Ein Laib Brot, ein Krug Milch

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Der Heilige Abend

Der Bauer Cüraß lag gelähmt im hochgetürmten Bette; der bunte Kattun blähte sich über seinem ohnmächtigen Leibe. Die Krankheit hatte vor fünf Jahren begonnen, als er in einem Frühherbst, getrieben von der Sorge des Bauers, der viel Vieh besitzt, auch das sauere Gras mähte und dabei nach einem Regen, der durch fünf Tage die Gewässer auskühlte und im Gebirge schon zu Schnee wurde, einige Stunden lang bis hoch über die Knöchel im kalten Wiesensumpf stand. Zuerst rieselte es ameisenhaft in den Zehen, dann entschwand ihnen das Gefühl, später stieg die Lähmung in den Beinen immer höher und höher; der Gang wurde unsicher und tölpisch, und eines Tages konnte der Bauer Cüraß überhaupt nicht mehr gehen.

Er wollte es zunächst, auf den Tod erschreckt, selbst nicht glauben, aber jeder Versuch, der sich gegen die furchtbare Erkenntnis aufbäumte, endete damit, daß der unbeholfene Leib hinfiel wie ein Stück lebloses Holz. Als es dann so weit war, daß der Cüraß sein grausames Unglück vor sich selber nicht mehr verleugnen konnte, weigerte er sich, das Bett zu verlassen. Bei dem regungslosen Liegen oder Hocken blieb ihm stets noch die Hoffnung, er sei in den vielen Wochen, die er so verbrachte, allmählich gesünder geworden, ihm selber unbewußt, und er könne nun gehen, wenn er nur wieder wolle.

Der einzige Sohn war an der Auszehrung* gestorben; wenn die Kuckucke schreien und der Jauk** aus dem Süden daherweht, endet oft diese Krankheit der dumpfen Stuben und der müden Geschlechter. Die einzige Magd wanderte zu Michaeli fort, sie wollte nicht bei einer unheimlichen Bäuerin bleiben, die irr sprach und irr tat.

Die Nachbarn, denen die eigenen Sorgen genug Mühe machten, merkten zwar nichts von der hintersinnigen Art der Frau, doch die Magd hatte oft beteuert, die Bäuerin rede manchmal zu sich selber, gehe wie verloren herum und habe ihr einmal unter greulichem Lachen befohlen, die Hacke in den Holzblock zu schlagen und den Stiel zu melken.

Das Korn war schon überreif und halb ausgefallen, als es spät von der Magd mühsam mit der Sichel geschnitten wurde; der Buchweizen wurde auf dem Acker des Cüraß in diesem Jahr nicht gesät, die Kürbisse faulten draußen im Türkenstroh*, soweit man sie nicht gestohlen hatte, die Rüben holte überhaupt niemand, sie froren unter dem Schnee ein.

Beinahe an jedem Abend schrie der Bauer im Bett mit heiserem Zorn nach der Bäuerin, wenn das hungrige Vieh plärrte, dem sie wieder das Futter zu geben vergessen hatte. Denn mit der Dämmerung bekam etwas Seltsames Gewalt über sie; am Morgen und zu Mittag erhielten die Tiere, was ihnen gebührte, da blieben sie auch ruhig.

Mit den beiden Leuten sollte die Sippe der Cüraß aussterben. Er lag mit seinen wenigen Verwandten in trotzigem Zerwürfnis; über der Familie des Weibes aber hing unseliges Geschick. An Menschen verkam alles auf unnatürliche Weise: ein Bruder war bei einer grausigen Wirtshausrauferei, von der noch jahrelang später die weite Gegend redete, erstochen worden; der zweite ertrank im Rausch in einem ganz seichten Bache; die Schwester geriet in der Stadt auf Abwege, begann als Dienstmädchen, wurde verdorben und verscholl; ein verarmter Onkel wanderte aus, Sturm spülte ihn ins Meer, noch ehe er das Land seiner Hoffnung erreicht hatte; ein anderer, der Mesner und Organist war, ritzte sich, als er die Orgelpfeifen putzte, an einem Finger und starb qualvoll an der winzigen Wunde.

Der Cüraß sah sich zuletzt rundum mit der Bäuerin allein. An einem trüben Oktobernachmittag, als der griesgrämige Wind den gelben Nußbaum vor dem Fenster zauste, schrieb der hergebetene Lehrer für ihn das Testament; zwei Nachbarn kamen als Zeugen, aber erst, als dem Bettlägerigen halb und halb einleuchtete, daß die Schrift ohne derartige Zeugenschaft ungültig sei.

Wenn der Name Cüraß schließlich mit Mann und Weib ausgelöscht sein würde, sollte der Hof der Gemeinde gehören, Äcker, Wiesen und Wald sollten zur Nutznießung aufgeteilt werden.

Seitdem die Nachbarn solchen Zuwachs erwarten durften, schlich manchmal am Abend ein scheuer Schatten am Fenster vorüber. Die Bauern erkundeten heimlich, wie ihre Aussichten standen, das reife Holz gedachte der eine bald zu schlagen, das Kleefeld paßte dem anderen, und ein dritter brauchte gerade noch eine Wiese; der Cüraß hatte einen gut gedüngten Boden, und in seinem Stall war noch nie die Klauenseuche gewesen.

Aber die scheltende und rufende Stimme war an jedem Abend gleich stark. Die Lungensucht, die das Leben ausbläst, wie der Wind das Licht, nagte nicht an ihr. Und sonst? Das Bett zehrte und zehrte auch nicht. Den Kranewetter hatte mit sechzig Jahren der Schlag hingeworfen, er lag bis an die neunzig Jahre. Der Cüraß konnte vielleicht auch von solcher zähen Zucht sein. Und die lauernden Bauern gingen mürrisch vom Fenster oder vom Stall, in dem sie die Bäuerin laut zu den Tieren reden hörten.

Nicht so aber gingen die Vagabunden vom Hofe, die Zigeuner, die Fechtbrüder, die Wandermusikanten; sie molken die Kühe, nahmen ein Huhn mit oder stahlen Honig; die verwegensten von ihnen brachen wohl auch in das hilflose Haus ein.

Nicht so mied auch das Bauernunglück den Hof: Schweine gingen am Rotlauf ein; eine geblähte Kuh, die sich an Rüben überfressen hatte, mußte gestochen werden, die Wunde verschmutzte, und das Rind kam um; das Pferd verhungerte elend an der Maulsperre.

Der geschlagene Bauer jammerte und fluchte auf seinen Zustand, auf die Nachbarn, die ihm nicht halfen, und auf Gott, der ihm alles geschickt hatte. Das Weib hörte kaum auf ihn, es grübelte nur stumpfsinnig in sich hinein.

In der Dämmerung des Heiligen Abends schob die Bäuerin Glut aus dem Kachelofen auf eine alte blecherne Kehrichtschaufel und legte Weihrauch, Speik und ein Föhrenzweiglein dazu. Dicker grauer Rauch stieg auf und umqualmte ihren Kopf. In dem Flur mengte sich der wohlduftende Rauch mit der kalten Luft, in der auch der Hauch des Atems sichtbar wurde. Das wachsende Eis des Teiches tönte dumpf und melancholisch in das Haus herein.

Die Bäuerin schritt langsam; von ihren Lippen tröpfelten die Gebete. Es fröstelte sie, als sie, das Gesicht rot von dem Widerschein der Holzglut, aus dem Stalle zurück zum Hause ging. Den Türriegel schob sie vor und stieg die Treppe hinauf. Oben in den kalten Stuben, wo es nach Äpfeln und gewaschener Leinwand roch und wo in dem steinalten Gebälk vornehmlich der Holzwurm bohrte, schlug der räuchernden Frau die Schwermut unbewohnter Zimmer entgegen.

Der Mann, der unten im Dunkel lag, hörte die Frau mit vorsichtigen Schritten droben über den schadhaften Fußboden gehen, und er wußte wohl zu deuten, warum sie so achtsam ging; kein Bröcklein Glut durfte ihr entfallen, denn sonst kam Hungersnot ins Haus; fiel die Glut im Stalle auf den Boden, kam die Viehseuche, auf dem Dachboden bedeutete es Feuer, in der Stube gar den Tod.

Und der Cüraß wünschte inbrünstig, daß die Bäuerin jetzt auf dem Räuchergang klaren Kopfes bleiben möge.

Die kleinen Fenster in den dicken Mauern waren graue viereckige Augen, die den liegenden Mann anstarrten. Bald hörte er das Geräusch der Tritte über sich nicht mehr; das Weib war wohl auf den Dachboden gestiegen. Die hölzerne Decke krachte einige Male, die Luft war heiß wie in einer Backstube, wahrscheinlich hatte die Bäuerin wieder zuviel Holz in den Kachelofen gelegt. Der Cüraß zerrte die Tuchent mühsam von seinem Leibe fort, die Füße lagen wie zwei Bleiklumpen weitab von ihm, der Hals war ihm auf einmal ganz dünn geworden, er bekam zu wenig Luft.

Der feierliche Rauch, der aus dem Flure durch die Türritzen drang, brachte einen lauen, süßlichen Duft bis zum Bett. Es war dem Bauer plötzlich unheimlich zumut, er wollte nach der Bäuerin rufen, unterließ es aber doch, denn er besann sich, daß sie auf ihrem Gange betete und er sie nicht mit seiner Stimme erschrecken dürfe. Da zog er die schwere Tuchent wieder an sich.

Die Frau vertrat sich an den schadhaften Stufen, sie taumelte ein paar Augenblicke lang, und dabei fiel Glut über die Stiege in den Flur hinab. Die Bäuerin zuckte zusammen; wie betäubt von dem dicken Rauche war sie gegangen, nun, da sie unachtsam gewesen war, wachte sie erschreckt auf. Schmerzhaft wurde es ihr plötzlich bewußt: die verstreute Glut in dem Flur bedeutete Wandern.

Mit den bloßen Fingern, so leise, daß es der Cüraß nicht hören konnte, hob die Bäuerin die glimmenden Stückchen wieder auf die Schaufel. Von dem großen Tische in der Vorhausecke, wo in der warmen Zeit der früheren glücklichen Jahre Bauer, Bäuerin, Sohn und Magd um die Schüssel gesessen waren, vor jedem Mahle Gott anmurmelnd, nahm sie aus einem zusammengedrehten Papier einige Körner Weihrauch; mit leisem Knistern antwortete die beschenkte Glut, dichter wurde der aufwallende Rauch.

Das Weib drückte mit dem einen Ellenbogen die Klinke nieder und stieß mit dem Fuß die Türe der Stube auf, wo der Mann sein qualvolles Lager hatte, wo sie in den wenigen Viertelstunden, die wie schmale Späne von den vielen Stunden der Arbeit fielen, gewohnt hatten, als ihrer noch mehr beim Hause gewesen waren.

Mit dem Rauche war Weihnachten in der Stube.

Der Bauer bekreuzte sich und begann ein dumpfes Vaterunser zu beten. Aber bevor er noch um das tägliche Brot bat, stockte er; Zorn würgte ihn, denn die Bäuerin war in der Türe stehengeblieben und blickte starren Auges zum Tische hin. Wie sehr der Mann auch schrie, kein Laut schien ihr Ohr zu erreichen. Denn durch den weißen Rauch, der von ihrem Gesichte aufstieg, sah sie die vier unvermuteten Gäste um den Tisch sitzen. Sie bewegten sich nicht und schauten ihr stumm entgegen.

 

„Von wo kommt das Gesindel am Heiligen Abend?“ verwunderte sie sich laut und rührte mit einem dünnen Ast in der Glut auf der Schaufel, daß der Qualm wieder hochdampfte.

„Wer?“ fragte der Bauer.

„Die beim Tisch sitzen“, erwiderte sie und reckte die Schaufel wie zur Abwehr tiefer in die Stube.

„Rauch in die Winkel, Rauch übers Bett!“ forderte er.

Das Weib aber ging hinaus und prüfte neugierig den Riegel am Haustor; er war noch immer vorgeschoben, wie sie ihn gelassen hatte.

„Durch die Haustür sind sie nicht gekommen“, sagte die Bäuerin.

„Wer?“

„Die beim Tisch sitzen“, wiederholte sie.

„Beim Tisch sitzt niemand“, zürnte er.

Ein lautloses Lachen verzog ihr Gesicht, das der weiße Dampf gespenstisch beschien. Sie hörte nicht auf den Mann, sie sah nicht zu dem Bette hin. Mit langsamen Schritten, die Kehrichtschaufel, die jetzt eine Räucherpfanne war, wie zum Schutze vor sich hinhaltend, ging sie auf den Tisch zu und fragte die stummen Vier:

„Hat euch der Bauer aufgemacht?“

Keine von den Gestalten, die das Weib durch die Dämmerung des Rauches nicht erkannte, gab eine Antwort.

Der Bauer schalt und drohte, doch seine laute Stimme verrieselte allmählich in ein Gemurmel. Er saß aufrecht und zog die Tuchent fröstelnd bis an den Hals. Wie war es auf einmal in der heißen Stube kalt geworden; von dem Tisch ging ein Wehen aus wie von Eis. Hatte nicht die Bäuerin den Frost in den Kleidern vom Dachboden und aus dem Freien mitgebracht? Angst schüttelte ihn, denn das Weib redete mit jemandem, und es war außer ihnen doch niemand im Hause.

Wieder wurde ihm der Hals eng, und die trockene Zunge schwoll im Munde an.

Die Glut zerfiel, und die Gestalten wurden Schatten. Da holte die Frau den gerippten Wachsstock, der auf einem Brett vor der Türe stand, gerade über dem B des Dreikönigszeichens C + M + B, zündete ihn an, hielt die hohle Hand um die Flamme, daß sie nicht verlöschte, stellte das Licht mitten auf den Tisch und schaute nun die Besucher an. Da merkte sie, daß es gar keine Menschen waren, die rund um das zitternde Licht des Wachs-stockes saßen und auf ihre Anrede warteten.

„Wer bist denn du?“ fragte die Bäuerin das Wesen zu ihrer rechten Hand, das schön und freundlich aussah.

„Ich bin das Salkweib und wohne in eurem Wald. Heuer lagen viele Ähren auf eurem Feld, ich werde nicht hungern.“

„Und wer bist dann du?“ fragte die Bäuerin das ungefüge Weib in zerrissenen Kleidern mit zerzaustem Haar.

„Kennst du die Pechtra nicht?“ grollte es.

Jetzt hörte die Cüraßin die Kuhglocke auf dem Rücken des Weibes und sah die Ofengabel an der Wand lehnen.

„Ich fürchte mich nicht vor dem Herrgottswinkel“, kicherte unter dem Kruzifix ein dicker pustender Mann mit nassen Haaren, „Christus ist über das Meer gegangen, und Petrus hat darin gefischt.“

Da wußte die Bäuerin, daß es der Wassermann war.

„Bist du aus dem Teich gekommen?“ fragte sie ihn.

Da er nickte, staunte sie, denn der Teich war ganz zugefroren. Sie nahm sich vor, am frühesten Morgen, wenn noch niemand sie überraschen konnte, nachzusehen, wo sich der Wassermann das Loch im Eise aufgebrochen hatte.

„Ich bin die Trud“, sagte zur linken Hand die Frau mit den grauenhaft langen Fingern; ihre tiefe Stimme war ernst wie die Nacht. Die Cüraßin drehte sich erschreckt zu ihr hin. Zwei große, dunkle Augen brannten ihr aus einem gelben, faltigen Gesicht entgegen.

„Warum räucherst du im Haus?“ fragte traurig das Salkweib.

Schon wollte die Bäuerin antworten: „Damit die bösen Geister draußen bleiben“, aber sie besann sich, daß sie ja trotzdem eben solchen Besuch empfangen hatte. So half also der Rauch nicht gegen die Geister, und auch nicht das uralte Zeichen von Kaspar, Melchior, Balthasar an der Türe. Und sie lachte darüber vor sich hin.

„Wir sind müde“, sagte die Pechtra.

„Die Menschen hetzen uns“, klagte leise das Salkweib.

„Ich bin noch immer stärker als sie“, höhnte die Trud.

„Du drückst sie im Schlaf“, spottete der Wassermann; die Trud sah ihn böse an, aber die Cüraßin mahnte:

„Streitet nicht, es ist Heiliger Abend.“

Da lachten alle vier durcheinander, weil die Bäuerin nicht bedachte, daß sie ja Geister waren, schon tausende Jahre vor dem auf der Welt, der sie verbannt hatte. Und der Heilige Abend war für sie ein Abend wie jeder andere.

„Lachet nicht“, sagte die Bäuerin mild, wie man Verirrte bekehrt, „in dieser Nacht leuchtete der Stern den Hirten und den Königen, und sie beteten ein Kind an.“

Da schwiegen die vier fremden Gäste und wurden sehr traurig.

Aber auf einmal kicherte der Wassermann wieder. Er zeigte drohend zu dem Gelähmten hin, der mit weit aufgerissenen Augen die Bäuerin anstarrte.

„Das ist dein Mann“, sagte der mit den nassen Haaren.

„Das ist mein Mann“, wiederholte die Bäuerin und nickte.

Der Wassermann bekam plötzlich böse Augen; er erhob sich hinter dem Tische und schimpfte:

„Er hat einen toten, stinkenden Hund in meinen Teich geworfen.“

Die Trud reckte sich und sagte:

„Er hat jedes Jahr das Trudenkreuz auf die Tür gezeichnet.“

Die Pechtra erinnerte sich:

„Er war geizig und hat mir in meiner Nacht auf Dreikönig nie eine Milch hingestellt.“

Die Kuhglocke auf ihrem Rücken läutete leise.

Das Salkweib aber sagte vor sich hin:

„Er hat mir auf seinen Feldern immer Korn zurückgelassen.“

„Weil er keine Leute zum Ährenklauben hatte“, mißgönnte ihr der Wassermann die Güte.

Die Cüraßin aber ging eilig zum Bette hin, drehte dem Manne den Rücken zu und breitete ihre Arme aus, als müßte sie es den dreien, die ihn eines Frevels geziehen hatten, verwehren, daß sie näher zum Lager traten.

„Laßt ihn, er ist geschlagen genug, er liegt drei Jahre lahm“, sagte sie mitleidig, fast weinerlich.

Und da der Wassermann wieder boshaft meckerte, schalt ihn die Bäuerin:

„Schäm dich, dein verfluchtes Wasser ist schuld daran.“

„So, ist es schuld?“ freute er sich.

Der Bauer, jetzt knapp hinter dem Weibe, wollte in seinem Entsetzen reden, doch es kam nur ein heiseres Lallen aus seiner engen Kehle; er vermochte auch nicht die Hand zu rühren, um die Frau anzufassen.

Die Cüraßin ging wieder zum Tisch zurück. Die Schaufel, von der immer noch ein dünner Schleier aufstieg, stellte sie auf ein Fensterbrett; auch streifte sie vom Wachsstock eine neue Windung ab, bog sie gerade und richtete sie steil auf.

Dann gedachte sie plötzlich des Gastrechtes und verließ eilig die Stube; hinter ihr blieb das Grauen des Mannes zurück. Sie hörte nicht seine Rufe, die bald ein Winseln wurden und zuletzt erstarben. Sie holte aus der Speisekammer eine Schüssel voll Milch und einen Laib Brot; ihr Fuß stieß im Dunkeln an eine klirrende Mausfalle.

Als aber die Bäuerin Milch und Brot auf den Tisch stellte, sagte die Trud:

„Wir essen nicht.“

Die Pechtra warf einen gierigen Blick auf die Milch, das Salkweib einen traurigen auf das Brot, aber sie standen alle auf; die Pechtra nahm die Ofengabel, ihre Glocke schepperte bei jeder Bewegung. Der Wassermann nickte vertraulich zum Christus am Kreuz hinauf.

Jetzt erst sah die Bäuerin, wie riesig die Pechtra und wie klein die Trud war.

Die Cüraßin nahm von einem Fensterbrett die Laterne, die rostigen Angeln des kleinen Türleins knarrten, der Kerzendocht empfing die Flamme nur widerwillig. Die Cüraßin schob den Riegel am Haustor zurück und leuchtete in die kalte Nacht hinaus, gleich kam der Frost in den Flur herein.

Die vier Schatten sprachen nun nichts mehr, stumm gingen sie an der Bäuerin vorüber, und ihr wurde deshalb das Herz seltsam schwer.

Auf einmal war nur die Nacht und der viereckige Laternenschein vor der Tür; die Kuhglocke klang noch von ferne, und der Teich, auf dem das Eis wuchs, heulte leise.

Das Weib vergaß, die Türe zu schließen.

Am Christmorgen plärrte das Vieh des Cüraß erbärmlich. Die Nachbarn, deren frühwache Ohren es bald vernahmen, gingen verwundert durch die offene Haustür. Sie fanden den Cüraß tot, mit weit aufgerissenen, gebrochenen Augen, aufrecht im Bett sitzend, gegen die Cüraßin gewendet, die am Tische saß, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, als sei sie nur ein wenig eingenickt.

Als ein Nachbar sie durch eine Berührung aufscheuchte, klagte sie:

„Hab ich sie verjagt? Warum haben sie nicht mehr geredet?“

„Wer?“ fragten die Nachbarn, Männer und Weiber, durcheinander.

„Das Salkweib, die Pechtra, der Wassermann, die Trud.“

Diese Antwort vertrieb sie vom Hofe, man brachte sie in ein Irrenhaus. Der Cüraß wurde verscharrt; Haus, Stall, Scheuer, Äcker, Wiesen, Wälder zerfielen an die lauernde Gemeinde.

*Tubertulose

** Föhn

*Mais

Das Liebespaar

Der Wind riß die gelben Nadeln von den Lärchen und trug sie weit hinunter in die Tiefe; er lief wie ein unsichtbares Tier um den einschichtigen Hof auf dem Berge. Da sah der uralte Großvater nach der Sonne und spannte den Ochsen vor den leichten Wagen; es war hohe Zeit, er mußte sich beeilen, der Wind blies den Herbst von den Bergen fort, der erste Schnee hing schon in der Luft.

Drunten im Dorfe wartete der Tischler auf den alten Türkh, er hatte an einem Sonntag im vergangenen Sommer Maß von ihm genommen und nun einen Sommer, einen Herbst lang Zeit gehabt, die Totentruhe für ihn zu tischlern. Es war soweit, daß man sie vorrätig haben mußte, der Tod konnte jeden Tag an die Türe klopfen. Im Frühjahr, Sommer und Herbst, da gelüstete es einen Bauern nicht zu sterben, jetzt aber kam der Winter, seine kurzen Tage waren unendlich lang, da konnte man sich wohl für die große Reise zurechtmachen. Wenn man sich dann eines Tages hinlegte, mußte die Totentruhe im Hause sein.

Der alte Türkh hatte es ohnedies lange anstehen lassen, siebenundachtzig Jahre hatte er alt werden müssen, um sich endlich darauf zu besinnen, daß er ein letztes kleines Haus brauchte und daß die Fichtenbretter dafür beim Tischler schon auf den Hobel warteten.

Der Vater der Türkhbäuerin, der andere Großvater, der auf dem Hofe gelebt hatte, wie war der ängstlich gewesen. Von seinem achtzigsten Jahre an stand die schwarze Truhe mit dem silbernen Kreuz auf dem Dachboden, zehn Jahre lang, bis er sie im letzten Winter endlich gebraucht hatte.

So holte denn der alte Türkh seinen Sarg ab und ging dann neben dem holpernden Wagen her. Die schwarze Truhe war notdürftig mit hellbraunen Kornsäcken bedeckt, aber es waren tiefer im Gebirge keine neugierigen Augen unterwegs.

Ein paar Tage später fiel der erste Schnee, und es schneite schon drei Tage und drei Nächte, als der alte Türkh die geisterhaften Tritte überall im Hause zu hören vermeinte, bald kamen sie aus dem Keller herauf, bald vom Dachboden herunter, aber es knarrte keine Türangel, und es knackte kein Türschloß. Der Mann lag völlig angekleidet in seinen schweren Schuhen auf dem Bett, als sei er für einen Gang in den Schnee hinaus gerüstet; seine Augen blickten unverwandt in das Flockengestöber hinaus.

Es ging mit ihm nun wahrhaftig zu Ende, in der ungewohnten Ruhe waren die Glieder innerhalb weniger Tage müde und steif geworden.

Der Totenwurm bohrte in dem Uhrkasten, das leise Schaben und Klopfen war deutlich zu hören.

Die Schwiegertochter hatte den Wachsstock entzündet und neben den Alten gestellt. Wenn man allein in der Stube verblieb, mußte man für das Sterben gerichtet sein. Seit einer Stunde waren alle Hausleute im Stall: Sohn, Schwiegertochter, Enkel, Enkelin, Knecht und Magd.

Manchmal zitterte das Licht neben ihm; das geschah dann, wenn draußen in dem Flur jemand fest auftrat. Niemand hatte ihm verraten, was geschehen war, vielleicht wollten sie ihn nicht erschrecken. Doch er war lange genug als Bauer auf dieser Hube gesessen und wußte, wie tückisch manchmal ein Unglück in den Stall einbrach. Sie bannten draußen wahrscheinlich ein Unheil, eine Tierkrankheit war gekommen oder war im Anzug.

Er versuchte zu beten, aber seine Gedanken verwirrten sich, er mußte immer an die elende Seuche denken.

 

Es schmerzte ihn, daß er seinen Leuten nicht beistehen durfte; er sah sich als Sterbender ausgeschlossen aus der Familie. Sie konnten freilich nicht bei ihm wachen, während draußen das Vieh verkam, doch er mußte wenigstens wissen, was sich begeben hatte; es litt ihn nicht auf dem Bette. Langsam und ungeheuer mühsam rutschte er herunter, es wurde ihm schwarz vor den Augen. Dann tastete er längs der Mauer dahin bis zur Tür. Als er sie öffnete, stand davor der Enkel, selber schon ein Mann, der die Magd in den Armen hielt. Jedes von ihnen trug in der einen Hand einen Holzeimer, wahrscheinlich waren sie in das Haus gekommen, um heißes Wasser zu holen. Der Großvater sah sie starren Auges an und verstand ihren kurzen Aufenthalt im Flure wohl; es war ihnen, als hätte er genickt. Ehe er aber noch eine Frage tun konnte, fiel er in der Tür um, wie ein Baum des Waldes umsinkt.

Das erschreckte Paar trug ihn auf sein Bett, und dort drückten sie ihm die halboffenen Augen zu. Dann brachte der Sohn den Leuten im Stalle die trübselige Botschaft.

Was der Großvater, der nun tot da drinnen auf der Bahre lag, in den letzten Augenblicken seines Lebens gesehen hatte, war nur ein halbes Geheimnis der beiden Menschen; denn die übrigen ahnten es alle, und jeder zürnte dem Paare auf seine Weise.

Der Vater wollte den Sohn im Frühjahr auf Brautschau schikken, die Mutter war eben die Mutter, noch keine hat sich im letzten heimlichen Herzenswinkel gefreut, wenn ihr der Sohn von einer fremden Frau genommen wurde; der Schwester hatte Bitternis der Untreue das Herz verhärtet, und sie zankte häufig mit der Magd, und der junge Knecht wollte etwas, was nach seiner Meinung ihm gebührte, nicht dem Herrn überlassen. So war das Paar von lauernden Menschen umgeben, und sie mußten sich vor ihnen hüten und ihr Herz verbergen. Sie gingen stumm aneinander vorüber, weil immer wieder ein Auge durch eine Lücke oder ein Fenster nach ihnen spähen konnte; wie die andern hielten sie beim Mahle die Augen in die Schüssel gesenkt, die in der Mitte des Tisches stand. Sie redeten wenig miteinander, aber sie suchten heimlich Gelegenheiten, um einige Augenblicke gemeinsam zu haben.

Wenn sie sich zufällig am Brunnen trafen oder sich auf einem der kurzen Wege begegneten, den alle Hausleute vom Haus zu Stall und Tenne ausgeschaufelt hatten und auch jetzt beinahe stündlich von dem neuen Schnee befreiten, dann verharrten sie keinen Augenblick länger, als es unbedingt notwendig war.

Doch es gab manche Zeiten am Tage, so dachten sie anfangs, da sie an gewissen Orten unbemerkt beisammen sein konnten.

Etwa am frühesten Morgen in der Küche, wenn die Magd das Frühstück kochte; aber da kam bald die Mutter, und der Sohn mußte tun, als habe er eben Holz zum gemauerten Herde gebracht.

Dann beim Melken, aber der Vater ließ sich auch schon im Stall vernehmen, und der Sohn mußte sich in einem dunklen, feuchten Winkel verstecken.

Auf der Tenne hatte er sich einmal in das Heu verkrochen, und ein anderes Mal war er in den hohen Schnee hinabgesprungen; er hatte Stimme und Schritte des Knechtes gehört.


Verschneiter Zaun

(Mein Herz ist im Hochland)


Nicht zu reden von der Schwester, die war die ärgste. Ein Bräutigam hatte sie verlassen, nun neidete sie jedem Weibsbild den Mann.

Und der Schnee hielt sie alle auf dem Hofe gefangen, es gab keinen weiteren Weg, auf dem man sich hätte ein wenig entfernen können, nirgendshin. Immer noch fielen die Flocken, der Himmel war grau, und es regte sich keine Luft.

Der Tote lag drei Tage hindurch aufgebahrt, wie es der Brauch verlangte.

Das Bett war in die Mitte der Stube gerückt und mit Brettern bedeckt worden, daß es eine hohe Liegestatt war. Darauf stand der Sarg, und darin streckte sich der tote Großvater aus, in seinem grauen lodenen Gewande, das er sich vor einem Menschenalter angeschafft hatte. Zwischen die Finger der wächsernen Hände war der Rosenkranz geflochten.

Fremde Leute konnten nicht zu dem Gestorbenen kommen, denn auch die Nachbarn waren eingeschneit. Immer einer der Menschen des Hofes hielt bei dem Toten Wache, aber die anderen feierten deshalb nicht, die Arbeit hatte ihren sonstigen Gang, wenn es auch stiller in dem Hause war. Sie dämpften die Geräusche und sprachen um einen Ton leiser, sie grauten sich vor der Leiche nicht, aber sie blickten doch nur mit ein paar schnellen scheuen Blicken zu dem Toten hin.

Neben ihm brannte der vielgewundene Wachsstock. Wer am Tage bei ihm saß, schaute durch die Fenster hinaus in den Schneefall, in der Nacht aber war jeder sich selbst überlassen; die Frauen beteten, die Männer grübelten.

Am dritten Tage dann wäre zu anderen Zeiten das Begräbnis gewesen. Da wäre der Pfarrer aus dem Kirchdorfe heraufgekommen oder hätte weiter unten bei einem Wegkreuz gewartet, bis sie den Toten auf dem niederen Berglerwagen brachten. Doch in diesem Schnee gab es keine Wege.

Der Vater vernagelte die Totentruhe seines Vaters, die Bäuerin besprengte sie mit Weihwasser, und alle beteten gemeinsam einige Vaterunser. Dann trugen Sohn und Knecht den Sarg aus der Stube; nicht auf den Schultern, denn die Türe war zu niedrig.

Über die Stiege hinauf mußten sie langsam und vorsichtig gehen. Es war auch nicht leicht, mit dem langen Sarg um die Ecken zu biegen, sie mußten ihn mehrmals halb aufstellen und so weitertragen. Auf dem Dachboden legten sie ihn behutsam auf den Estrich hin.

Hier unter den Schindeln, zwiefach erstarrt in Tod und Kälte, sollte der Tote warten, bis der Weg in den Friedhof hinab gangbar geworden war.

So blieb der Ahn auch nach seinem Tode noch unter einem Dache mit den Hausleuten; zum Abschied auf immer war ihm noch eine Gnadenfrist gegeben.

Zehn Tage später war Weihnachten. Am Heiligen Abend hielten sich die Leute vom frühen Nachmittag an in der Stube auf.

Es hatte zu schneien aufgehört, und eine kalte Sonne lag auf dem Schnee; die Stube war übermäßig hell davon.

Nur langsam kam die Dämmerung; des Feierns ungewohnt, schien es den Menschen am Hofe, die Zeit wäre stehengeblieben.

Die Bäuerin hatte alle Dinge für die Räucherung bereitgestellt. Als es dunkel wurde, legte sie Herdglut auf die zwei Kehrichtschaufeln und warf ein paar Harzbrocken hinein.

Einer der Hausleute räucherte in die Räume, der andere hinter ihm sprengte das Weihwasser mit einer dünnen kornlosen Ähre aus der Kaffeeschale. Die Tochter und der Knecht sollten es im Stall und auf der Tenne tun. Der Sohn und die Magd im Hause, also immer einer der Familie mit einem der Dienstboten.

Als sie aus dem dämmrigen Zimmer, in dem der leuchtende Schnee auch noch am Abend einen sanften Schimmer zurückließ, in den Flur traten und sich hier trennten, setzten sich der Bauer und die Bäuerin zum Tisch und beteten.

Die jungen Leute aber stießen die Türen auf; sie räucherten und sprengten den Segen für das künftige Jahr überallhin.

Der Sohn und die Magd stiegen auch auf den Dachboden hinauf, wo der tote Großvater lag. Im trüben Schein der Glut sahen sie die unheimlich große Truhe, und da fuhr ein Gedanke wie ein Pfeil durch sie beide. An diesem Orte würde sie niemand stören, denn solange der Ahn auf dem Dachboden ruhte, führte hierher kein Weg zu irgendeiner Arbeit.

Schon am nächsten Tag schlichen sie nacheinander die Stiege empor, zuerst der Sohn, dann die Magd. Das Dach war dort, wo der Sarg hingestellt worden war, ganz nahe, und der Mann stieß mit dem Kopf an die Schindeln. Die zwei jungen Menschen sahen sich in dem Halbdämmern zunächst ratlos an, dann zog der Sohn die Magd neben sich nieder auf die Totentruhe.

So saßen sie über dem toten Großvater und redeten vom Leben. Sie glaubten sich rein von Schuld, denn der Alte hatte ihnen ja freundlich zugenickt, ehe er starb.

Eines Tages erschraken sie wohl sehr, doch das seltsame Geräusch dort in der tiefdunkeln Ecke war entstanden, weil der Nußhaufen plötzlich auseinanderrieselte.

Mitten im Jänner fiel ein ungewöhnliches Tauwetter ein, der Jauk, der warme Wind, fraß den Schnee.

Eines Tages war es dann soweit, daß die Bauern von den einschichtigen Höfen einen schmalen Steig in das Tal hinab auspflügen konnten. Sie vollbrachten es gemeinsam, und unten bei dem Wegkreuz, wo ein anderer, schon betretener Weg vorüberführte, atmeten sie erleichtert auf; jetzt hatten sie wieder ihren Auslauf in die Welt hinaus. In der Sternennacht stiegen sie wie erlöst wieder zu ihren Huben hinauf.