Heute liegen in dem Bassin nur ein halbes Dutzend Dampfer, wovon die einen Petroleum zuführen, die anderen Vorräte für den täglichen Bedarf gebracht haben, und außerdem einige mit elektrischen Apparaten versehene größere Boote, die zum Fischfang auf hoher See verwendet werden.
Frascolin beobachtet, dass der Eingang zum Hafen nach Norden zu liegt, und schließt daraus, dass er das nördliche Ende einer jener Landspitzen einnehmen muss, die sich von der Küste Nieder-Kaliforniens in den Stillen Ozean hinaus erstrecken. Er bemerkt auch, dass die Meeresströmung mit ziemlicher Intensität nach Osten hin verläuft, weil sie am Unterbau der Piers wie die an die Planken eines segelnden Fahrzeuges anklatschenden Wellen anschlägt – offenbar eine Wirkung der steigenden Flut, obwohl die Gezeiten an den Westküsten Amerikas nicht eben stark auftreten.
Frascolin beobachtet.
»Wo ist denn nun der Fluss, über den wir gestern mit dem Fährschiffe gekommen sind?« fragt Frascolin.
»Dem wenden wir jetzt den Rücken zu«, begnügt sich der Yankee zu antworten.
Nun gilt es aber, mit der Zeit zu geizen, wenn die Gesellschaft noch zur Stadt zurückkehren will, um den Zug nach San Diego zu benützen.
Sébastien Zorn erinnert Calistus Munbar daran, und dieser erwidert:
»Fürchten Sie nichts, liebe Freunde, wir haben Zeit genug. Die Trambahn befördert uns, nachdem wir am Ufer entlanggegangen sind, zur Stadt zurück. Sie hatten den Wunsch ausgedrückt, einen Überblick über diese Gegend zu haben, und vor Ablauf einer Stunde werden Sie den vom Turme des Observatoriums aus genießen können.«
»Sie stehen also dafür ein …«, begann der Violoncellist noch einmal.
»Ich stehe dafür ein, dass Sie morgen bei Sonnenaufgang nicht mehr da sein werden, wo Sie augenblicklich sind!«
Mit dieser etwas erkünstelten Antwort mussten sie sich wohl oder übel begnügen. Übrigens quält Frascolin die Neugier vielleicht noch mehr als die anderen. Es verlangt ihn, auf jenem Turm zu stehen, von wo aus der Blick nach Aussage des Amerikaners sich über einen Horizont von wenigstens hundert Meilen Umfang erstreckt. Erlangte man dadurch keine Klarheit über die geographische Lage dieser merkwürdigen Stadt, so musste man wohl für immer darauf verzichten.
Am hintern Teile des Hafenbassins mündet eine andere Trambahn, die längs des Meeres hin verläuft. Der abgehende Zug besteht aus sechs Wagen, in denen schon viele Fahrgäste sitzen. Diese Wagen werden von einer elektrischen Lokomotive gezogen, deren Akkumulatoren eine Kapazität von zweihundert Volt-Ampere haben, und ihre Geschwindigkeit erreicht achtzehn Kilometer in der Stunde.
Calistus Munbar nötigt das Quartett einzusteigen, und unsere Pariser konnten glauben, dass der Trambahnzug nur auf sie gewartet hätte.
Was sie von der Landschaft zu sehen bekommen, unterscheidet sich wenig von dem Parke, der sich zwischen Stadt und Hafen ausdehnt. Derselbe ebene und sorgfältig unterhaltene Erdboden. Grüne Wiesen und Felder statt der Rasenflächen, das ist alles; Gemüsepflanzungen, doch keine Getreideäcker. Eben jetzt ergießt sich, aus den unterirdischen Röhren hervorspringend, ein wohltätiger, reichlicher Regen auf die langen, nach Winkel und Richtscheit angelegten Rechtecke.
Der Himmel hätte ihn gar nicht so genau berechnet und zweckentsprechend verteilen können.
Die Gleise folgen dem Ufer, sodass sie das Meer auf der einen, das Land auf der anderen Seite haben. So rollen die Wagen fast vier Meilen – gegen sechs Kilometer – dahin. Dann halten sie vor einer Batterie von zwölf großen Geschützen, zu denen der Eingang die Aufschrift: »Rammsporn-Batterie« trägt.
»Hinterladekanonen, die sich niemals nach der falschen Seite entladen, wie das bei den Geschützen des alten Europa so häufig vorkommt!« bemerkt Calistus Munbar dazu.
An dieser Stelle zeigt die Küste einen sehr scharfen Rand und bildet einen spitz auslaufenden Vorsprung, der dem Vorderteile eines Schiffsrumpfes oder gar dem Sporn eines Panzerschiffes gleicht, an dem sich die Wellen zerteilen, indem sie ihn mit ihrem weißen Schaum benetzen. Offenbar ist das eine Wirkung der Strömung, denn draußen bewegt sich das Wasser nur in langer, flacher Dünung,3 die mit dem Niedergange der Sonne noch weiter abzunehmen verspricht.
Von diesem Punkte geht eine zweite Trambahnlinie nach dem Mittelpunkte der Stadt aus, während die erstere der Uferkrümmung weiter folgt.
Calistus Munbar steigt hier mit seinen Gästen um und meldet ihnen, dass sie nun geradewegs nach der Stadt zurückkehren werden.
Die Promenade ist auch lang genug gewesen. Calistus Munbar zieht seine Uhr hervor, ein Meisterstück von Sivan in Genf … eine sprechende, phonographische Uhr. Er drückt daran auf einen Knopf und man hört sie deutlich sagen: »Vier Uhr dreizehn Minuten.«
»Sie vergessen doch nicht, dass wir den Turm des Observatoriums besteigen wollen?« meldet sich Frascolin.
»Vergessen, meine lieben und schon alten Freunde! … Eher würde ich meinen eigenen Namen vergessen, der sich übrigens einiger Berühmtheit erfreut. Noch vier Meilen, und wir werden vor dem prächtigen Gebäude stehen, das am Ende der Ersten Avenue errichtet ist und die beide Hälften unserer Stadt scheidet.«
Der Wagen ist abgegangen. Jenseits der Felder, auf die noch immer »der Nachmittagsregen« – so sagte der Amerikaner – niederrieselt, zeigt sich wieder der mit Barrieren umschlossene Park mit seinen Baumgruppen, Rasenflächen und Blumenkörben.
Da schlägt es halb fünf Uhr. Zwei Weiser zeigen die Stunde auf einem riesigen Zifferblatte, das, an einem viereckigen Turme angebracht, etwa dem des Londoner Parlamentshauses ähnelt.
Am Fuße des Turmes liegen die für die verschiedenen Dienstzweige des Observatoriums bestimmten Gebäude. Einige derselben, die mit metallenen Kuppeln und verglasten Spalten in letzteren versehen sind, gestatten den Astronomen, den Lauf der Gestirne zu beobachten. Sie umschließen einen geräumigen Hof, in dessen Mitte sich der hundertfünfzig Fuß hohe Turm erhebt. Von seiner oberen Galerie reicht der Blick auf fünfundzwanzig Kilometer weit hinaus, da der Horizont von keinem Hügel, keinem Berg verdeckt wird.
Seinen Gästen vorausgehend, schreitet Calistus Munbar durch eine Tür, die ihm ein Diener in reicher Livrée geöffnet hat. Im Hintergrunde des Hausflurs befindet sich der mittels Elektrizität betriebene Aufzug. Das Quartett nimmt mit seinem Führer in dem Fahrstuhle Platz. Dieser steigt sofort sanft und gleichmäßig in die Höhe. Nach fünfundvierzig Sekunden hält er an der Plattform des Turmes an.
Auf dieser Plattform erhebt sich eine riesige Flaggenstange, an der das Flaggentuch im schwachen Nordwinde flattert.
Welche Nationalität diese Flagge bezeichnet, vermögen unsere Pariser nicht zu ergründen. Auf den ersten Blick scheint es die amerikanische Flagge mit den waagrechten rotweißen Streifen zu sein; die obere innere Ecke enthält aber statt der siebenundsechzig Sterne, die zu jener Zeit am Firmament des Staatenbundes funkeln, nur einen einzigen: einen Stern oder vielmehr eine goldene Sonne, die von dem Himmelblau der Flaggenecke schimmert und mit dem Strahlenglanze des Tagesgestirns rivalisieren zu können scheint.
»Unsere Flagge, meine Herren«, sagt Calistus Munbar, der ehrerbietig das Haupt entblößt.
Sébastien Zorn und seine Kameraden können nicht umhin, es ihm nachzutun. Dann treten sie an die Brustwehr der Plattform heran, beugen sich hinaus …
Da entringt sich ihrer Brust ein lauter Aufschrei – erst der Überraschung und dann des hellen Zorns.
Vor ihren Blicken liegt das ganze Land, und dieses Land zeigt die Form eines regelmäßigen Ovals, das von einem Meereshorizonte eingefasst ist. Soweit der Blick schweifen kann, nirgends ist Land in Sicht.
Und doch sind Sébastien Zorn, Frascolin, Yvernes und Pinchinat gestern in der Nacht, nachdem sie das Dorf Freschal im Wagen des Amerikaners verlassen hatten, zwei Meilen weit stets dem Wege über Land gefolgt. Darauf haben sie, gleich im Wagen verbleibend, mittels der Fähre nur einen Wasserlauf überschritten und sind dann wieder auf festes Land gekommen. Hätten sie die Küste Kaliforniens auf einem Schiffe verlassen, so müssten sie das doch bemerkt haben …
Frascolin wendet sich voller Erregung an Calistus Munbar.
»Wir sind doch auf einer Insel?« fragt er.
»Wie Sie sagen«, bestätigte der Yankee, dessen Mund sich zum verbindlichsten Lächeln verzieht.
»Und welche Insel ist das?«
»Standard Island.«
»Und diese Stadt heißt …?«
»Milliard City.«
Standard Island
1 Angehörigen der sozialen Oberschicht <<<
2 nach François Rabelais, französischer Schriftsteller der Renaissance (1494–1553) <<<
3 durch den Wind hervorgerufener Seegang mit gleichmäßigen, lang gezogenen Wellen <<<
Zu jener Zeit erwartete man noch einen unternehmenden Statistiker und gleichzeitigen Geographen, der die wirkliche Zahl der auf der Erdkugel verstreuten Inseln angegeben hätte. Es wird nicht übertrieben sein, wenn man diese Zahl zu mehreren Tausenden veranschlagt. Und unter diesen Inseln hätte sich keine einzige befunden, die den Wünschen der Gründer von Standard Island und den Bedürfnissen seiner späteren Bewohner entsprochen hätte? Nein, keine einzige! Daher der »amerikamechanisch« praktische Gedanke, eine nach allen Seiten neue, künstliche Insel herzustellen, die die vollkommenste Leistung der modernen Metallurgie bilden sollte.
Standard Island – was man etwa mit »Muster-Insel« übersetzen könnte – ist eine Schrauben- oder Propeller-Insel und Milliard City ihre Hauptstadt. Woher dieser Name stammt?… Offenbar daher, dass die Stadt die der Milliardäre, der Goulds, der Vanderbilts und der Rothschilds ist. Man wird hier einwenden, dass das Wort »Milliarde« in der englischen Sprache nicht vorkommt. Die Angelsachsen der Alten und der Neuen Welt sagen noch immer: a thousand millions, tausend Millionen. Milliarde ist ein französisches Wort. Dennoch ist es seit einigen Jahren in die Volkssprache Großbritanniens und der Vereinigten Staaten übergegangen und auf die Hauptstadt Standard Islands mit voller Berechtigung angewendet worden.
Eine künstliche Insel ist ja eine Idee, die an und für sich keine außergewöhnliche zu nennen ist. Mit hinreichender Menge von Material, das in einem Strome, einem See oder einem Meer versenkt wird, liegt es für Menschen nicht außer der Möglichkeit, eine solche herzustellen. Das hätte hier aber nicht genügt. Mit Rücksicht auf ihre Bestimmung, auf die Anforderungen, denen sie entsprechen sollte, musste diese Insel ihre Lage verändern können, also schwimmfähig sein. Hierin lag eine Schwierigkeit, die jedoch nicht über die Leistungsfähigkeit der Werkstätten für Eisenbearbeitung hinausging, denen Maschinen von sozusagen unbegrenzter Kraft zu Gebote standen.
Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Amerikaner bei ihrer Vorliebe für das Große, ihrer Bewunderung für das »Enorme«, den Plan entworfen, mehrere hundert Kilometer vom Festlande in offener See ein riesenhaftes, durch Anker festgehaltenes Floß zu bauen. Das wäre, wenn auch keine Stadt, so doch im Atlantischen Meere eine Station geworden, mit Restaurants, Hotels, Theatern, Klublokalen usw., wo die Touristen alle Annehmlichkeiten der beliebtesten Badeorte gefunden hätten. Eben dieses Projekt war nun hier, nur in mehr vollkommener Weise, zur Ausführung gebracht … statt des festliegenden Floßes hatte man eine bewegliche Insel geschaffen.
Sechs Jahre vor der Zeit, wo unsere Geschichte beginnt, war eine amerikanische Gesellschaft unter der Firma Standard Island Company limited mit einem Kapitale von fünfhundert Millionen Dollar (zwei Milliarden Mark), geteilt in fünfhundert Anteilscheine, gegründet worden, um die künstliche Insel herzustellen, die den Nabobs der Vereinigten Staaten alle die Vorteile bieten sollte, welche den an die Stelle gebundenen Gebieten der Erdkugel fehlen. Die Anteilscheine wurden schnell untergebracht, so zahlreich sind in Amerika die ungeheuern Vermögen, die der Ausbeutung der Eisenbahnen oder Bankoperationen, dem Ertrage von Petroleumquellen oder dem Handel mit gepökeltem Schweinefleisch entsprangen.
Die Herstellung der Insel nahm vier Jahre in Anspruch. Es dürfte hier angebracht sein, die wichtigsten Größenverhältnisse, die innere Einrichtung und die Apparate zur Fortbewegung anzugeben, die ihr gestatten, immer die angenehmsten Teile der ungeheuern Fläche des Stillen Weltmeeres aufzusuchen.
Schwimmende Dörfer gibt es in China auf dem Yang-Tse-Kiang, in Brasilien auf dem Amazonasstrome, in Europa auf der Donau und wenn man will, in kleinerem Maßstabe auf vielen schiffbaren Gewässern. Das sind aber nur für kurze Zeit berechnete Konstruktionen mit einigen Häuschen, die auf langen Flößen errichtet wurden. Am Bestimmungsorte angelangt, wird der Holzbau auseinandergenommen, die Häusergruppe abgebrochen und das Dörfchen hat ausgelebt.
Mit der Insel, von der wir hier reden, liegt die Sache ganz anders; sie sollte auf dem Meere schwimmen … für immer, soweit das Werk der Menschenhand eben Bestand hat.
Wer weiß denn, ob die Erde nicht eines Tages zu klein werden wird für ihre Bewohner, deren Anzahl im Jahre 2072 der Rechnung nach auf sechstausend Millionen steigen dürfte, wie es Ravenstein und andere Gelehrte mit erstaunlicher Sicherheit behaupten? Wenn das Festland dann überfüllt ist, muss man sich doch entschließen, als Wohnstätte das Meer zu Hilfe zu nehmen.
Aus Einzelbehältern zusammengesetzt.
Standard Island ist eine Insel aus Stahlplatten, und die Tragfähigkeit und Widerstandskraft ihres Rumpfes wurden unter Berücksichtigung des ungeheuern Gewichtes, das darauf lasten sollte, berechnet. Sie ist aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern zusammengesetzt, von denen jeder sechzehn Meter siebzig Zentimeter hoch und je zehn Meter lang und breit ist. Die Oberfläche jedes Behälters misst also zehn Meter an jeder Seite oder umfasst ein Ar, gleich hundert Quadratmeter. Alle durch Bolzen und Nieten miteinander verbundene Behälter bilden die etwa siebenundzwanzig Millionen Quadratmeter oder siebenundzwanzig Quadratkilometer große Insel. Bei der ihr gegebenen ovalen Gestalt misst sie sieben Kilometer in der Länge und fünf Kilometer in der größten Breite und hat in runder Zahl einen Umfang von achtzehn Kilometern. Zur Vergleichung diene, dass die Befestigungslinie von Paris neununddreißig, die alte Mauer um die Stadt dreiundzwanzig Kilometer lang ist. Der eingetauchte Teil des Rumpfes hat bei voller Belastung etwa zehn Meter, der über Wasser stehende gegen sieben Meter Höhe. Daraus ergibt sich, dass das Volumen von Standard Island vierhundertzweiunddreißig Millionen Kubikmeter misst und sein Deplacement (Wasserverdrängung), gegen drei Fünftel des Volumens, zweihundertneunundfünfzig Millionen Kubikmeter erreicht.
Der ganze untertauchende Teil der Behälter ist mit einem lange Zeit vergeblich gesuchten Präparate – der Erfinder desselben wurde dadurch Milliardär – bestrichen, das jedes Anlegen von Muscheln und Seetieren verschiedener Art an die vom Wasser bespülten Teile unbedingt verhindert.
Der »Untergrund« der neuen Insel ist gegen Formveränderung und Bruch vollständig gesichert, denn der stählerne Rumpf wird durch mächtige Querriegel versteift, und auf das Vernieten und Verbolzen aller Teile wurde die denkbarste Sorgfalt verwendet.
Natürlich mussten zur Herstellung dieses riesenhaften Bauwerkes erst besondere Werften geschaffen werden. Das übernahm die »Standard Island Company«, nachdem sie die Magdalenenbucht nebst deren Uferland am Ausläufer der langen Halbinsel Nieder-Kalifornien, ganz nahe dem Wendekreise des Krebses, zu diesem Zwecke erworben hatte. In dieser Bucht wurde die Arbeit ausgeführt, und zwar unter Leitung der Ingenieure der Standard Island Company und unter der Oberleitung des berühmten William Terson, der wenige Monate nach Vollendung seines Riesenwerkes ebenso mit Tod abging, wie Brunnel, nachdem er seinen, leider ziemlich nutzlosen »Great-Eastern« vom Stapel gelassen hatte. Standard Island ist ja auch kaum etwas anderes als ein modernisierter Great-Eastern, nur nach einem tausendfach vergrößerten Modell geschaffen.
Selbstverständlich konnte von einem wirklichen Stapellauf der Insel keine Rede sein. Sie wurde vielmehr stückweise hergestellt, indem man die einzelnen Stahlbehälter auf dem Wasser der Bucht selbst miteinander verband. Diese Stelle der amerikanischen Küste wurde auch der Nothafen der beweglichen Insel, nach dem sie sich zur Vornahme etwaiger Reparaturen allemal begibt.
Der Unterbau der Insel, ihr Rumpf, wie man sagen könnte, der, wie erwähnt, aus zweihundertsiebzigtausend Einzelbehältern besteht, wurde, mit Ausnahme des für die Stadt in der Mitte bestimmten und deshalb besonders verstärkten Teiles, mit einer dicken Schicht guter Erde überschüttet. Diese Humusdecke genügt für die Vegetation, die auf Rasenflächen, Blumenbeete, Gesträuche, einige Baumgruppen, Weideplätze und Gemüsefelder beschränkt ist. Es war nicht ratsam erschienen, auf diesem künstlichen Erdboden auch noch Getreide und Futter für Schlachttiere erbauen zu wollen, und so wird der Bedarf an beiden durch regelmäßige Zufuhr gedeckt. Dagegen hatte man Vorsorge getroffen, wenigstens die nötige Milch, den Bedarf an Eiern und Geflügel von jener Einfuhr unabhängig zu machen.
Drei Viertel des Bodens von Standard Island, d.h. etwa einundzwanzig Quadratkilometer, sind für die Kultur von Nutzpflanzen und für Rasenflächen bestimmt, die in immerwährendem Grün prangen, während die intensiv ausgebeuteten Felder Gemüse und Früchte liefern und künstliche Wiesen einigen Viehherden als Weideplätze dienen. Hier bedient man sich eifrig der Elektrokultur, d.h. der Mitwirkung permanenter elektrischer Ströme, die das Wachstum der Pflanzen überraschend befördern und Gemüse von kaum glaublicher Größe hervorbringen helfen. So züchtet man z.B. hier Radieschen von fünfundvierzig Zentimeter Länge und erntet Mohrrüben von drei Kilo Gewicht. Die Zier- und Küchengärten, sowie die Obstanlangen können mit den schönsten in Virginien und Louisiana wetteifern. Kein Wunder: auf der Insel, die mit Recht das »Juwel des Stillen Ozeans« genannt wird, spart man keine Kosten, um alles in vollendetster Weise durchzuführen.
Ihre Hauptstadt Milliard City nimmt ungefähr ein Fünftel der Oberfläche ein, bedeckt also gegen fünf Quadratkilometer oder fünfhundert Hektar, bei einem Umfange von neun Kilometern. Unsere Leser, die ja Sébastien Zorn und seine Kameraden auf deren Spaziergange begleitet haben, kennen sie schon so weit, dass sie sich darin schwerlich verirren würden. Übrigens verirrt man sich überhaupt nicht in amerikanischen Städten, wenigstens nicht, wenn sie gleichzeitig das Glück und das Unglück haben, neueren Ursprungs zu sein – das Glück, wegen der Vereinfachung des Verkehrs und das Unglück wegen ihres vollständigen Mangels an künstlerischer Bedeutung. Wir wissen, dass Milliard City ein Oval bildet, das durch eine zentrale Verkehrsader, die First Avenue, die etwas über drei Kilometer lang ist, in zwei Hälften geteilt wird. Das an dem einen Ende derselben aufragende Observatorium hat am anderen als Pendant das großartige Stadt- oder Rathaus. In diesem finden sich die Amtsräume für die Behörden, für Wasser- und Wegebau, für Anpflanzungen und Promenaden, für die städtische Polizei, den Zoll, die Markthallen, für Beerdigungswesen, Hospize, die verschiedenen Schulen, sowie für die Kirchensachen und die Künste in bequemster Weise vereinigt.
Und wie stark ist die Bevölkerung auf diesem künstlichen Stückchen Erde von achtzehn Kilometer Umfang?
Die Erde zählt den derzeitigen Angaben nach zwölf Städte – vier davon in China – mit mehr als einer Million Einwohner. Die Schraubeninsel hat deren nur gegen zehntausend – lauter Eingeborene der Vereinigten Staaten. Man wollte es vermeiden, dass jemals internationale Streitigkeiten unter den Bürgern aufloderten, die auf diesem Werke neuester Art Ruhe und Erholung suchten. War es doch schon genug, wenn nicht zu viel, dass sie in religiöser Beziehung nicht zu einem und demselben Banner hielten. Es wäre aber zu schwierig gewesen, nur den Yankees aus dem Norden, den Backbordbewohnern von Standard Island, oder umgekehrt den Amerikanern aus dem Süden, den Steuerbordbewohnern, das Recht vorzubehalten, sich auf dieser Insel häuslich niederzulassen. Darunter hätten die Interessen der Standard Island Company gar zu empfindlich gelitten.
Nach Fertigstellung des metallenen Unterbaues und Herrichtung des für die Stadt reservierten Teiles zur Bebauung, nach der Annahme des Planes für die Straßen und Avenues, beginnen die Baulichkeiten aus dem Boden zu wachsen. Hier erheben sich Prachtgebäude oder einfache Wohnstätten, dort für den Detailhandel bestimmte Häuser, öffentliche Bauwerke, Kirchen und Tempel, nirgends aber jene Wohnhäuser mit siebenundzwanzig Stockwerken, jene hässlichen »Skyscrapers«, d.h. »Wolkenkratzer«, wie man sie in Chicago findet. Das verwendete Baumaterial ist gleichzeitig leicht und widerstandsfähig. Das nicht oxydierbare Metall, das in den Konstruktionen vorherrscht, ist das Aluminium, das fast siebenmal so leicht ist wie Eisen von gleichem Volumen – das Metall der Zukunft, wie es schon Sainte-Claire Deville genannt hat – und das allen Anforderungen an ein solides Bauwerk entspricht. Mit dem Metall verband man künstlichen Stein, Zementwürfel, die sich bequem anpassten. Man verwendete auch gläserne, hohlgeblasene Werkstücke, die also wie Flaschen hergestellt waren, und vereinigte sie durch ganz dünne Mörtelschichten – durchsichtige Bausteine, mit denen das Ideal, ein Haus aus Glas, zu erreichen wäre. In der Hauptsache herrschte aber doch die metallene Armatur vor, wie man sie heutigentags in den Erzeugnissen der Schiffsbaukunst findet. Standard Island ist ja schließlich nichts anderes als ein ungeheuer vergrößerter Schiffskörper.
Das Ganze ist Eigentum der Standard Island Company. Alle Bewohner der künstlichen Insel sind, wie groß auch ihr Vermögen sei, nur Abmieter. Übrigens wurde bezüglich des Komforts und der Zweckmäßigkeit hier alles vorgesehen, was die unglaublich reichen Amerikaner nur erwarten konnten, diese Leute, neben denen die Souveräne Europas und die Nabobs Indiens nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Wenn statistisch nachgewiesen ist, dass der Goldvorrat der Erde achtzehn Milliarden und der Silbervorrat zwanzig Milliarden beträgt, so besitzen die Bewohner dieses Juwels des Stillen Weltmeers davon in der Tat einen recht beträchtlichen Teil.
Von Anfang an hat sich das ganze Unternehmen übrigens finanziell vorzüglich gestaltet. Einzelhäuser und Wohnungen wurden zu gradezu fabelhaften Preisen vermietet, sodass solche zuweilen mehrere Millionen übersteigen, denn nicht so wenige Familien waren in der beneidenswerten Lage, derartige Summen alljährlich nur für ihr Unterkommen anzulegen. Die Company erzielte damit schon aus dieser einen Quelle einen Überschuss. Hiernach wird jedermann zugestehen, dass die Hauptstadt von Standard Island den ihr beigelegten Namen mit Recht verdiente.
Von jenen überreichen Familien abgesehen, gibt es hier mehrere hundert andere, deren Mietzins hundert- bis zweihunderttausend Francs beträgt und die sich mit solchen bescheidenen Verhältnissen begnügen. Die noch übrige Einwohnerschaft umfasst dann Lehrer jedes Faches, Lieferanten, Angestellte, Dienstboten und Fremde, deren Zufluss nur gering ist und denen nicht gestattet wird, sich in Milliard City oder sonstwo auf der Insel anzusiedeln. Von Advokaten gibt es nur wenige, wodurch auch Prozesse nur selten sind; Ärzte noch weniger, wodurch die Sterblichkeit auf eine lächerlich tiefe Stufe herabsinkt. Jeder Bewohner kennt übrigens sehr genau seine Konstitution, seine am Dynamometer gemessene Muskelkraft, seine mittels Spirometer festgestellte Lungenkapazität (Atmungsgröße), die am Sphygmometer beobachtete Zusammenziehungsfähigkeit seines Herzens und endlich seine am Magnetometer ablesbare allgemeine Lebenskraft. In der Stadt gibt es übrigens weder Schankstätten, Cafés oder Restaurationen, überhaupt nichts, was den Alkoholismus befördern könnte. Niemals ist hier ein Fall von Dypsomanie – sagen wir für die des Griechischen nicht kundigen Leser: von Trunksucht – vorgekommen. Vergessen wir nicht anzuführen, dass der Stadt elektrische Energie, Licht, mechanische Kraft, Wärme, verdichtete und verdünnte, sowie kalte Luft, Druckwasser geliefert und ihr pneumatische Telegramme und telefonische Nachrichten durch öffentliche Werke übermittelt werden. Geht jemand mit Tode ab auf dieser Schraubeninsel, die jeder klimatischen Unbill entzogen und gegen jede Beeinflussung durch Mikroben geschützt ist, so geschieht das, weil man, wenn die früher aufgezognen Federn der Lebensmaschinerie nach langer, langer Zeit abgelaufen sind, doch eben einmal sterben muss.
Auch Soldaten gibt es auf Standard Island, nämlich eine Truppe von fünfzig Mann unter dem Befehle des Colonel Stewart, denn man durfte nicht außer acht lassen, dass die weiten Gebiete des Stillen Ozeans nicht immer sicher sind. In der Nachbarschaft gewisser Inselgruppen ist es ein Gebot kluger Vorsicht, sich gegen Überfälle durch mancherlei Seeräuber sicherzustellen. Dass diese Miliz einen sehr hohen Sold bezieht und der gewöhnliche Mann sich besser steht, als ein höherer Offizier im alten Europa, ist ja selbstverständlich. Die Anwerbung dieser Soldaten, die auf öffentliche Kosten untergebracht, ernährt und gekleidet werden, geht ohne Schwierigkeiten vor sich. Der gleich einem Krösus bezahlte Anführer der Truppe hat dabei nur die Qual der Wahl.
Auf Standard Island existiert auch eine Polizei – nur einige schwache Rotten, die aber völlig hinreichen für die Sicherheit einer Stadt, in der keine Ursache vorliegt, diese Sicherheit gestört zu sehen. Es bedarf ja stets besonderer Genehmigung der obersten Verwaltungsbehörde, um sich hier häuslich niederzulassen. Die »Küsten« sind Tag und Nacht durch eine Abteilung Zollbeamter überwacht. Nur in den Häfen ist eine Landung überhaupt möglich. Wie sollten Übeltäter also Eingang finden? Was etwa Leute beträfe, die sich erst hier Ungebührlichkeiten zuschulden kommen ließen, so würden solche kurzerhand verhaftet, abgeurteilt und im Westen oder Osten des Großen Ozeans irgendwo an der Neuen oder Alten Welt ausgesetzt werden, sodass sie nach Standard Island niemals zurückkehren könnten.
Wir bedienten uns des Ausdrucks: die Häfen von Standard Island; deren gibt es in der Tat zwei, und zwar an beiden Enden der kurzen Durchschnittslinie des Ovals, das die Schraubeninsel bildet. Der eine heißt Steuerbord-, der andere Backbordhafen, entsprechend den im Seewesen gebräuchlichen Bezeichnungen.