Dem Glück so nah und doch so fern

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Dem Glück so nah und doch so fern
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Impressum

Copyright: © 2016 Judith Cramer

Verlag: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de

Titel: Dem Glück so nah und doch so fern


Gestaltung und Erstellung vom Coverbild:

Kirsten Stratmann, geboren am 18.01.1989 in Soest (Deutschland).

E-Mail: kirsten.stratmann@hotmail.de

https://www.facebook.com/kirsten.stratmann.de/

Facebook Seite: Str-ART-mann

Danke liebe Kirsten, für dieses wundervolle Coverbild. Du bist eine so kreative Künstlerin.

Ein großes Dankeschön auch an Diana Grebner. Danke, dass Du mich motivierst hast, dieses Buch zu schreiben.

Liebe Diana, Du hast mir einen Weg gezeigt, meine Stärke zu erkennen. Durch Fern-Reiki hast Du all meine Blockaden gelöst und ich konnte nicht anders, ich musste meinen ersten Liebesroman veröffentlichen. Ganz sicher folgen noch viele weitere Romane von mir.

Dem Glück so nah und doch so fern

Kurzbeschreibung:

Die Maschine befindet sich im Anflug von Palma de Mallorca. Lisa spürt den Hauch aus der Klimaanlage und ihre Hände legen sich zart über ihre Augen. Sie möchte vergessen, alles hinter sich lassen. Die enttäuschende Liebe zu einem Mann und den Verlust ihrer Eltern.

Lisa möchte endlich an sich denken, die Leichtigkeit des Seins spüren. An den Strand gehen, in das Meer eintauchen, die Sonne auf der Haut spüren und mit ihrer zehn Jahre jüngeren Schwester Tina, sie lebt seit einiger Zeit auf der Insel, die gemütlichen Stunden in ihrem Sommerhaus genießen.

Schon am darauf folgenden Tag ihrer Ankunft lernt Lisa ihren Nachbarn Tom kennen. Er ist geschieden, sagt er, und es entsteht zwischen ihnen eine leidenschaftliche Beziehung. Tom versteht sein Handwerk, die tiefen Wünsche von Lisa zu entflammen, so sehr, dass sie glaubt, den Verstand zu verlieren.

Nur wenige Wochen nach dieser Begegnung wird Lisa von einer fremden Frau im Supermarkt angesprochen und all ihre Träume zerspringen, wie ein fallen gelassenes Glas.

Tom soll in Deutschland verheiratet sein und zwei bezaubernde Kinder haben. Ist alles nur ein Spiel gewesen? Hat sie sich so in diesem Mann täuschen können?

Prolog

Sie ist etwas anders als ihre Klassenkameraden in der Schule.“ Diese Worte hallen mir heute noch nach. Ich habe als Kind keine Puppen in meinem Bett oder Zimmer gehabt. Ich fand es viel aufregender, mit den Jungs aus unserer Straße auf Bäume zu klettern, Legosteine zusammenzusetzen, oder Fangen und Jagen zu spielen.

Wenn ich für mich allein war, mochte ich es, mich auf den Rasen vor unserem Haus zu setzen und im Sommer den Schmetterlingen zuzuschauen, wie sie ihre Flügel ausbreiteten. Hinter unserem Schuppen gab es einen verwilderten Platz und da habe ich den Ameisen geholfen, ihre Sandburgen zu bauen. Ich war fest davon überzeugt, dass sie es ohne meine Hilfe nicht schaffen würden. Dann bin ich zu meinen Eltern gelaufen und sagte: „Guckt mal, schnell, die Ameisen haben jetzt ihr Häuschen und sind in Sicherheit.“

Zu meinem zwölften Geburtstag habe ich ein Tagebuch geschenkt bekommen und ich fing an, seitenweise Geschichten zu schreiben, die mich bewegten. Meistens waren sie lustig, besonders die Streiche, die wir als Kinder ausgeheckt hatten. Manchmal tropfte auch eine Träne auf meine Seite, wenn mich der Liebeskummer in meinem Bett besuchte und meinte, er müsste sich auf mein Kopfkissen legen. Ich habe nie aufgehört, meine Gedanken zu Papier zu bringen und später, als ich meine erste Schreibmaschine bekam, schrieb ich phantasievolle Kurzgeschichten.

Während meiner Ausbildung zur Verlagskauffrau habe ich alle Informationen in mich aufgesogen. Die Redakteure fragten oft nach meiner Meinung, wenn sie einen Artikel verfasst haben. Einmal sah ich, wie ein Lächeln über ihre Gesichter huschte. Hinter vorgehaltener Hand hörte ich sie sagen, „sie ist ein Mädchen mit vielen komischen Phantasien“. Danach hatte ich keine Lust mehr, ihnen meine Ansichten zu erklären. Ich wollte auch in keinem Büro sitzen, nicht mit hektischen Kollegen zusammenarbeiten, die nach Ideen suchten und mit so wenig Emotionen es zu Papier brachten. Klar, sie haben gedacht, dass sie die Größten sind, doch ich habe ihre Beiträge gelesen und das kleine Mädchen in mir dachte, das klingt nicht gut. Warum müssen Worte so aneinandergereiht werden, dass sie emotionslos wirken?

Mein bester Freund Lukas hat mich darin bestärkt, meinen Weg zu gehen. Ich wollte Schriftstellerin werden, Bücher schreiben, den Menschen die Welt zeigen, wie ich sie sehe.

Wie gern hätte ich ihn als „meinen Freund“ gehabt, doch er hatte mir an seinem sechzehnten Geburtstag anvertraut, wie er „wirklich fühlt“. Bis heute weiß er nicht, wie weh er mir damit getan hat, sein Geheimnis verraten zu haben. Er liebt keine Mädchen, er wäre anders, er fühle sich zu Jungs hingezogen. Das waren seine Worte. Hey, ich fühle mich auch zu Jungs hingezogen, hätte ich fast geantwortet. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis ich das Gesagte verstanden habe. Damals brach für mich eine Welt zusammen und so gern hätte ich ihm erzählt, wie verliebt ich in ihn war. Später ist er als Austauschschüler nach England gegangen und von dort ist er nicht mehr zurückgekommen. Lukas ist einfach dageblieben, weil ihm die Liebe seines Lebens begegnet ist. Das hat er mir in einem langen Brief offenbart.


***

Heute bin ich einunddreißig und denke liebevoll an meine Eltern, die an mich geglaubt haben. Sie sagten niemals, Lisa, das wird brotloses Schreiben sein, höre auf zu phantasieren. Nein, im Gegenteil, sie freuten sich darüber, dass ich eine genaue Vorstellung von meiner Zukunft hatte. Wenn man noch jung ist, möchte man seine Ziele verfolgen und ich habe auf meine innere Stimme gehört. Die Träume sollen zum Himmel steigen, sich dort finden und mit einem großen Heißluftballon, in bunten Farben zurückkommen.

Meine Schwester, sie ist zehn Jahre jünger als ich und sie sieht die Welt mit anderen Augen. Sie hat noch keine Vorstellung vom Leben, wohin der Weg sie führen wird. Sie liebt die Partys, das schnelle Autofahren, ist dem Tiefsinn noch nicht begegnet und ist ständig auf der Suche, sich selbst zu finden. Nach ihrem Abitur wollte sie erst einmal „ausspannen“, so hat sie es an einem sonnigen Nachmittag auf der Terrasse meiner Eltern verkündet. Sie möchte reisen, etwas von der Welt sehen und auch hier stimmten Mama und Papa ihr zu. „Ja, mach das Tina, das Leben ist zu kurz, um sich sofort beruflich zu binden.“ Seit zwei Monaten ist sie auf Mallorca gestrandet und lebt in unserem Sommerhaus.

Unsere Eltern haben immer gearbeitet um zu leben, nicht anders herum und dies haben sie auf uns übertragen. Sie waren hanseatische Versicherungsagenten, von der Sorte Mensch, die nicht einfach schnell eine Police abschließen wollten. Dies hat sie so erfolgreich gemacht, man hatte ihnen vertraut.

***

Es gibt sie nicht mehr. Gerade waren zwei uniformierte Polizisten in meiner Wohnung und versuchten mir schonend beizubringen, dass meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind.

Wie eng sind Glück und Leid doch miteinander verbunden? Heute Morgen haben wir noch gemeinsam gefrühstückt. Mama hat sich so auf das Wochenende in München gefreut. Was hat der Beamte noch gesagt? Ein Lastwagenfahrer ist am Steuer eingeschlafen und hat den Wagen meiner Eltern gerammt. Sie waren beide sofort tot.

Eine weiße Taube, sie schaut mich in meiner Phantasie an und schließt ihre Augen. Ich verstehe die Botschaft, ich mache es ihr nach.

Gleich kommen Mama und Papa zur Tür herein, sie hatten kurz vor der Autobahn einen Motorschaden, das hat sie gehindert, nach München zu fahren.

Eine leise Stimme spricht zu mir: „Lisa, du träumst, wach auf. Deine Eltern gibt es nicht mehr“. Wie ein Hammer schlägt die Wahrheit auf mich ein, ich möchte ihr ausweichen, doch meine Seele wird tief verletzt.

Immer waren sie für uns da, unser Anker im Leben. Mit jedem Problem konnten wir bei ihnen ankommen und immer wieder schafften sie es, dass wir nicht nur schwarz oder weiß sehen. Sie haben uns die Welt erklärt, dass sich zwischen Gut und Böse noch mehr Facetten befinden. Immer wieder haben sie es uns vorgelebt und betont, wie wichtig es ist, zu lieben. Unsere kleine Familie hielt wie Pech und Schwefel zusammen und nichts konnte unsere Einheit sprengen. Wir vertrauten uns.

Ein Haus am Stadtrand von Hamburg, ein Sommerhaus auf Mallorca und ein Bankkonto, wovon man Jahre hätte leben können, ohne einen Finger zu bewegen. All das lassen sie zurück, unser Erbe. Ich will das alles nicht, ich möchte meine Eltern lebendig sehen. Ich möchte das herzhafte Lachen meiner Mutter hören, den Pfeifenduft meines Vaters wahrnehmen.

Wie soll ich das nur Tina beibringen? Nun haben wir nur noch uns, meine kleine Schwester und ich. Keine Omas, keine Opas, keinen Onkel, keine Tante, nichts. Unsere Eltern hatten keine Geschwister und wenn es Verwandtschaft gegeben hätte, darüber wurde nie gesprochen.

Die Melodie von meinem Handy reißt mich aus meinen Gedanken. Ich greife in meine Gesäßtasche, schaue auf das Display und „Tina ruft an“ springt mir entgegen.

Oh mein Gott, was soll ich ihr bloß sagen? Ich drücke auf „annehmen.“

„Hey Lisa, stell dir vor, ich hab den Job in der Cafe del Mar Bar bekommen. Juhu, die wollen mich. Ich bin so aufgeregt und nächste Woche kann ich schon anfangen. Du musst unbedingt demnächst einmal wieder rüber geflogen kommen. In dieser Location laufen Typen rum, du glaubst es nicht. Einer schöner als der andere. Lisa? Bist du noch dran?“

 

„Tina“, ich stocke … „Es ist etwas Schreckliches passiert, setz dich bitte in den nächsten Flieger und komm nach Hause.“

„Wie, warum, was ist los? Ist was mit Mama oder Papa?“

„Sie hatten einen Unfall.“

„Oh nein. Lisa, bitte sag, dass es nicht schlimm ist.“

„Doch, es tut mir so leid“. Wieder laufen mir die Tränen herunter.

„Tina, sie sind beide tot.“

Es ist still in der Leitung, doch dann höre ich ein hysterisches Schreien und ich möchte meine Schwester nur in den Arm nehmen und festhalten.

***

Um 22.15 Uhr landet die Maschine aus Palma de Mallorca. Mit einer übergroßen dunkel getönten Sonnenbrille und einer tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe, kommt Tina mit gesenkten Kopf in die Empfangshalle vom Hamburger Flughafen. Wir nehmen uns wortlos in den Arm und halten uns fest, wie zwei Ertrinkende. Sie hat nur ihren Rucksack dabei und an den Händen haltend laufen wir zum Parkhaus. Die Fahrt zu meiner Wohnung kommt mir endlos lang vor, denn es fällt mir schwer, mich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.

Zuhause angekommen manövriere ich Tina auf mein Sofa. Ich zünde die Kerzen an, öffne eine Flasche Weißwein, fülle zwei Kristallgläser und eng an sie gekuschelt, setze ich mich zu ihr. Wir wissen beide, dass wir jetzt nur noch uns haben und fühlen uns einsam und leer.

Tina ist fortwährend nur am Weinen und ich, die große Schwester tröste sie, denn sie ist mit ihren einundzwanzig Jahren noch wie ein Kind. Ich fühle mich so viel erwachsener, vielleicht, weil ich immer die Vernünftigere war.

Tina kommt ganz nach unserer Mutter. Unbeschwert, fröhlich, nichts auf dieser Welt hat ihr jemals Sorgen bereitet. Sie hat in den letzten Jahren in den Tag hineingelebt, nie eine Verantwortung übernommen und wenn ich sie jetzt so in meinen Armen halte, weiß ich, um wie viel schwerer für sie der Verlust unserer Eltern ist. Tina, der kleine Sonnenschein in unserer Familie. Sie hat uns mit ihrem überschwänglichen Temperament immer wieder angesteckt.

Ich komme ganz nach meinem Vater. Mich entdeckt man erst auf den zweiten Blick. Ich mag es nicht, im Mittelpunkt zu stehen, ich höre lieber zu, als dass ich rede. Reden tue ich in meinen Büchern, so viel, dass ich es im Leben gern ruhiger habe. Auch die wassergrünen Augen habe ich von Papa geerbt, die meist melancholisch wirken, weil ich oft in meinen Träumen bin. Ich glaube immer noch daran, dass eines Tages der Prinz an meine Tür klopft und mich auf seinem hohen Ross entführt. Ich sehe mein langes, blondes, leicht gewelltes Haar, wie der Wind es zerzaust und schlinge meine Arme um meinen Retter. Meinen Retter, der mich zum Lachen bringt, der meine Leidenschaft entfacht, die tief in mir eingeschlossen ist und nur darauf wartet, zu explodieren. Die Beschreibung der Gefühle passt zu mir, nur das schöne Haar nicht. Ich habe einen frech, geschnittenen Bubikopf, weil mein blondes Haar zu dünn ist, um es schulterlang zu tragen. Ich bin auch nicht der Kleidchen-Typ, meist sieht man mich in Jeans und einem weiten Herrenhemd.

Meine Schwester, sie hat die langen blonden Haare von Mama geerbt und auch die himmelblauen Augen. Wenn sie lacht, zeichnen sich links und rechts an ihren Mundwinkeln kleine Grübchen ab. Manchmal denke ich, wie gern würde ich nur einen Tag in ihre Rolle schlüpfen und nur einmal ein paar unbeschwerte Stunden erleben.

„Lisa?“

Tina holt mich aus meinen tiefen Gedanken zurück.

„Lisa, du kannst mich jetzt nicht alleine lassen. Du musst mit mir nach Mallorca kommen. Wir haben doch das Sommerhaus und es ist doch egal, von wo du deine Romane schreibst. Bitte, ich hab doch jetzt nur noch dich.“

Wieder fängt sie leise an zu weinen und noch fester schließe ich sie in meine Arme. Ich drücke meine Lippen auf ihr Haar und ich rieche das Meer. Ich denke über ihre Worte nach.

Es sind noch keine drei Monate vergangen, da hatte ich mich von Kai getrennt. Sechs Jahre habe ich auf seine Worte gewartet: „Ja, Lisa, jetzt bin ich bereit, eine Familie mit dir zu gründen.“ Kai war schon einmal verheiratet und aus dieser Ehe stammen seine beiden Söhne. Jedes zweite Wochenende haben wir mit den Jungs etwas unternommen und immer stärker hegte ich den Wunsch, auch ein eigenes Kind in meinen Armen zu halten.

Alle paar Monate habe ich das Thema angeschnitten, doch stets sagte er, „gib mir noch etwas Zeit“. Sechs Jahre habe ich ihm die Zeit gegeben und als ich erneut die Frage stellte, sagte er: „Entschuldigung Lisa, ich habe schon zwei Kinder und damit mein Soll erfüllt.“ Dieser Satz hat mir den Boden unter den Füssen weggerissen. Ich habe geweint, ihn angefleht und angeschrien, doch er blieb konsequent. Eine Woche später hat er sich sterilisieren lassen und damit ging unsere Beziehung zu Ende. Ich habe ihn gebeten, aus unserer gemeinsamen Wohnung auszuziehen und wortlos ist er gegangen.

Ich schließe meine Augen, hole einmal tief Luft und sage, „Tina, lass mich alles regeln und wenn das hier vorbei ist, dann komme ich.“

Wie ein kleines Kind setzt sie sich auf meinen Schoss, umschlingt mit ihren Armen meinen Hals, drückt mir einen Kuss auf meine Lippen und sagt, „danke, danke, dass du mich jetzt nicht im Stich lässt.“

***

Vier Monate später

In wenigen Minuten erreichen wir den Airport Palma de Mallorca. Bitte bringen sie ihre Rückenlehne in eine senkrechte Position und schnallen sie sich an.

Tina steht in der Ankunftshalle, nur mit einem Spaghettiträger T-Shirt, Shorts und Flipflops bekleidet. Auf dem Kopf trägt sie einen Sombrero und ihre Haut leuchtet goldig, von der Sonne gebräunt.

Nachdem ich die Beerdigung in die Wege geleitet hatte, suchte ich nach einem geeigneten Ehepaar, die das Haus meiner Eltern mit all den Möbeln mieten. Alle privaten Gegenstände habe ich im Keller verstaut und nach drei Wochen, als ich das Testament gelesen hatte, unterzeichneten wir den Vertrag.

Ich habe das Haus am Stadtrand von Hamburg und das Sommerhaus auf Mallorca geerbt und Tina hat lebenslanges Wohnrecht erhalten. Meine Eltern haben sich sicher etwas dabei gedacht, es mir zu überschreiben, die bodenständigere Tochter, die nichts verkaufen wird, um ein Luxusleben zu führen. Tina hat das Sparbuch bekommen, zweihunderttausend Euro. Ich kann nur hoffen, dass sie es nicht zu schnell unter die Leute bringt, denn mit Geld konnte meine kleine Schwester noch nie umgehen.

In meinem kleinen Appartement, da wohnt jetzt mein schwuler Freund Sebastian. Ihn habe ich damals durch Lukas kennengelernt. Ich glaube, sie pflegten einmal eine kurze Affäre, doch darüber wurde nie gesprochen. Sebastian hatte sich gerade von seinem Lebenspartner getrennt und mit Kusshand hat er die Wohnungsschlüssel in Empfang genommen.

Als wir aus dem Flughafengebäude herauskommen, trifft mich der Schlag. Ich bekomme kaum Luft, so eine heiße Brise weht mir entgegen. Das ist Mallorca im Hochsommer, wo man sich eigentlich nur am Strand aufhalten sollte. Mit schnellen Schritten laufen wir in das gegenüberliegende Parkhaus und ich spüre die Schweißtropfen auf meiner Nase und Stirn und wie sie mir am Rücken herunterlaufen.

Tina fährt einen Mini Cabrio und schnell fädelt sie sich in den Verkehr ein. Der Fahrtwind tut mir gut und langsam trocknet meine Haut. Eine dreiviertel Stunde und dann sind wir in Costa de los Pinos, in unserem Sommerhaus. Es liegt direkt am Strand, an der Ostküste. Das Grundstück ist mit Pinien bewachsen und an der Umzäunung sind Oleanderbüsche gepflanzt, die jetzt wundervoll blühen werden. Ich lächele vor mich hin, denn es tut gut, fort aus Hamburg zu sein. Die Ereignisse hinter sich zu lassen und zur Ruhe zu kommen.

Als das Auto in der schmalen Auffahrt vor dem Haus zum Stehen kommt, atme ich das erste Mal tief ein. Meeresluft steigt mir in die Nase und ich will nur meine Klamotten abstreifen und an den Strand laufen. In das Wasser eintauchen, alles abschütteln, den tiefen Schmerz, der noch in meiner Brust sitzt. Hier werde ich meinen Eltern auch nah sein, denn so viele Stunden haben wir in unserem Sommerhaus gemeinsam verlebt. Doch es fühlt sich anders an. Nicht schmerzhaft, denn die Urlaube, in dieser Idylle, sind immer mit einer Leichtigkeit verbunden gewesen.

„Tina, wo sind die Badetücher? Sie lagen immer hier in diesem Schrank.“

„Oh, die sind in der schmutzigen Wäsche. Hab total vergessen, die Waschmaschine anzustellen.“

„Wie, alle Frotteetücher? Das kann doch nicht angehen. Hast du hier eine Fußballmannschaft beherbergt?“

„Nee, aber vorgestern Abend habe ich alle meine Kollegen nach Feierabend auf einen Drink eingeladen und es hat sich so ergeben, dass wir noch im Meer gebadet haben. Lisa, das müssen wir unbedingt zusammen einmal machen. Wenn der Mond so hell leuchtet, es ist ein unbeschreibliches Erlebnis. In der Nacht ist die Luft kälter als das Meerwasser, man mag gar nicht wieder rausgehen.“

Das ist meine Schwester Tina, wie kann man ihr nur böse sein?

„Na komm, dann lass uns jetzt gemeinsam die Waschmaschine anschmeißen und dann gehen wir schwimmen.“

Später stehe ich in der Küche, will mir ein Wasser aus dem Kühlschrank holen und eine gähnende Leere springt mir entgegen. Nur eine Tomate, ein Stück verschimmelter Käse und eine angebrochene Dose Cola lachen mich an. Das kann doch wohl nicht wahr sein?

„Tina, von was ernährst du dich eigentlich? Hier ist ja nichts Essbares, geschweige denn ein gekühltes Wasser.“

„Lisa, ich bekomme jeden Abend in der Bar mein Essen und um die Mittagszeit verdrücke ich irgendwo am Strand ein Sandwich, das reicht mir.“

„Wann beginnt deine Schicht?“

„Um 19.00 Uhr.“

„Gut, dann verbleiben uns noch fast zwei Stunden. Wir fahren jetzt in den Supermarkt und kaufen ein.“

Ich schlüpfe in ein leichtes Strandkleid und zwanzig Minuten später stehen wir im Mercadona. Man sollte nie hungrig einkaufen gehen, das hat meine Mutter mir immer wieder gepredigt. Unser Einkaufswagen füllt sich in rasender Geschwindigkeit und ich denke an den lauschigen Abend, an dem ich es mir alleine auf der Terrasse gemütlich machen werde.

Als wir alles im Kühlschrank verstaut hatten, bekommt Tina große Kulleraugen.

„So voll war der noch nie.“

Um 18.45 Uhr drückt mir Tina einen flüchtigen Kuss auf die Wange und mit einem verschmitzten Lächeln sagt sie, „Tschüss, große Schwester, bin spät dran, du weißt ja wo der Kühlschrank steht.“ Und schon ist sie aus der Tür.

Wie ruhig es auf einmal ist, wenn der Wirbelwind den Raum verlässt. Ich liebe dieses Haus, es ist mit seinen vier Zimmern nicht zu groß und doch hat man Platz, sich aus dem Weg zu gehen. Ich schätze es, dass alles ebenerdig ist, die großen Fenster in den Zimmern, die so viel Licht durchlassen. Ich öffne die sechs Meter lange verglaste Schiebetür, trete auf die Terrasse und frage mich. „Na Lisa, wollen wir heute leckere Scampi essen? Dazu selbstgemachte Aioli, einen Salat und einen eiskühlten Wein dazu trinken?“ Mein Magen gibt knurrend die Antwort.

Ich schalte die HiFi-Anlage an und augenblicklich flüstert mir Julio Iglesias seine Liebesschüre ins Ohr. Ich drehe den Ton etwas lauter und habe das Gefühl, gleich kommt meine Mutter aus dem Bad. Ich lächele, denn es ist ihre Musik, die sie immer mit Mallorca verbunden hat.

Mir geht alles schnell von der Hand und nachdem ich den Tisch liebevoll für eine Person eingedeckt habe, setze ich mich in einen Liegestuhl, nippe von dem köstlichen Wein und wünsche mir einen harmonischen Abend.

Später, als es dunkel ist, erzählen mir die Grillen ihre lebendigen Geschichten. Ich mag diese Geräusche, sie beruhigen mich. Mein Blick fällt auf die Fackeln, die danach rufen angezündet zu werden. Ich bin überrascht, dass sie mit Petroleum gefüllt sind. Auf etwas achtet Tina wohl doch?! Jetzt ist es vollkommen. Ich strecke meine Arme aus, schiele auf die leere Flasche Wein und sage mir, heute darf es noch ein Absacker sein. Ein Gläschen Amaretto auf Eis, dass wird mich bettschwer machen.

Gerade will ich in das Haus gehen, da höre ich von nebenan Geräusche. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass die Nachbarn auch da sind. Es stand kein Auto vor der Tür und die Läden war verschlossen.

 

Ich schleiche mich an einen Oleanderbusch und spähe durch die Zweige. Da steht ein Mann auf der Terrasse, groß wie ein Hüne, breite Schultern, doch als meine Augen tiefer wandern, schaue ich auf seinen nackten Hintern. Am Strand trägt er jedenfalls eine Badehose, denn der Po ist schneeweiß. Bestimmt kommt er gerade aus der Dusche, denn kleine Tropfen laufen über seinen Rücken. Der Kopf ist geneigt und an seiner Armbewegung vermute ich, dass er gerade eine sms schreibt. Was mache ich eigentlich hier? Bin ich eine Voyeurin? Habe ich noch nie einen nackten Mann gesehen? Es liegt ein bisschen zurück, als ich mich von Kai getrennt habe, doch diese Erinnerungen möchte ich jetzt nicht abspulen.

Es ist die Stimmung, das mediterrane Klima und die Wirkung vom Wein. Alles zusammen lösen gerade erotische Gedanken in mir aus.

Ich habe diesen Mann zuvor noch nie gesehen, das Haus gehört einem älteren Ehepaar. Ist es vielleicht der Sohn?

Ich habe keine Lust mehr auf den Amaretto, räume nur schnell den Tisch ab, lösche die Fackeln, schließe leise die Schiebetür und möchte nur noch in mein Bett. Ich lege mich nackt unter das kühle Satintuch und mit einem wundervollen Gefühl schlafe ich ein.

***

Es ist noch früh am Morgen, als ich erwache. Es gibt nichts Schöneres, als in das Meer einzutauchen, wenn noch alles schläft. Ich tapse ins Bad und putze meine Zähne. Gerade spüle ich meinen Mund unter dem fließenden Wasser, da öffnet sich die Tür. Natürlich habe ich Tina erwartet, schaue nur kurz zur Seite und blicke auf einen steifen Penis, der senkrecht in die Höhe schießt.

„Oh, Entschuldigung, du musst die Schwester von Tina sein. Ich muss mal ganz dringend.“

Wortlos lasse ich meine Zahnbürste im Waschbecken fallen, versuche ungeschickt das Bad zu verlassen und stürme in mein Zimmer. Tina hat mir nichts davon erzählt, dass sie einen Freund hat. Sie hätte mich ruhig vorwarnen können.

Schnell schlüpfe ich in meinen Badeanzug und beeile mich, durch die Terrassentür das Haus zu verlassen. Nochmals möchte ich diesen Mann nicht entblößt sehen. Womöglich drängt er mir noch ein Gespräch auf.

Zwei Stunden später komme ich zurück und Tina steht an der Kaffeemaschine.

„Guten Morgen.“

„Oh, guten Morgen Lisa, warst du schwimmen? Ralf hat mir erzählt, dass ihr euch schon kennengelernt habt.“

„Na ja, kenngelernt ist wohl etwas übertrieben. Wo ist er denn, liegt er noch im Bett?“

„Nee, der musste weg, seinem Vater bei einer Sache irgendwie helfen.“

„Ach so, na gut. Ist es dein neuer Freund? Du hast mir von ihm noch nie erzählt.“

„Wo denkst du hin, wir gehen nur ab und an mal zusammen in die Kiste.“

„Wie, ab und an mal?“

„Ach Lisa komm, so prüde bist du doch nicht. Wir haben beide gestern nur etwas Spaß haben wollen.“

„Spaß! So sieht also bei dir Spaß aus. Nimmst irgendeinen Typen mit nach Hause, vögelst mit ihm und danach geht`s zur Tagesordnung über?“

„Lisa, nun mach mal einen Punkt. Ich bin noch jung, habe nicht vor, mich in der nahen Zukunft zu binden und ja, darunter verstehe ich Spaß!“

Ich denke darüber nach, ob ich früher auch so war. Nein, definitiv nicht. Bei mir muss immer die Liebe im Spiel sein. Meine Schwester ist so anders wie ich und sie versteht es gerade, dass ich mich wie eine alte Jungfer fühle. Nur weil ich nicht mit dem erstbesten Mann ins Bett gehe, bin ich noch lange nicht prüde.

„Tina, so läuft das nicht. Ich habe keine Lust, jeden Morgen damit zu rechnen, dass mich ein wassersteifer Schwanz überrascht. Wenn du einen Freund hast, das ist okay, wenn du ihn bei uns übernachten lässt, doch keine One-Night-Stands hier unter diesem Dach. Hast du mich verstanden?“

„Mein Gott, bist du spießig. Es wird Zeit, dass du mal wieder einen Mann im Bett hast.“

„Tina, für mich ist das Thema beendet, halte dich bitte daran.“

„Aber...“, „Nichts aber!“ Ich drehe mich um und verlasse die Küche. In meinem Zimmer schmeiße ich mich auf mein Bett und bereue es schon, so streng mit Tina gesprochen zu haben. Bin ich vielleicht eifersüchtig, weil ich nicht so unbeschwert leben kann? Unsinn, das möchte ich nicht und trotzdem hat Tina recht, es ist schon zu lange her, dass ich leidenschaftlichen Sex hatte. Leidenschaft, eigentlich ist das nur ein Wort in meiner Phantasie, gefühlt habe ich sie noch nie.

Später erwische ich meine Schwester gerade noch am Auto und nehme sie einfach in den Arm.

„Entschuldige, ich wollte mich nicht wie eine Gouvernante aufführen, doch bitte verstehe mich nur ein bisschen. Ich wünsche mir in unserem Haus einfach nur eine Privatsphäre. Ich möchte nicht permanent auf der Lauer liegen, wer morgen oder übermorgen aus deinem Schlafzimmer schlüpft. Ich …“

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