Das Quartett wäre nun vorgestellt, als stände es am Rande eines Podiums vor unseren Augen. Der Leser kennt die einzelnen, die zwar nicht sehr originelle, doch mindestens scharf voneinander getrennte Typen bilden, und er gestatte freundlichst, diese Erzählung sich abspielen zu lassen, wobei er sehen wird, welche Rolle darin zu spielen die vier Pariser Kinder berufen sind, sie, die nach so reichlich in den Staaten des amerikanischen Bundes geerntetem Beifall jetzt auf dem Wege waren nach … Doch greifen wir nicht voraus, »überstürzen wir den Takt nicht!«, würde Seine Hoheit rufen, und fassen wir uns in Geduld.
Die vier Pariser befanden sich also gegen acht Uhr des Abends auf einer verlassenen Straße – wenn man dem Weg so schmeicheln darf – Nieder-Kaliforniens neben den Trümmern ihres »umgestürzten Wagens« … Musik von Boïeldieu, hat Pinchinat gesagt. Wenn Frascolin, Yvernes und er das kleine Abenteuer mit philosophischem Gleichmut hingenommen hatten und sich sogar mit einigen Scherzreden darüber wegzuhelfen suchten, so liegt es doch auf der Hand, dass wenigstens der Anführer des Quartetts Ursache genug hatte, in hellen »Zorn« zu geraten. Wir wissen ja, der Violoncellist hat eine leicht kochende Galle und, wie man zu sagen pflegt, Blut unter den Nägeln. Yvernes behauptet von ihm auch steif und fest, dass er aus der Familie eines Ajax oder Achilles abstamme, die auch nicht gerade sanftmütiger Natur waren.
Um nichts zu vergessen, fügen wir jedoch hinzu, dass, wenn Sébastien Zorn cholerisch, Yvernes phlegmatisch, Frascolin friedlich und Pinchinat von übersprudelnder Lustigkeit war, doch alle gute Kameradschaft hielten und füreinander eine wahrhaft brüderliche Freundschaft hegten. Sie fühlten sich vereinigt durch ein Band, das keine Meinungsverschiedenheit, keine Eigenliebe zu zerreißen vermochte, durch eine Übereinstimmung der Neigungen und des Geschmacks, die ein und derselben Quelle entstammte. Ihre Herzen bewahrten wie gute Instrumente stets eine ungestörte Harmonie.
Während Sébastien Zorn darauf loswettert, indem er seinen Violoncellkasten betastet, um sich zu versichern, dass er noch heil und ganz ist, tritt Frascolin an den Wagenführer heran.
»Nun, lieber Freund«, fragt er, »was meint Ihr denn, was wir jetzt beginnen?«
»Beginnen?« antwortet der Mann. »Wenn man weder Pferde noch Wagen mehr hat … da wartet man eben …«
»Warten, bis zufällig einer kommt!« ruft Pinchinat. »Und wenn nun keiner käme …«
»Da sucht man nach einem«, bemerkt Frascolin, den sein praktischer Sinn niemals verlässt.
»Doch wo?« poltert Zorn hervor, der wütend auf der Straße hin- und herläuft.
»Doch wo?«
»Wo?… Ei da, wo sich einer befindet«, erwidert der Rosselenker.
»Sapperment, Sie Kutschenbockbewohner«, fährt der Violoncellist mit einer Stimme auf, die schon allmählich in die höchsten Register übergeht, »soll das etwa eine Antwort sein? So ein ungeschickter Mensch, der uns umwirft, seinen Wagen zertrümmert und die Pferde zu Krüppeln macht, und der begnügt sich zu erklären: ›Ziehen Sie sich aus der Klemme, so gut und so schlecht es eben angeht!‹«
Von seiner angeborenen Zungenfertigkeit fortgerissen, verirrt sich Sébastien Zorn in eine endlose Reihe mindestens nutzloser Verwünschungen, bis Frascolin ihn unterbricht mit den Worten:
»Na, überlass das nur mir, alter Freund!«
Dann wendet er sich nochmals an den Wagenführer.
»Wo befinden wir uns denn jetzt, guter Mann?«
»Fünf (amerikanische) Meilen von Freschal.«
»Ist das etwa Eisenbahnstation?«
»Nein … ein Dorf in der Nähe der Küste.«
»Würden wir dort einen Wagen finden?«
»Einen Wagen wohl nicht, vielleicht aber einen Karren …«
»Einen Ochsenkarren, wie zurzeit der Merowinger!« ruft Pinchinat.
»Das kann uns auch gleichgültig sein«, meint Frascolin.
»Frage lieber«, nimmt Sébastien Zorn wieder das Wort, »ob sich in dem Neste, dem Freschal, ein Gasthaus vorfindet.«
»Jawohl, das gibt’s; dort hätten wir einen kurzen Halt gemacht.«
»Und um nach diesem Dorfe zu gelangen, brauchen wir nur der Landstraße zu folgen?«
»Ganz gradeaus.«
»Dann also marsch!« befiehlt der Violoncellist.
»Es wäre doch grausam, den wackeren Mann hier in seiner Not liegen zu lassen«, bemerkt Pinchinat. »He, guter Freund, wenn wir Sie nun unterstützen, könnten Sie dann nicht …«
»Ganz unmöglich!« antwortet der Kutscher. »Übrigens ziehe ich es vor, hier, bei meinem Wagen zu bleiben. Wenn’s erst wieder Tag wird, werd’ ich schon sehen, wie ich fortkomme.«
»Wenn wir in Freschal sind«, bemerkt Frascolin, »könnten wir Ihnen ja Hilfe schicken.«
»Ja, der dortige Gastwirt kennt mich und wird mich nicht in der Not sitzenlassen.«
»Geht’s nun fort?« mahnt der Violoncellist, der seinen Instrumentenkasten schon aufgerichtet hat.
»Sofort«, erwidert Pinchinat. »Vorher wollen wir unseren Kutscher nur dort an die Erdwand hinüberschaffen.«
Natürlich war es einfache Menschenpflicht, den Mann von der Landstraße wegzubringen, und da er sich seiner schwerverletzten Beine nicht bedienen konnte, hoben Pinchinat und Frascolin ihn auf, trugen ihn nach der Seite des Weges und lagerten ihn zwischen die oberirdischen Wurzeln eines dicken Baumes, dessen herabhängende, unterste Zweige fast eine Blätterlaube bildeten.
»Na, wird’s nun endlich?« drängt Sébastien Zorn zum dritten Male, nachdem er sich den Violoncellkasten schon mittels mehrerer Riemen so gut wie möglich auf den Rücken geschnallt hatte.
»So, das wäre geschehen«, sagte Frascolin gelassen.
Dann wendet er sich noch mal an den Wagenführer.
»Es bleibt also dabei; der Gastwirt von Freschal sendet Ihnen Hilfe. Haben Sie bis dahin noch ein besonderes Bedürfnis, guter Freund?«
»Ach ja«, antwortet der Mann, »nach einem tüchtigen Schluck Gin, wenn in Ihren Korbflaschen davon noch etwas übrig ist.«
Pinchinats Flasche ist noch ganz voll, und Seine Hoheit bringt willig das kleine Opfer.
»Nun, Männchen«, sagt er lächelnd, »damit werden Sie die Nacht über wenigstens innerlich nicht frieren!«
Eine letzte dringliche Mahnung des Violoncellisten bestimmt seine Gefährten endlich, sich in Bewegung zu setzen. Es ist ein Glück, dass deren sonstiges Gepäck im Güterwagen des Zugs geblieben ist, statt dass sie es mit auf die Kutsche verladen hätten. Trifft dasselbe in San Diego auch mit einiger Verspätung ein, so bleibt unseren Musikern doch die Beschwerde erspart, es jetzt nach dem Dorfe Freschal zu befördern. Es ist schon genug an den Violinenkästen, und an dem Violoncellkasten mehr als genug. Ein seines Namens würdiger Instrumentalist trennt sich freilich niemals von seinem Instrumente – so wenig, wie ein Soldat von seinen Waffen oder eine Schnecke von ihrem Hause.
1 Im Original »mi sur le do«, ein deutsch nicht wiederzugebendes Wortspiel, da mi und do die Noten C und E bedeuten, ohne Rücksicht auf Rechtschreibung aber auch als »gelegt« und »Rücken« verstanden werden können. (Anm. d. Übersetzers.) <<<
2 Quetschung <<<
3 Französisch »Son Altesse«, hier als unübertragbares Wortspiel von »alto« (Bratsche) abgeleitet. (Anm. d. Übersetzers.) <<<
Im Finstern und zu Fuß auf unbekannter Straße hinzuziehen, obendrein inmitten einer fast öden Gegend, wo Übeltäter im Allgemeinen weniger selten sind als Reisende, hat immer etwas Beunruhigendes an sich. In dieser Lage befand sich nun unser Quartett. Franzosen sind ja am Ende mutig, und die hier sind es in besonderem Maße. Doch zwischen dem Mute und der Furchtsamkeit verläuft noch eine Scheidelinie, die von der gesunden Vernunft nicht übersehen werden darf. Wäre die Eisenbahn nicht durch eine von plötzlichem Hochwasser überflutete Gegend verlaufen und wäre die Kutsche fünf Meilen vor Freschal nicht umgestürzt, so hätte sich unsere kleine Künstlerschar nicht in die Zwangslage versetzt gesehen, des Nachts auf dieser verdächtigen Straße hinzuwandern. Hoffen wir indes, dass ihnen dabei kein Unheil zustößt.
Es ist etwa um acht Uhr, als Sébastien Zorn und seine Kameraden, den Weisungen des Wagenführers entsprechend, die Richtung nach der Küste zu einschlagen. Da die Violinen nur in leichten, wenig umfänglichen Lederetuis stecken, haben die Geiger keine besondere Ursache, sich zu beklagen. Sie tun das auch nicht, weder der weise Frascolin, noch der lustige Pinchinat oder der idealistisch angehauchte Yvernes. Der Violoncellist aber mit seinem umfänglichen Instrumentenkasten, der hat etwas wie einen Schrank auf dem Rücken. Bei seinem uns bekannten Charakter ist es nicht zu verwundern, dass er darüber weidlich wettert und schimpft. Daneben ächzt und stöhnt der Mann, was sich unter der onomatopoetischen Form von Ahs! Ohs! und Uffs! hörbar macht.
Schon herrscht eine tiefe Finsternis. Dicke Wolken jagen über das Himmelsgewölbe, die manchmal da und dort etwas zerreißen und dann eine spöttische Mondsichel kaum im ersten Viertel hindurchscheinen lassen. Man weiß nicht, warum – wenn nicht deswegen, weil er einmal in bissiger, reizbarer Stimmung ist – die blonde Phöbe nicht das Glück hat, unserem Sébastien Zorn zu gefallen. Er streckt ihr aber die geballte Faust entgegen und ruft:
»Na, was hast denn du mit deinem einfältigen Gesichte vor?… Nein, wirklich, ich kenne nichts Alberneres, als diese Schnitte einer unreifen Melone, die da oben hinspaziert!«
»Es wäre freilich besser, wenn der Mond uns das volle Gesicht zukehrte«, meinte Frascolin.
»Und warum das?« fragte Pinchinat.
»Weil wir da besser sehen könnten.«
»O, du keusche Diana, du friedliche Nachtwandlerin, du bleicher Satellit der Erde, o du angebetetes Ideal des anbetungswürdigen Endymion1 …«
»Bist du fertig mit deiner Verhimmelung?« ruft der Violoncellist. »Wenn diese ersten Geigen erst anfangen, weit auf der Quinte herunterzurutschen …«
»Etwas schneller vorwärts«, fiel Frascolin ein, »sonst haben wir das Vergnügen, noch unter freiem Himmel zu übernachten …«
»Wenn freier Himmel wäre … und dazu noch unser Konzert in San Diego zu versäumen!« bemerkt Pinchinat.
»Wahrhaftig, ein hübscher Gedanke!« ruft Sébastien Zorn, der seinen Kasten schüttelt, dass er einen kläglichen Ton von sich gibt.
»Doch dieser Gedanke, mein alter Kamerad«, sagt Pinchinat, »rührt ursprünglich von dir her …«
»Von mir …?«
»Gewiss! Warum sind wir nicht in San Franzisko geblieben, wo wir Gelegenheit hatten, eine ganze Sammlung kalifornischer Ohren zu ergötzen!«
»Nun«, fragt der Violoncellist, »warum sind wir dann fortgegangen?«
»Weil du es so wolltest.«
»Dann muss ich gestehen, eine beklagenswerte Eingebung gehabt zu haben, und wenn …«
»Ah, seht einmal da!« fällt Yvernes ein, der mit der Hand nach einem bestimmten Punkte des Himmels weist, wo ein dünner Mondstrahl die Ränder einer Wolke mit weißlicher Einfassung säumt.
»Was gibt es denn, Yvernes?«
»Zeigt jene Wolke nicht ganz die Gestalt eines Drachens mit ausgebreiteten Flügeln und einem Pfauenschwanze mit hundert Argusaugen darauf?«
Jedenfalls ist Sébastien Zorn nicht mit der Fähigkeit, hundertfältig zu sehen, ausgerüstet, die den Hüter der Tochter des Inachos auszeichnete, denn er bemerkt nicht ein tief ausgefahrenes Gleise, worin er unglücklicherweise mit dem Fuße hängenbleibt. Dadurch fällt er platt auf den Leib, sodass er mit seinem Kasten auf dem Rücken einer großen Coleoptere gleicht, die auf der Erde hinkröche.
Natürlich kommt der Instrumentalist wieder in Wut – er hat ja auch alle Ursache dazu – und schimpft auf die erste Violine wegen deren Bewunderung ihres in der Luft schwebenden Ungeheuers.
»Da ist nur der Yvernes dran schuld!« fährt Sébastien Zorn auf. »Hätte ich nicht nach seinem verwünschten Drachen gesehen …«
»Es ist gar kein Drache mehr, liebe Freunde, sondern jetzt nur noch eine Amphora! Mit einigermaßen entwickelter Fantasie bemerkt man sie in der Hand der Nektar einschenkenden Hebe …«
»Doch denken wir daran, dass in jenem Nektar verteufelt viel Wasser ist«, ruft Pinchinat, »und hüten wir uns, dass deine reizende Göttin der Jugend nicht ein Sturzbad über uns ausgießt!«
Das hätte die Lage der Wanderer freilich noch verschlimmert, und tatsächlich fängt das Wetter an, mit Regen zu drohen. Die Vorsicht treibt also zur Eile, um in Freschal rechtzeitig Schutz zu finden.
Man hebt den zornschnaubenden Violoncellisten auf und stellt den Brummbär wieder auf die Füße. Der freundliche Frascolin erbietet sich, ihm seinen Kasten abzunehmen. Sébastien Zorn will das zuerst nicht zugeben … er, sich von seinem Instrumente trennen … einem Violoncell von Gaud und Bernardel … das heißt ja, von einer Hälfte seines Selbst … Er muss sich aber fügen, und somit geht diese kostbare Hälfte auf den Rücken des dienstwilligen Frascolin über, der dafür sein leichtes Etui genanntem Zorn anvertraut. Nun geht es weiter und raschen Schrittes zwei Meilen vorwärts, ohne dass sich etwas Besonderes ereignet. Die mit Regen drohende Nacht wird immer finsterer. Schon fallen einige große Tropfen, der Beweis, dass sie aus hochziehenden, gewitterhaften Wolken stammen. Die Amphora der hübschen Hebe unseres Yvernes entleert sich jedoch nicht weiter, und die vier Nachtwandler dürfen hoffen, Freschal im Zustande vollständiger Trockenheit zu erreichen.
Immerhin bedarf es noch peinlichster Aufmerksamkeit, um auf dieser finsteren Straße nicht zu Fall zu kommen, denn abgesehen von den tiefen Wagenspuren verläuft sie oft in scharfen Krümmungen um vorspringende Felsmassen oder führt neben düsteren Schluchten hin, aus denen der Trompetenton der Berggewässer heraufschallt. Wenn Yvernes das bei seiner Sinnesveranlagung poetisch findet, so nennt es Frascolin bei der seinigen mindestens beunruhigend.
Daneben waren noch unliebsame Begegnungen zu fürchten, die die Sicherheit aller Reisenden auf den Landstraßen Niederkaliforniens sehr zweifelhaft machen. Das Quartett besaß an Waffen aber nur die drei Violin- und den einen Violoncellbogen, die in einem Lande, wo der Colt’sche Revolver erfunden und damals noch erheblich verbessert worden war, doch als etwas unzureichend erscheinen dürften. Wären Sébastien Zorn und seine Kameraden Amerikaner gewesen, so würden sie sich jedenfalls mit dieser handlichen Schutzwaffe versehen haben, die man dortzulande immer in einer besonderen kleinen Hosentasche bei sich trägt. Um auch nur auf der Bahn von San Franzisko nach San Diego zu fahren, würde sich kein waschechter Yankee ohne diesen sechsschüssigen Begleiter auf die Reise begeben haben. Unsere Franzosen hatten das freilich nicht für nötig erachtet. Fügen wir hinzu, dass sie daran gar nicht gedacht und es doch vielleicht zu bereuen haben dürften.
Pinchinat marschiert an der Spitze und behält die Böschungen der Straße scharf im Auge. Wo diese von rechts und links her sehr eingeengt erscheint, ist ein unerwarteter Überfall weniger zu fürchten. Als Bruder Lustig wandelt ihn immer einmal das Verlangen an, seinen Kameraden »einen gelinden Schrecken einzujagen«, z.B. dadurch, dass er plötzlich stehenbleibt und mit vor Schreck bebender Stimme murmelt:
»Halt! … Da unten … was seh ich da?… Halten wir uns fertig, Feuer zu geben!«
Wenn der Weg sich aber durch einen dichten Wald hinzieht, inmitten der Mammutbäume, der hundertfünfzig Fuß hohen Sequoias, jener Pflanzenriesen des kalifornischen Landes … dann vergeht ihm selbst die Lust zum Scherzen. Hinter jedem dieser ungeheuren Stämme können sich bequem zehn Mann verbergen. Sollten sie hier nicht das Aufblitzen eines hellen Scheines, dem ein trockner Knall folgt, zu sehen, nicht das schnelle Pfeifen einer Kugel zu hören bekommen? An solchen, für einen nächtlichen Überfall wie geschaffenen Stellen heißt es die Augen offen halten. Und wenn man zum Glück nicht mit Banditen zusammenstößt, so rührt das daher, dass diese ehrsame Zunft aus dem Westen Amerikas ganz verschwunden ist oder sich jetzt nur noch Finanzoperationen an den Märkten der Alten und der Neuen Welt widmet. Welches Ende für die Nachkommen eines Karl Moor,2 eines Johann Sbogar! Und wem sollten derlei Gedanken kommen, wenn nicht unserem Yvernes? Entschieden – meint er – ist das Stück der Dekoration nicht wert!
Plötzlich bleibt Pinchinat wie angewurzelt stehen.
Frascolin tut desgleichen.
Sébastien Zorn und Yvernes gesellen sich sofort zu beiden.
»Was gibt es?« fragt die zweite Violine.
»Ich glaubte, etwas zu sehen …«, antwortete die Bratsche.
Diesmal handelt es sich nicht um einen Scherz seinerseits. Offenbar bewegt sich eine Gestalt zwischen den Bäumen hin.
»Eine menschliche oder tierische?« erkundigt sich Frascolin.
»Das weiß ich selbst nicht.«
Was jetzt am besten zu tun sei, das unterfing sich niemand zu sagen. Dicht aneinandergedrängt starren alle laut- und bewegungslos vor sich hin.
Dicht aneinandergedrängt
Durch einen Wolkenspalt fließen die Strahlen des Mondes auf den Dom des dunkeln Waldes herab, dringen durch die Äste der Sequoias und erreichen noch den Erdboden. Im Umkreis von hundert Schritten ist dieser etwas sichtbar.
Pinchinat hat sich nicht getäuscht. Zu groß für einen Menschen, kann diese Masse nur einem gewaltigen Vierfüßler angehören. Doch welchem Vierfüßler?… Einem Raubtiere?… Jedenfalls einem solchen … doch welchem Raubtiere?
»Ein Plantigrade!«3 sagt Yvernes.
»Zum Teufel mit dem Vieh«, murmelt Sébastien Zorn mit verhaltener, aber grimmiger Stimme, »und mit dem Vieh meine ich mehr dich, Yvernes! … Kannst du nicht wie andere vernünftige Menschen reden! Was ist denn das, ein Plantigrade?«
»Ein Tier, das auf vier Tatzen, und zwar auf den ganzen Sohlen läuft«, erklärt Pinchinat.
»Ein Bär!« setzt Frascolin hinzu.
Es war in der Tat ein Bär, und zwar ein ganz mächtiges Exemplar. Löwen, Tigern oder Panthern begegnet man in den Wäldern Nieder-Kaliforniens nicht. Deren gewöhnliche Bewohner sind nur die Bären, mit denen, wie man zu sagen pflegt, nicht gut Kirschen essen ist.
Man wird sich nicht verwundern, dass unsere Pariser in voller Übereinstimmung den Gedanken hatten, diesem Plantigraden den Platz zu überlassen, der ja eigentlich »bei sich zu Hause« war. So drängt sich unsere Gruppe denn noch dichter zusammen und marschiert langsam, doch in strammer Haltung und das Aussehen von Fliehenden vermeidend, mit dem Gesicht nach dem Raubtiere gewendet rückwärts.
Der Bär trottet kurzen Schrittes den Männern nach, wobei er die Vordertatzen gleich Telegrafenarmen bewegt und in den Pranken schwerfällig hin- und herschwankt. Allmählich kommt er näher heran und sein Verhalten wird etwas feindseliger … sein heiseres Brummen und das Klappen der Kinnladen sind ziemlich beunruhigend.
»Wenn wir nun alle nach verschiedenen Seiten Fersengeld gäben?« schlägt Seine Hoheit vor.
»Nein, das lassen wir bleiben«, antwortet Frascolin. »Einer von uns würde doch von dem Burschen gehascht und müsste allein für die anderen zahlen.«
Diese Unklugheit wurde nicht begangen, und es liegt auch auf der Hand, dass sie hätte schlimme Folgen haben können.
Das Quartett gelangt so als »Bündel« an die Grenze einer minder dunkeln Waldparzelle. Der Bär hat sich jetzt bis auf zehn Schritte genähert. Sollte er den Ort für günstig zu einem Angriff halten?… Fast scheint es so, denn er verdoppelt sein Brummen und beschleunigt seinen Schritt noch mehr.
Die kleine Gruppe weicht deshalb noch schneller zurück, und die zweite Violine mahnt dringend:
»Kaltes Blut!… Den Kopf nicht verlieren!«
Die Lichtung ist überschritten und der Schutz der Bäume wieder erreicht. Vermindert ist die Gefahr hierdurch doch eigentlich nicht. Von einem Stamme zum anderen schleichend, kann das Tier die Verfolgten plötzlich anspringen, ohne dass diese seinem Angriffe zuvorzukommen vermögen, und das mochte der Bär wohl auch vorhaben, als er sein Brummen einstellte und sich etwas zusammenkrümmend fast still hielt …
Da ertönt eine laute Musik in der dicken Finsternis, ein ausdrucksvolles Largo, in dem die ganze Seele des Künstlers aufzugehen scheint.
Yvernes ist es, der die Violine aus dem Etui gezogen hat und sie unter mächtigem Bogenstriche erklingen lässt. Wahrlich, ein Geniestreich! Warum sollten auch Musiker ihr Heil nicht bei der Musik gesucht haben? Sammelten sich die von den Akkorden Amphions bewegten Steine nicht freiwillig um Theben an? Legten sich nicht die mit lyrischem Sinne begabten wilden Tiere besänftigt zu Orpheus Füßen nieder? Nun, hier kam man zu dem Glauben, dass dieser kalifornische Bär unter atavistischer Beeinflussung ebenso künstlerisch veranlagt gewesen sei, wie seine Kameraden aus der Sage, denn seine Wildheit erlischt unter der hervortretenden Neigung für Melodien, und ganz entsprechend dem Zurückweichen des Quartetts folgt er diesem in gleichem Tempo nach und lässt wiederholt ein leises Zeichen dilettantischer Befriedigung hören. Es fehlte gar nicht viel, dass er »Bravo!« gerufen hätte.
Eine Viertelstunde später befindet sich Sébastien Zorn mit seinen Gefährten am Saume der Waldung. Sie überschreiten ihn, während Yvernes immer flott drauflosgeigt.
Das Tier hat haltgemacht. Es scheint keine Lust zu haben, noch weiter mitzutrotten; dagegen schlägt es die plumpen Vordertatzen aneinander.
Da ergreift auch Pinchinat sein Instrument und ruft:
»Den Bärentanz! Und in flottem Tempo!«
Während nun die erste Violine die weitbekannte Melodie in Dur mit vollen Bogenstrichen heruntergeigt, begleitet sie die Bratsche scharf und falsch in Moll …
Da fängt das Tier zu tanzen an, hebt einmal die rechte, einmal die linke Tatze hoch auf, dreht und schwenkt sich hin und her und lässt die kleine Gesellschaft unbehelligt sich weiter auf der Straße entfernen.
»Bah!« stößt Pinchinat hervor, »das war nur ein Zirkusbär!«
»Tut nichts«, antwortet Frascolin, »der Teufelskerl, der Yvernes, hat doch eine famose Idee gehabt.«
»Nun trabt aber davon … allegretto«, mahnt der Violoncellist, »und ohne euch umzusehen.«
Es ist gegen neun Uhr abends, als die vier Jünger Apolls heil und gesund in Freschal eintreffen. Sie haben die letzte Wegstrecke in stark beschleunigtem Schritte zurückgelegt, obgleich der Bär ihnen nicht mehr folgte.
Etwa vierzig Häuschen oder richtiger Hütten aus Holz rund um einen mit Buchen bestandenem Platz … das ist Freschal, ein vereinsamtes Dorf, das gegen zwei Meilen von der Küste liegt.
Unsere Künstler schlüpfen zwischen zwei von großen Bäumen beschatteten Wohnstätten hindurch, gelangen damit nach einem freien Platze, in dessen Hintergrunde sich der bescheidene Glockenturm eines Kirchleins erhebt, sie treten zusammen, als wollten sie ein Musikstück aus dem Stegreif vortragen, und bleiben an der Stelle stehen, um zu beratschlagen.
»Das … das soll ein Dorf sein?« fragte Pinchinat.
»Na, du hast doch nicht erwartet, hier eine Stadt von der Art New Yorks oder Philadelphias zu finden!« erwidert Frascolin.
»Unser Dorf liegt aber bereits im Bett!« bemerkt Sébastien Zorn wegwerfend.
»O, wir wollen ein schlummerndes Dorf ja nicht erwecken!« seufzt Yvernes melodisch.
»Im Gegenteil, lasst es uns munter machen!« ruft Pinchinat.
Freilich, wenn sie die Nacht nicht unter freiem Himmel zubringen wollten, blieb ihnen am Ende nichts anderes übrig.
Im Übrigen ist der Ort völlig verlassen und totenstill – kein Laden geöffnet, kein Licht hinter einem Fenster. Für das Schloss Dornröschens wären hier alle Vorbedingungen ungestörtester Ruhe gegeben gewesen.
»Wo ist denn nun das Gasthaus?« fragt Frascolin.
Ja, das Gasthaus, von dem der Kutscher sprach, wo seine verunglückten Fahrgäste freundliche Aufnahme und gutes Nachtlager finden sollten?…
Und der Gastwirt, der sich beeilen würde, dem noch schlimmer verunglückten Kutscher Hilfe zu senden?… Sollte der arme Kerl das alles nur geträumt haben?… Oder – eine andere Hypothese – sollten sich Sébastien Zorn und seine Gesellschaft verirrt haben?… Wäre das gar nicht die Dorfschaft Freschal?…
Diese verschiedenen Fragen verlangen schleunige Beantwortung. Es ergibt sich also die Notwendigkeit, einen der Landesbewohner zu befragen und, um das zu können, an die Tür eines der kleinen Häuser zu klopfen … womöglich an die des Gasthofs, wenn ein glücklicher Zufall diesen entdecken lässt.
Die vier Musiker beginnen also eine Untersuchung der finstern Ortschaft und streifen an den Häuserfronten hin, um vielleicht irgendwo ein heraushängendes Schankzeichen zu erspähen. Von einem Gasthofe findet sich aber keine Spur.
Gibt es auch keine Herberge, so ist doch gar nicht anzunehmen, dass sich nicht wenigstens eine gastfreundliche Hütte fände, und da man hier nicht in Schottland ist, kann man auf amerikanische Weise vorgehen. Welcher Eingeborene von Freschal würde es wohl abschlagen, ein oder auch zwei Dollar für die Person für ein Abendessen und ein Nachtlager anzunehmen?
»Also vorwärts, wir klopfen«, sagte Frascolin.
»Doch im Takte«, setzte Pinchinat hinzu, »und zwar im Sechsachteltakte!«
Hätten sie auch im Drei- oder Viervierteltakte gepocht, der Erfolg wäre doch derselbe gewesen. Keine Tür, kein Fenster öffnet sich, und das Konzert-Quartett hatte schon ein Dutzend Häuser in gleicher Weise um Antwort ersucht.
»Wir haben uns getäuscht«, erklärt Yvernes. »Das ist gar kein Dorf, sondern ein Friedhof, und was man hier schläft, ist der ewige Schlaf … Vox clamantis in deserto.«4
»Amen!« antwortete Seine Hoheit mit der tiefen Stimme eines Kirchenkantors.
Was war nun zu tun, da dieses Grabesschweigen beharrlich fortdauert? Etwa nach San Diego zu weiterzumarschieren? Die Musiker kommen vor Hunger und Erschöpfung bald um. Und dann, welchen Weg sollten sie, ohne Führer und in stockfinstrer Nacht, einschlagen?… Sollten sie vielleicht versuchen, ein anderes Dorf zu erreichen?… Ja, welches denn? Nach Aussage des Kutschers lag kein weiteres an der Küste. Voraussichtlich verirrten sie sich dabei nur noch mehr. Am ratsamsten erschien es, den Tag abzuwarten. Und doch, ein halbes Dutzend Stunden ohne Obdach hinzubringen, unter einem Himmel, der sich mit dicken Wolken überzieht, die früher oder später mit einer Sündflut drohen, das kann man doch niemandem, auch nicht Künstlern, zumuten.
Da kam Pinchinat auf einen Gedanken. Seine Gedanken sind zwar nicht immer die besten, sprudeln aber massenhaft in seinem Gehirn auf. Der jetzige hatte sich übrigens der Zustimmung des weisen Frascolin zu erfreuen.
»Kameraden«, sagte er, »warum sollte das Mittel, das gegen einen wilden Bären von Erfolg war, nicht auch gegenüber einem kalifornischen Dorfe erfolgreich sein? Wir haben jenen Plantigraden durch ein bisschen Musik gezähmt … erwecken wir nun das Landvolk hier durch ein lärmendes Konzert, wobei wir’s an einem Forte und einem Allegro nicht fehlen lassen …«
»Das wäre des Versuchs wert«, meinte Frascolin.
Sébastien Zorn hat Pinchinat nicht einmal seine Worte vollenden lassen, sondern bereits das Violoncell aus dem Kasten geholt, es auf der eisernen Spitze aufgerichtet vor sich hingestellt, und steht, da er keinen Sitz zur Verfügung hat, mit dem Bogen in der Hand schon bereit, dessen klingendem Bauche alle darin aufgespeicherten Töne zu entlocken.