauptete daraufhin, in Wahrheit vermögend zu sein und ihren Dienst dreifach zu entlohnen, wenn sie ihm nur helfen wolle; doch da er so schmutzig und ärmlich aussah, glaubte sie ihm kein Wort und schloss die Tür. Dort, wo sie ihn zurückließ, wuchs tags darauf eine Rose, die Ranken lang und spinnengleich.« Scarlett lässt das Buch sinken. »Spinnengleich? Spinnwebenartig ginge oder Ranken wie Spinnenbeine – dann wären es aber nur acht.«

»Hör auf«, flehe ich, doch Scarlett ist nicht zu bremsen.

»So hart sich die Diener der Zauberin auch abmühten, die verfluchte Rose ließ sich weder bändigen noch vernichten. Selbst als sie einen Teil des Erdreichs aushoben, verblieb sie an ihrem Platz. Trotzig befahl die Zauberin, ein Gewächshaus zu errichten, später folgte eine Mauer, die den Garten samt Villa umschloss. Woran erinnert mich das bloß?«

Ich weiß nicht, was mehr wehtut: Dass sie in mein Innerstes blickt oder dass sie darüber lacht.

»Jetzt wird es interessant.« Scarlett geht in die Hocke. »Als Jahre später ein Kind in der Zauberin heranwuchs, träumte sie von dem einst abgewiesenen Mann; er prophezeite die Geburt zweier Töchter: die eine ihr wunderschönes Ebenbild, die andere ein Abbild ihrer von Gier zerfressenen Seele.«

»Ich flehe dich an, lies nicht weiter!«

»Oder was?«

Ich kriege die Worte kaum raus: »Oder du bist tot.«

Scarlett lächelt. »Du vergisst, dass ich nie im Garten der Spukvilla war. Oder sollte ich sagen: in dem der Zauberin?«

»Hör auf!« Diesmal schreie ich, krächzend zwar und nach wie vor am Boden kauernd, doch es ist ein Aufbegehren, ein Aufflackern des Zorns, der mich zu versengen droht.

Scarlett bleibt unbeeindruckt.

»Die Zauberin ersann einen Plan, um dem Fluch zu entkommen. Eine verstorbene Gutsherrin hatte Mann und Kind hinterlassen. (Wie praktisch!) Diesen nahm sie zum Gemahl und sein Kind als das ihre an. So wähnte sie sich in Sicherheit. Das falsche Kind sollte das Pech erben, das rechte hingegen alles Glück der Welt

»Ich erzähle Anna, dass du rauchst!« Die Worte brechen aus mir hervor, ehe ich mich bremsen kann. Scarlett zu drohen war noch nie eine gute Idee. Ich weiß mir nur nicht anders zu helfen.

»Böses Mädchen«, tadelt Scarlett leichthin und blättert weiter. »Die Zauberin gebar eine Tochter, die sie hegte und pflegte, während die Stieftochter sämtliche Aufgaben im Haus übernehmen musste und mehr einer Magd denn einem Kinde glich. Man munkelte, hätte die Zauberin das Stiefkind wie ein eigenes behandelt, wäre sie ihrem Schicksal entronnen. So jedoch erfüllte sich der Fluch des Todgeweihten durch die Geburt einer dritten Tochter. Kaum hielt sie das«, Scarlett stockt merklich, »das ungewollte Kind in den Armen, da erkannte die Zauberin, dass dieses Glück, Schönheit und Freude im Überfluss besaß, während die Erstgeborene daneben verblasste.« Scarlett sieht zu mir, die nächste Zeile rezitiert sie frei: »So besaß die Zauberin fortan drei Töchter: eine Glücksmarie, eine Pechmarie und ein Aschenputtel.«

Ich bete, dass sie nicht weiterblättert. Dass sie denkt, auf den folgenden Seiten würde das Märchen weitergehen. Noch tiefer kann ich sie nicht blicken lassen.

»Lass uns tauschen«, schlägt Scarlett da vor und das Buch zu; ihre Lust am Vorlesen ist vergangen. Ob die Worte ihren ureigenen Ängsten zu nahe gekommen sind? Wir mögen unterschiedliche Rollen einnehmen, doch wir spielen im selben Stück. »Gib mir die Tasche, dann bekommst du es zurück.« Fordernd streckt sie die Hand aus.

Die Tasche gegen das Buch.

Verblassende Erinnerungen gegen meine intimsten Gedanken.

Welcher Verlust schmerzt mehr? Ich kralle die Finger um den veilchenblauen Riemen. Der Stoff duftet längst nicht mehr nach Mutter, zu oft habe ich die Tasche des Abends aus der Kiste unter dem Bett befreit, sie an mein Gesicht gedrückt und mich in ihre Umarmung geflüchtet. Doch ihr Duft ist verflogen wie das Gefühl ihrer Arme. Jetzt weiß ich weder, wie sie sich anfühlte, noch wie sie einst roch. Alles, was von ihr bleibt, ist diese Tasche. Meine Finger ertasten die Stickerei blind. Vergissmeinnichtblüten nebst hellgrünen Blättern. Das Futter im Innern trägt denselben Ton, der an taubedeckte Frühlingswiesen erinnert, an die leuchtende Unterseite von Birkenblättern, die sich in der Sonne räkeln. Ich kann sie nicht hergeben – und doch bleibt mir keine Wahl, wenn ich mein Tagebuch zurück möchte.

Mich überkommt eine so große Mattigkeit, dass ich die Augen schließe. Der Zorn zerfließt, ich kann ihn nicht halten. Ich stelle mir vor, was Anna sagen würde, wäre sie hier. Gewiss bäte sie darum, Scarlett die Tasche auszuhändigen. Um des Friedens willen. Sie hat niemals meine Partei ergriffen, in keinem der endlosen Streite, die auf Mutters Verschwinden folgten. Sie hat bloß warnend meine Hand gedrückt und mir zugeflüstert: Die Stärkere gibt nach.

Nur fühle ich mich nicht stark.

Ich fühle mich unendlich schwach.

»Also? Was meinst du?« Scarlett schafft es sogar, zu lächeln. Und wie sie so vor mir hockt und das Licht ihres Smartphones in meinen Augen sticht, weiß ich, dass ich ihr unterlegen bin. Ich kann nicht gewinnen. Nicht wenn ich mich so klein fühle, mich bewusst kleinmache. Unsichtbar. Wie des Nachts, wenn ich ihr folge …

Ich hebe den Blick und die Worte springen hervor, dass ich sie des Nachts beobachtet habe. Einem Sturzbach gleich zerstören sie die zart keimende Nähe, die wir auf dem Dach zueinander fanden. Bruchstücke aus geteilten Erinnerungen, getauschte Worte und der gemeinsame Schmerz, all das löst sich unwiederbringlich auf, es zerfällt ins Nichts. Bis nur noch wir zwei da sind.

Fremde bis aufs Blut.

Scarlett rollt zurück auf die Fersen. »Beobachtet?«

Ich nicke kaum merklich, mein Mund ist staubtrocken.

»Wie ausgesprochen unartig von dir.« Sie erhebt sich und steht einen Moment über mir wie ein Racheengel. »Zu schade. Das hätte ein schöner Abend werden können. Wir zwei, wiedervereint.« Der Bass des Autoradios ebbt ab, das Lied endet, ein neues erklingt. »Nun, da ich nicht bekomme, was ich will, kriegst du es ebenso wenig.«

Ehe ich sie aufhalten kann, holt sie aus – und die Dunkelheit schluckt mein Buch. Ich höre es flattern, als die Seiten aufreißen, doch ich sehe nicht, wohin es fliegt. Wohin sie es wirft. Sie reibt sich die Handflächen am Rock ab, als müsste sie sich von meinen Worten befreien.

»Traust du dich hinüber?«, ist alles, was sie sagt, ehe sie im fahlen Licht des Displays entgleitet und ich entsetzt begreife, dass sie es hinübergeworfen hat. Über die Mauer. In den Garten der Spukvilla. Dorthin, wo sich niemand hintraut – und wer es tat, ist heute tot.

Die Musik schwingt klarer durch die Nacht, als Scarlett das Auto von Derek erreicht und die Tür öffnet. Ich höre sie zuschlagen, die Klänge abstumpfen, den Motor starten. Der Kies knirscht, als er wendet. Dann brausen sie davon.


Die Villa der Toten

Das also ist er, der Moment der Wahrheit, an dem sich die Heldin entscheiden muss, dem Ruf des Abenteuers zu folgen, alles zu wagen und dabei alles zu verlieren. Sonst wäre es keine Geschichte, die zu lesen sich lohnt.

Wer ist nun die Heldin?

Bist du es? Oder bin ich es?

Da ich diese Zeilen schreibe, liegt es an mir, die Rollen zu verteilen und die Wahrheit zu offenbaren.

Meine Wahrheit. Nicht deine.

Sei mutig, wage den Sprung hinein in den unheilvollen und toxischen Garten der Zauberin, in dem die Ursprünge dieser Geschichte lange vor unserer Zeit gesät wurden. Es liegt an uns, die Früchte zu ernten. Die guten wie die faulen.