Eine Faust-Sinfonie

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6

So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz, das Böse nennt, mein eigentliches Element.

(MEPHISTOPHELES, Faust: Der Tragödie erster Teil)

Paulina nahm mich an der Hand, als wir zusammen die steinerne Treppe zu den Grabkammern hinunterstiegen. Spärliches Licht fiel von den Kandelabern des Gewölbegangs. Es war feucht und ein erdiger Geruch entwich dem Gemäuer. Vorsichtig tasteten wir uns abwärts, bis wir zu einer terrassenartigen Verbreiterung gelangten. Hier teilte sich der Gang. Paulina zeigte mit einer Kopfbewegung zu einer eisernen Wendeltreppe, die weiter in die Tiefe führte. Von unten stieg kühlere Luft empor. Ich vermutete, dass wir uns bereits viele Meter unterhalb der Ebene des Vatikans befanden.

Am Ende der Wendeltreppe hielt mich Paulina am Arm zurück. Vor uns lag ein Säulengang, von welchem mehrere Räume abgingen. Vor der hintersten Kammer stand die Türe offen und man konnte leise Stimmen hören. Die Kurtisane legte ihren Zeigefinger auf die Lippen. Sie führte mich auf die andere Seite des Stollens, wo wir hinter einem Pfeiler Einblick in die Kammer hatten, ohne dass man uns entdeckte.

Es handelte sich offensichtlich um einen Archivraum. An allen Wänden gab es Regale mit Ordnern und Büchern. In der Mitte stand ein Holztisch mit Stühlen. Zwei ältere Kardinäle saßen einander gegenüber. Paulina flüsterte mir ins Ohr, dass es sich um Monsignore Giuseppe Canonico, Chormeister des Vatikans, und um Kardinal Paulo Espinoza, Generalarchivar der Diözese, handelte.

„Streng dich an, Paulo, du musst diese Komposition finden. Es sind nur noch wenige Tage bis zu unserem Festeggiamento Segreto und ich muss das Ganze noch für den Sixtinischen Chor umschreiben.“

„Aber, Giuseppe, wir haben doch Hunderte von Kompositionen. Muss es denn ausgerechnet diese sein? Schriftstücke, die zu ihrer Zeit vom Papst mit dem Bann belegt wurden sind äußerst schwer zugänglich. Ich muss das ganze Bücherregal an der östlichen Wand abtragen, um an die dahinterliegende Geheimkammer zu gelangen. Und ich weiß nicht einmal, wo ich den richtigen Schlüssel auftreiben kann.“

„Ich habe den Schlüssel. Der Kämmerer des Papstes hat ihn mir gegeben.“

„Maledizione! Wenn das der Papst erfährt, dann wehe uns.“

„Für unsere Rituale müssen wir schon etwas riskieren.“

„Du spinnst ja. Willst du den Papst einladen?“

„Warum nicht?“

„Giuseppe, hast du Gras genommen?“

„Gras werde ich nehmen, wenn sie endlich auf dem Altar ausgestreckt liegt.“

„Wozu brauchst du denn diese vermaledeite Komposition?“

„Diese Musik wird uns in Ekstase versetzen. Und die Ekstase ist das Sine qua non für die jungfräuliche Hochzeit mit dem Teufel.

„Wer ist diesmal der Teufel, du?“

„Ich wünsche mir nichts sehnlicher. Aber du weißt ja, die Gemeinschaft entscheidet. “

„Ich begreife nicht, was es mit dieser Musik auf sich hat, warum sie zur Ekstase führen soll.“

„Weil darin das Ewig Weibliche verherrlicht wird, aber nicht die Mater Immaculata, sondern die entjungferte Maria.“

„Du glaubst also nicht an die unbefleckte Empfängnis?“

„Es steht nichts davon in der Bibel. Das Dogma hat Pio Nono erlassen. Er wollte durch die Unversehrtheit Marias die Erbsünde von der Kirche fernhalten.“

„Heute bist du richtig bösartig.“

„Sagen wir es so: viele von uns wissen nicht, dass das Böse unmöglich verbannt werden kann. Der Teufel steht uns Priestern auf die Stirn geschrieben seit Kain seinen Bruder erschlagen hat. Der Herr hat Luzifer verstoßen, damit er ihn auf dem Schlachtfeld der menschlichen Seelen bekämpfen kann. Unsere Gläubigen sind aber zu schwach, um dem Bösen zu widerstehen. Ihnen muss die Angst vor dem Teufel eingeimpft werden. Sie werden sich gerne von ihren Sünden freikaufen. Ein goldiges Geschäft, mein Lieber. Was wäre die katholische Kirche ohne den Herrn der Finsternis?“

„Glaubst du wirklich, dass wir Kardinäle den Teufel in uns tragen?“

„Ich meine, wir sollten uns nicht schämen und ihn annehmen, so wie Adam die verbotene Frucht aus der Hand Evas angenommen hat. Wir müssen die Weiblichkeit, die sich bei der Erschaffung des Menschen gegen uns versündigt hat, bestrafen und unterdrücken. Sie ist die Verkörperung des Bösen.“

„Du machst mir Angst, Giuseppe, wirklich.“

„Ich werde dir die Beichte abnehmen, damit du deine Seele erleichtern kannst.“

Ich konnte mich vor Entsetzen kaum auf den Beinen halten. Paulina bemerkte, dass ich taumelte und hielt mich fest. Sie flüsterte in mein Ohr.

„Professor, können Sie den Wortwechsel verstehen?“

„Nur zu gut. Ich spreche italienisch, weil ich mit italienischen Forschern zusammenarbeite. Ich wollte, ich hätte nichts verstanden. Es ist kaum zu glauben, was ich höre. Einfach schrecklich. Paulina, Sie brauchen mir nicht zu sagen, wer auf dem Altar dem Teufel geopfert werden soll. Ich habe begriffen. Um welche Komposition handelt es sich denn?“

„Ich weiß es nicht. Hören wir weiter.“

Monsignore Canonico war aufgestanden und grübelte in der Tasche unter seiner Soutane. Er hielt einen schwarzen Schlüssel in der Hand.

„Hier, du musst schnell arbeiten. Ich sehe den Kämmerer noch heute Abend. Die mit dem Bann belegten Akten befinden sich zuhinterst in einem riesigen Schrank. Sie sind nach Jahreszahl geordnet. Die Komposition findest du unter dem Jahr 1870. In diesem Jahr hat Pius das Werk mit einer päpstlichen Bulle verdammt. Die Partitur trägt die Jahreszahl 1857. Obwohl es sich nicht um das Original handelt, wurde der Abdruck von Franz Liszt persönlich signiert. Ich gehe davon aus, dass er mit der Schrift bei Pio Nono war. Wahrscheinlich hatte der Komponist Zweifel an der Lauterkeit seiner Musik. Ich weiß nicht, ob der Papst die Partitur in den Index verbotener Kompositionen aufgenommen hat. Jedenfalls wurde das Werk zu Zeiten Liszts in Rom nie aufgeführt.“

„Wie, hast du gesagt, heißt das Werk?“

„Chorus Mysticus, das Alternativ-Finale der Faust-Sinfonie. Die Apotheose der weiblichen Sinnlichkeit. Ein teuflisches Werk. Es zeigt die verwerflichen Charakterzüge des Komponisten. Er war besessen von Weibern, betete sie an und ließ sich zur Sühne die priesterlichen Weihen geben.“

„Und in deiner Logik war seine Stirne von Satan gezeichnet.“

„Du sagst es.“

Verzweifelt blickte ich Paulina an.

„Ich muss hier raus, bitte.“

Die Kurtisane schien mein Entsetzen zu spüren. Sie ergriff meine Hand und führte mich behutsam zur Wendeltreppe zurück. Als sei der Teufel persönlich anwesend stolperte ich, als wir den Gewölbegang erreichten, über eine Erhebung im Boden und schlug gegen einen Kandelaber. Er fiel krachend herunter.

In diesem Augenblick glitt ein eisernes Tor von der Decke und versperrte den Weg. Offenbar war ein Sicherheitsalarm ausgelöst worden. Die zwei Kardinäle stürmten aus dem Archivraum, polterten die Wendeltreppe empor und blieben vor uns stehen.

„Nanu, die Hure mit einem Freier. Was treibst du hier, Paulina. Du hast heute keinen Dienst, soviel ich weiß. Bianca ist im Plan eingetragen.“

Das Gesicht von Kardinal Canonico verfinsterte sich, als er mich mit seinen Augen musterte. Dann wandte er sich wieder der Kurtisane zu.

„Du weißt, dass es streng untersagt ist, diese Räume mit weltlichen Sündern zu betreten. Ich werde es dem Generalvikar melden müssen. Wie viele Peitschenhiebe hast du für dieses Vergehen verdient?“

„Zehn? Fünfzehn?“ Die Stimme Paulinas war nur noch ein Säuseln.

„Fünfundzwanzig, meine Liebe! Melde dich morgen im Vikariat.“

„Zu Diensten, Eminenz.“

Paulina wollte mich wegziehen, als der Kardinal mich am Ärmel packte.

„Der Ausgang bleibt versperrt, bis wir wissen, wer dieser Herr ist. Er scheint kein Römer zu sein. Wie heißen Sie?“

„Professor Hannes Georg.“

„Interessant. Welches ist denn ihr Gebiet, Herr Professor? Erforschen Sie das Wesen der Begierde?“

Paulina stellte sich schützend vor mich.

„Er ist unschuldig, Monsignore, ich habe ihn verführt.“

„Ist ja dein Beruf. Aber wir haben mit dir einen Vertrag abgeschlossen. Du hast eine kirchliche Anstellung und einen guten Lohn. Dein Arbeitsbereich betrifft ausschließlich die Bedienung der Kardinäle. Schon vergessen?“

„Ich bitte um Vergebung, Euer Heiligkeit. Es kommt nicht wieder vor.“

„Das will ich hoffen. Und nun raus hier. Und vergiss den Peitschentermin nicht. Ihnen, Professor, rate ich gründlich zu vergessen, wo Sie heute waren. Die Arme des Vatikans sind lang und ich möchte Ihnen nicht wünschen, sich mit dem Bischof von Rom anzulegen.“

Kardinal Canonico drückte auf einen Knopf in einer Vertiefung neben dem Eisentor. Sogleich begann sich die Absperrung zu heben und wir eilten rasch nach oben. Meine Knie zitterten.

Als wir vor dem Vatikan standen, fanden wir keine Worte. Wir starrten auf den beinahe leeren Petersplatz. Die Dunkelheit war hereingebrochen und Laternen kämpften vergeblich gegen die Finsternis. Paulina fasste sich zuerst.

„Es tut mir leid, Professor. Ich habe Sie in eine unangenehme Situation gebracht. Für mich ist es nicht schlimm. Das Spiel mit der Peitsche gehört zu unserer Arbeit. Die Ordensbrüder lieben es. Es gibt ihnen Macht über uns. Einige ziehen es vor, von uns Kurtisanen selbst gegeißelt zu werden. Der Schmerz, wissen Sie, er hilft vielen Gottesmännern über das Leid hinwegzusehen, das sie über die Gläubigen bringen. Busse für die Kirche, sozusagen. Auch Kardinäle fürchten das Wort Gottes. Sie haben es ja gehört. Die Angst ist die Waffe der Kirche. Sie hält die Institutionen am Leben, macht sie reich.“

 

„Sie tragen keine Schuld, Paulina. Ich wollte es ja, wegen der Novizin. Jetzt bin ich alarmiert. Jemand muss sie warnen.“

„Sie weiß von dem Vorhaben der Jesuitenbrüder.“

„Sie weiß es?“

„Ihr Glaube an die Kraft des Guten ist so groß, dass sie überzeugt ist, dem Bösen widerstehen zu können. Evi ist so beseelt von Jesus Christus, dass sie ihr Leben für ihn geben würde.“

„Aber doch nicht für den Teufel“.

Hast du noch immer etwas gegen mich?

Du bist das Krebsgeschwür der Menschheit.

Und doch brauchen mich alle.

Ich könnte auf dich verzichten.

Wer hat dich denn in die Kellergewölbe geführt?

Paulina.

Bist du sicher?

Ich sehne mich nach der Novizin.

Wer hat das Begehren in dir geweckt?

Du?

Wer sonst?

Paulina zupfte mich am Arm.

„Professor, geht es Ihnen gut? Sprechen Sie mit jemandem?“

„Ich ... weiß nicht, ich meine ..., nein, ich glaube nicht.“

„Hören Sie, ich fühle mich in Ihrer Schuld. Ich möchte das Ihnen Widerfahrene gutmachen, Ihnen Zärtlichkeit geben, damit Sie sich entspannen können. Ich lade Sie ein, die Nacht bei mir zu verbringen. Sie haben gehört, ich habe keinen Dienst. Wir können auch das Peitschenspiel machen, wenn Sie wollen. Vielleicht hilft Ihnen der Schmerz, die Verirrungen der Kirche leichter zu ertragen.“

Sie nahm mich am Arm und ich wehrte mich nicht.

7

Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar ...

(MEPHISTOPHELES, Faust: Der Tragödie erster Teil)

Am nächsten Morgen eilte ich zu meiner Pension. Mein Rücken schmerzte von den Peitschenhieben. Ich musste Paulina Recht geben. Der Schmerz hatte nicht nur die Spannung gelöst und das Entsetzen erträglich gemacht, sondern auch meine Schuldgefühle gegenüber meiner Familie gelindert. Was mich erstaunte war die Tatsache, dass mir die Schmerzorgie inneren Frieden gebracht hatte. Ich musste sogar ein gewisses Verständnis für das Treiben der Teufelskardinäle feststellen. Das Peitschenspiel, es war kein Spiel, es war das Verlangen gequälter Seelen. Es war ein Instrument des Satans, um sich Zugang zu diesen Seelen zu verschaffen. Es löste neue Ängste aus und neues Verlangen. Paulina war genügend erfahren und einfühlsam gewesen, mich vor weiteren Exzessen zu bewahren. Am Ende waren wir erschöpft und zufrieden nebeneinander gelegen. Sie hatte meine Hand in die ihre geschlossen und gesagt:

„Danke, Professor, dass ich Sie in dieses abscheuliche Geheimnis einweihen durfte. Ich weiß nicht, ob Sie den Mut haben, etwas dagegen zu unternehmen, ob es Ihnen möglich ist, den Verlauf der Dinge zu ändern.“

Das wusste ich natürlich auch nicht. Zudem beschlichen mich immer mehr Zweifel an meinem Bewusstseinszustand. Hatte der Alkohol meine Wahrnehmung getrübt? Die Vorstellung mystischer Entgleisungen in den Gruften des Vatikans ließ mich erschauern und an meinem Realitätssinn zweifeln.

Wie dem auch sei, ich war ungewollt in diese Tragödie hineingeschlittert und fühlte mich zu nichts verpflichtet. Obwohl ..., da war die Novizin. Und was ich in den unterirdischen Räumen mitgehört hatte, entfaltete Turbulenzen in meinem Innern. Ich schien mich spiralartig dem Abgrund meiner Seele zu nähern. Merkwürdigerweise wehrte ich mich nicht im Geringsten gegen den Gedanken, tiefer zu fallen.

An der Rezeption der Pension überreichte man mir eine Mitteilung. Ich öffnete den Umschlag und entnahm ihm ein Briefpapier mit dem Banner des Vatikans.

Heute Etappe 1: Kloster Santa Maria del Rosario,

Monte Mario. Wir treffen uns um 11 Uhr an der Pforte.

Gezeichnet: Ihr Gesellschafter, Kardinal Diabelli.

Ich setzte mich in die Eingangshalle. Ein Ausflug auf den Monte Mario – wie ich erfahren hatte, konnte man dort eine herrliche Aussicht über ganz Rom genießen – schien mir eine willkommene Abwechslung zu sein. Ich hoffte, die bedrohliche Richtung, welche die Reise in mein neues Leben genommen hatte, noch abwenden zu können. Das Unbehagen, das sich mit dem Namen Diabelli verband, war zwar immer noch da, aber das offizielle Banner des Vatikans auf dem Briefkopf ließ meine Bedenken, mich vom Jesuitenkardinal führen zu lassen, schwinden.

Ich bestellte ein Taxi, welches mich durch den dichten Morgenverkehr Roms auf den Monte Mario fuhr.

Am Fuße des Klosters gibt es eine kleine Parkanlage, wo ich den phantastischen Ausblick bis zum Petersdom genießen konnte. Da mir noch etwas Zeit blieb, setzte ich mich auf eine Bank und ließ meine Gedanken über die ferne Stadt schweifen. Die Harmlosigkeit der Weite und Schönheit Roms ließen Bewunderung für den Schöpfer dieser Welt aufkommen. Wie konnte es sein, dass sich unter der Oberfläche der heiligen Metropole eine Perversion des Glaubens eingeschlichen hatte? Die Erinnerung an meine gestrigen Erfahrungen in den Tiefen der Vatikanischen Grotten ließen mich immer noch erschauern.

Ich hoffte, dass ich im Inneren des Dominikanerklosters begreifen würde, weshalb ein Star wie Franz Liszt 1863 hierher gekommen war, ausgerechnet in einer der turbulentesten, vielleicht auch dunkelsten Zeiten Roms, vor der Einigung Italiens. Mehrere Jahre hatte er in Askese und Abgeschiedenheit gelebt und schließlich die Priesterweihen erlangt. War er wirklich müde gewesen von seinem exzentrischen Leben, oder suchte er den damaligen Okkultismus der katholischen Lehre?

Pünktlich um 11 Uhr begab ich mich zur Pforte des prächtigen Gebäudes. Der Jesuitenkardinal stand vor dem Eingang. Er breitete seine Arme aus.

„Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Professor. Sie dürfen mir glauben, dass sich selten jemand hierher verirrt. Das Kloster finden Sie in keinem Fremdenführer. Es wird heute von Klausurschwestern bewohnt, so dass es der Öffentlichkeit nicht zu Verfügung steht. Ein Besuch der frühchristlichen Ikone in der Kirche ist allerdings während des Gottesdienstes möglich. Wir haben Glück, kommen Sie.“

Wir betraten den Kirchenraum. Die Morgensonne warf ihre warmen Strahlen ins finstere Innere. Leise Frauenstimmen drangen in den Altarraum. Die Madonna blickte uns durch ein Gitterfenster an, von oben durch eine kleine Lampe beleuchtet, traurig, unendlich entrückt, die Güte der Weiblichkeit ausstrahlend. Lukas soll die Maria gemalt haben.

Das Bildnis faszinierte mich fast ebenso wie dasjenige der Novizin. Der weibliche Gesang aus dem Hintergrund, der das Antlitz der Heiligen beinahe zum Leben erweckte, stand im krassen Gegensatz zur Verachtung, welche die Kardinäle in den Vatikanischen Grotten dem weiblichen Geschlecht entgegenbrachten. Weshalb war Maria heilig, wenn sie im Finsteren mit Füssen getreten wurde? Wer machte die Weiblichkeit zur Hure?

Ich nehme an, du meinst mich.

Erraten.

Bei wem warst du gestern Nacht?

Was geht dich das an?

Na, komm schon!

Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle.

Eben, soll ich nicht bei dir sein und die Kontrolle für dich

übernehmen?

Ich gebe zu, dass ich Schwäche zeige.

So gefällst du mir. Jetzt öffnest du Tür und Tor für ein lustvolles

Leben. Du machst Fortschritte.

Aber was in den Kellern des Vatikans vor sich geht gefällt mir

nicht.

Du bist kleinlich. Lass dem Bösen seinen Spielraum. Warst du

nicht begierig nach der Lust, welche dir die Peitsche gebracht hat?

Ich musste mich erlösen lassen vom Schmerz des Erlebten.

Schmerz mit Schmerz tilgen. Du bist wahrlich teuflisch. Bald

kann ich von dir lernen.

Bitte, lass mich in Frieden.

Immer zu Diensten.

Diabelli stupfte mich.

„Der Gottesdienst ist zu Ende. Wir müssen gehen.“

Die Gitterfenster schlossen sich und wir verließen die Klosterkirche. Der Kardinal führte mich zu einer schattigen Bank am Fuß des Klosters.

„Leider können wir die Innenräume des Klosters wegen der Klausur nicht besuchen. Wenn Sie meine persönliche Meinung wissen wollen, die Nonnen verstecken sich vor dem Teufel. Ich glaube, der Komponist, für den Sie sich interessieren, wollte sich auch vor dem Teufel verstecken. Er war zwar ein Genie, aber er hat Vielweiberei betrieben, gehurt. Er hat das Weibervolk zum Kreischen gebracht. Es ist ihm zu Füssen gelegen, es hat ihm die Hände geleckt.

Ja, er musste sich reinigen. Er wollte sich dem Herrn zuwenden, wollte sich der Einsamkeit hingeben, sich läutern. Er hat viel gebetet, Kirchenmusik komponiert. Stellen Sie sich vor, hier entstand sein Christus Oratorium. Und ich sage Ihnen, es war eine Inszenierung, eine Täuschung seiner selbst und der Welt. Er meinte, mit dem Schein der Heiligkeit würden seine Sünden getilgt. Aber der Teufel lässt sich nicht so leicht übertölpeln. Nicht durch priesterliche Weihen, nicht durch Gespräche mit dem Papst. Es herrschte Krieg in der Seele des Musikers. Der Teufel hat mit dem Herrn gerungen. Die Schlacht ist mit leichtem Vorteil für den Teufel ausgegangen. Abbé Liszt stolzierte mit der Soutane umher. Er stürzte sich bald wieder in die Menge, gab Konzerte, ließ sich feiern, genoss die Weiber. Kaum hier angekommen reiste er in alle Welt. Seine Verzweiflung stieß ihn direkt in die Niederlage.

Luzifer ist stark, Professor. Der gefallene Engel ist ein Teil Gottes, der Schatten des Herrn, die Finsternis, die nach dem Licht sucht.“

„Sie erzählen mir da eine recht teuflische Version der Geschehnisse, wenn Sie mir meine Direktheit entschuldigen wollen, Pater Diabelli.

Wie ich einer Liszt Biographie entnommen habe, ist der Starvirtuose mit ernsthafter Absicht hierher gekommen. Er entsagte seinem prunkvollen Leben und verzichtete auf die Eitelkeit der Welt. Seit unserem Besuch der Klosterkirche, und nachdem ich die Abgeschiedenheit dieses Ortes gespürt habe, kann ich das Bedürfnis des Komponisten verstehen, seine Arbeit in Nähe der heiligen Mutter fortzusetzen, abseits des Rummels der Großstadt, der Aufdringlichkeit seiner Anhängerinnen. In meinen Augen suchte er Inspiration, weit weg von den weltlichen Versuchungen.“

„Fast könnte man meinen, Sie argumentieren als Fürsprecher des Herrn und ich sei das Sprachrohr des Teufels.“

War sein Lächeln verächtlich oder verschmitzt? Huldigte Diabelli dem Widersacher Gottes? Gehörte er zu den Frauenhassern, zu den Triebgestörten der katholischen Kirche?

„Kennen Sie Kardinal Canonico?“

„Den Chorleiter? Aber natürlich. Wer kennt ihn nicht? Ohne ihn gäbe es keine Momente der Besinnlichkeit in der Strenge unserer täglichen Glaubensarbeit. Sein Chor leistet Hervorragendes. Die Kantaten sind ein Quell der Erleuchtung. Die Sänger und Sängerinnen schenken uns Hingabe und Frieden. Sie müssen den Sixtinischen Chor unbedingt hören. Ich werde das in unser Besuchsprogramm aufnehmen.“

„Kennen Sie eine Novizin Namens Eva Maria Agnesa?“

„Ich sehe, in kurzer Zeit haben Sie die Sinnlichkeit dieser Stadt erkannt. Ich bin froh, dass Ihre Begierde nach Veränderung unvermindert stark ist. So stark, dass Sie sich nicht scheuen, in die Tiefen menschlichen Gebarens zu tauchen. Das prädestiniert Sie dazu, außergewöhnliche Erfahrungen zu machen. Es gibt Ihnen die Möglichkeit, von den Süßigkeiten des Lebens zu naschen, vom verbotenen Apfel, meine ich.“

„Sie sprechen nicht wie ein Priester.“

Du hast mich erkannt, du Schlaumeier.

Ist der Jesuit in deiner Hand?

Ich habe niemanden in der Hand. Ich bin in dir drin. Und der

Kardinal spricht mir aus der Seele. Also tu, was du tun wolltest,

oder bist du hierher gekommen, um deine Frömmigkeit

auszuleben?

Schwein!

Gib nicht mir die Schuld.

Und Liszt?

Er gleicht dir, der teuflische Frömmler.

Aber seine Musik, sie ist genial.

In aller Bescheidenheit, auch ich bin genial.

Am Ende werde ich es glauben.

 

Nur zu, tu’s.

Ich sehne mich nach der Novizin.

Sag’s ihm, Feigling, sag’s dem Kardinal.

„Mein lieber Professor, auch die Kirche hadert mit dem Teufel. Er hat eine wichtige Stellung im Kardinalskollegium. Wenn wir Priester ihm stattgeben, ist es das Eine, aber er bedroht auch die Gemeinde der Gläubigen. Er schürt die Angst. Und die Angst vor dem Verbotenen führt zur Versuchung. Wir Gottesmänner müssen die Gläubigen zur Busse führen, wenn sie sich versündigen.“

„Verstehe ich Sie richtig? Sie sagen, es sei nicht so schlimm, wenn die Kardinäle den Teufel ausleben? Vielmehr müssten Sie ihrer Glaubensgemeinde beistehen und sie büßen lassen? Hören Sie, die Kirche selbst schürt doch die Angst vor dem Teufel, vor den Flammen des Fegefeuers, vor den bestialischen Strafen. Das ist doch Selbstzweck. Es ist eine Frage der Macht. Die Kirche sucht die Macht, weil sie neben der Demut Jesu Christi ohne die Androhung der Strafe nicht bestehen kann. Die katholische Kirche lebt vom Ablass der Sünden, die sie selbst formuliert hat.“

Ich war richtig in Fahrt gekommen. Was hatte mich getrieben? Die eigene Angst? Nein, ich war in die Falle getreten. In die Falle, die mir der Kardinal gestellt hatte.

„Professor, ich muss Ihnen ein Kompliment machen. Ihre Worte offenbaren die Grausamkeit des Schlachtfeldes in Ihrer Seele. Sie entwickeln sich zu einem ebenbürtigen Partner, Hannes Georg. Ich freue mich bereits auf unsere nächste Etappe.“

Kardinal Diabelli erhob sich, fasste seine Soutane mit der Hand, und entfernte sich gemächlichen Schrittes. Bevor er in einem Seiteneingang des Klosters verschwand, rief ich ihm hinterher:

„Wo ist die Novizin?“

Der Jesuit blickte zurück. Ein breites Lächeln lag in seinem Gesicht.

„Evi? Kennen Sie den Pincio Park? Liszt war oft dort. Gehen Sie hin“.

Dann war er weg.

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