Inklusive Sprachförderung in der Grundschule

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Inklusive Sprachförderung in der Grundschule
Font:Smaller АаLarger Aa


utb 3752

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

Narr Francke Attempto Verlag / expert Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Ernst Reinhardt Verlag · München

Ferdinand Schöningh · Paderborn

transcript Verlag · Bielefeld

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlag · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

Waxmann · Münster · New York

wbv Publikation · Bielefeld


Dr. Jörg Mußmann ist ist Hochschulprofessor für Sonderpädagogik und Inklusive Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

UTB-Band-Nr.: 3752

ISBN 978-3-8252-5511-4 (Print)

ISBN 978-3-8385-5511-1 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-8463-5511-4 (EPUB)

2., aktualisierte Auflage

© 2020 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in EU

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Covermotiv: © Woodapple – Fotolia.com

Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D–80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Geleitwort von Gottfried Biewer

Vorwort zur 2. Auflage

1 Spezifische Sprachförderung im inklusiven Unterricht

1.1 Förderschwerpunkt Sprache im inklusiven System

1.2 Das Problem inklusiver Pädagogik und exklusiver Sprachförderung

1.3 Grenzen der Inklusion im Bildungssystem

2 Sprache als Medium des schulischen Lernens und sozialen Handelns

2.1 Bedingungen des Erstspracherwerbs

2.2 Bedingungen des Zweitspracherwerbs

2.3 Ablauf und Meilensteine im Sprachlernprozess

2.4 Störungen und Verzögerungen im Erstspracherwerb

2.4.1 Spezifische Störungen der Sprachentwicklung

2.4.2 Störungen der Rede- und Kommunikationsfähigkeit

2.4.3 Organisch bedingte Sprach-, Sprech-und Stimmstörungen

3 Handlungsfelder mit dem Förderschwerpunkt Sprache in inklusiven Settings

3.1 Unterrichtsintegrierte Sprachförderung

3.1.1 Allgemeine Prinzipien und Methoden

3.1.2 Spezifische Interventionsformen

3.2 Beratung und Kooperation

3.2.1 Elternberatung und Elternpartizipation

3.2.2 Beratung und Kooperation mit Regelschullehrkräften

3.2.3 Ziel und Funktion der Beratung

3.2.4 Formen der Beratung und Kooperation

3.2.5 Kollegiale Fallberatung

3.2.6 Unterrichtsreflexion und Unterrichtsanalyse

3.2.7 Kriterien für die Unterrichtsreflexion mit dem Förderschwerpunkt Sprache

4 Didaktik für einen sprach- und kommunikationsfördernden Unterricht

4.1 Setting für einen sprach- und kommunikationsfördernden Unterricht

4.2 Planungsmodell für einen sprach- und kommunikationsfördernden Unterricht

4.3 Sprachliche Barrieren

4.3.1 Sprachliche Barrieren aus sprachheilpädagogischer Sicht

4.3.2 Beispiele sprachlicher Barrieren

4.4 Medien

4.5 Sprach- und kommunikationsfördernde Unterrichtsformen

4.5.1 Offene Unterrichtsformen

4.5.2 Geschlossene Unterrichtsformen

4.6 Lehrersprache

4.6.1 Prosodische Aspekte

4.6.2 Lob

4.6.3 Nonverbale Aspekte

4.7 Sprachspezifische Strategien

4.7.1 Sprachliches Modellieren

4.7.2 Kognitives Modellieren: „Lautes Denken“

4.7.3 Reflexionsorientierte Strategien

5 Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Sachregister

Hinweise zur Benutzung dieses Lehrbuches

Die in diesem Buch aufgeführten Online-Materialien 1–6 finden Sie auf den Homepages des Ernst Reinhardt Verlages und der UTB GmbH bei der Darstellung dieses Titels (Download unter: www.reinhardt-verlag.de und www.utb.de).

Hinweise zur Verwendung der Icons


Beispiel
Informationsquellen print und online
Online-Zusatzmaterial
Merksatz

Geleitwort

Ein inklusives und chancengerechtes Bildungssystem, das alle Kinder wertschätzt, sie gleichzeitig aber dort abholt, wo sie stehen, und ihnen die nötige Unterstützung bietet, entspricht der Vision der Agenda 2030 der Vereinten Nationen, wie sie sich im Ziel für nachhaltige Entwicklung (SDG 4) darstellt. Die Entwicklung der Sprache ist für Kinder im Primarstufenalter noch nicht abgeschlossen und für manche durch die unterschiedlichsten Rahmenbedingungen und individuelle Voraussetzungen gehemmt. Auch wenn es zeitweise einen Trend gab, Kinder mit Störungen der Sprachentwicklung in eigenen Grundschulen zu separieren, so stellte sich doch sehr schnell die Frage, welche weiten Nachteile sie sich damit einhandeln. „Inklusive Sprachförderung in der Grundschule“ ist damit ein weithin akzeptiertes Aufgabengebiet regulärer Schulen und nicht eine Angelegenheit separierender Schulen, die Gefahr laufen, Schülerinnen und Schüler auszugrenzen.

 

Inklusive Bildung ist kein Selbstläufer, sondern benötigt die fachliche Expertise von Lehrkräften, die Entwicklungsbedarfe erkennen und die nötigen Unterstützungen vorschlagen und einleiten. Indem dieser Titel in eine zweite Auflage geht, zeigt er, dass es ihm gelingt, das nötige Wissen an seine Empfängerinnen und Empfänger zu vermitteln. Dies sind nicht nur Studierende, die sich ein notwendiges vertieftes Basiswissen aneignen, sondern auch Lehrkräfte in den Schulen der Primarstufe, die Antworten suchen für die Hauptprobleme sprachlicher Entwicklungsförderung. Das können die Lehrkräfte der Grundschulen in Deutschland, der Volksschulen in Österreich und der Primarschulen in der Schweiz gleichermaßen sein.

Der Aufbau des Buches spricht diejenigen Themen an, die als Basiswissen verfügbar sein sollten, wie Bedingungen des Spracherwerbs und dessen Störungen. Es gibt aber auch einen guten Überblick über Handlungsfelder in inklusiven Settings wie Beratung, Fallarbeit und Kooperation. Darüber hinaus gibt es viele konkrete didaktische Anregungen für den inklusiven Unterricht wie Medien, Lehrersprache und sprachspezifische Strategien. Das Buch bündelt relevantes Wissen für einen vermutlich noch länger andauernden strukturellen Wandel hin zu einer inklusiven Grundschule, in dem bestehendes fachliches Wissen erhalten bleibt und seinen Platz in neuen Strukturen sucht und finden wird.

Wien, im Juni 2020,

Univ. Prof. Dr. Gottfried Biewer

Vorwort zur 2. Auflage

Zum Zeitpunkt der ersten Auflage dieses Buches befand sich die so genannte Sprachheilpädagogik auf einem Höhepunkt der Diskussion zur schulischen Inklusion. Die anhaltenden pathologisierenden Perspektiven mancher medizinischen und sprachtherapeutischen Ansätze wurden zunehmend kritisch diskutiert. Bildungstheoretische Fragen nach den Folgen von Sprachbeeinträchtigungen für schulische Lern- und Entwicklungsprozesse rückten immer mehr in den Mittelpunkt. Im Diskurs der inklusiven Pädagogik wurden neue Handlungsfelder und Handlungsformen der Lehrkräfte beleuchtet, die sich in neuen Studiengängen auf den Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit entwicklungsbedingten oder erworbenen Sprach-, Sprech-, Stimm-, Rede- und Kommunikationsstörungen spezialisierten. Netzwerkbasierte Unterstützungsangebote, in denen Kooperation zwischen unterschiedlich fachdidaktisch und sonderpädagogisch spezialisierten Lehrkräften und deren Beratung im Mittelpunkt stehen, wurden entwickelt. Die Vermeidung von Barrieren und die Adaption der Lernangebote im Unterricht gehört nun auch zunehmend zu den Aufgaben der auf Sprachentwicklung und Sprachförderung spezialisierten Lehrkräfte. Die professionstheoretische Diskussion der Sprachheilpädagogik um das „doppelte Joch“ (Hansen 1929), also die Frage, wie Sprachtherapie und Unterricht verbunden werden können, die das Fachgebiet über 100 Jahre umtrieb, wurde leise und unbemerkt beendet. Man kehrte gleichermaßen an einen historischen Ausgangspunkt zurück, den Gründungsväter wie Hermann Gutzmann sen. (1904: „Die soziale Bedeutung der Sprachstörungen“) in Deutschland oder Emil Fröschels in Österreich vielleicht im Sinn hatten und der im Vorwort der ersten Auflage dieses Buches wie folgt zum Ausdruck gebracht worden ist: „Handlungsformen und Zielsetzungen der Sprachheilpädagogik bleiben auch im inklusiven System die, die sie immer waren: pädagogische“.

Diese Entwicklung führte in der Praxis der Schulen, Bildungspolitik und Hochschulen zu Veränderungen von Bezeichnungen und Benennungen, die als Ausdruck eines veränderten professionellen Selbstverständnisses verstanden werden können. Das spezialisierte Lehr- und Forschungsgebiet bezeichnet sich an fast allen Studienstätten als Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigungen, in Deutschland und Österreich als Teil einer inklusiven Pädagogik. Exklusive Berufsbezeichnungen wie „Sprachheillehrkraft“ gehören zumindest im schulverwaltungstechnischen Sprachgebrauch der Geschichte an. In Österreich kam der Start der reformierten Studiengänge im Wintersemester 2015/16 der finalen Etappe im Entwicklungsmodell der Inklusion nach Sander sehr nahe: dem Aufgehen sonderpädagogischer Fragestellung in einer allgemeinen Pädagogik. Studierende aller Lehramtsstudiengänge werden obligatorisch sensibilisiert für die kindliche Sprachentwicklung und für spezifische Fragen bei Sprachbeeinträchtigungen und deren Bedeutung für die inklusive Unterrichtsplanung, -durchführung und -evaluation in Kooperation und durch kollegiale Fallberatung mit Lehrkräften, die auf spezifische Unterstützungsangebote in diesen Bereichen spezialisiert werden.

Der Stand der Hochschullehre und Forschung sowie die Entwicklung von Unterrichtsmethoden und -konzepten ist dafür in den vergangenen zehn Jahren erstaunlich vorangeschritten. Mittlerweile laufen sogar bereits Forschungsarbeiten zur Wissensgeschichte im Fachgebiet und dessen geschichtlicher Entwicklung im Diskurs der schulischen Inklusion. Die Zahl der Lehrbücher zur Sprachförderung im inklusiven Unterricht im deutschsprachigen Raum verliert allerdings zunehmend an Übersicht und Unterscheidbarkeit. Man kann mittlerweile fast von einer Sättigung sprechen, wodurch es auch diesem Buch schwerfällt, Inhalte anzubieten, die in Teilen nicht auch in nachfolgenden Publikationen zu finden sind. Den Studierenden der inklusiven Pädagogik, die einen Einblick in dieses Spezialisierungsgebiet gewinnen wollen, kann dies beruhigen, denn es zeigt sich, dass die Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigungen sich erfolgreich dem Diskurs zur inklusiven Pädagogik anschließen konnte und mit einem breiten und etablierten Entwicklungsstand in allen Lehramtsstudiengängen ein brauchbares Angebot machen kann.

Dieses Buch richtet sich daher an alle Lehramtsstudierende und Lehrkräfte für den Primarstufenbereich. Jenen, die sich zu inklusiv- und sonderpädagogischen Fragestellungen bei Sprachbeeinträchtigungen spezialisieren, zeigt es Möglichkeiten der Förderung, Beratung und Kooperation auf. Allen anderen bietet es Einblicke in dieses Spezialisierungsgebiet als Voraussetzung für kollegiale Beratungssituationen und den inklusiven Unterricht.

Mitterstroheim/Österreich, im Juli 2020,

Jörg Mußmann

1 Spezifische Sprachförderung im inklusiven Unterricht

1.1 Förderschwerpunkt Sprache im inklusiven System

Sprache ist Bildung

Sprache ist das Medium der Bildung. Sprache und Bildung ermöglichen Teilhabe an der Gesellschaft (von Humboldt 1965). Die Teilhabe an Bildung ist auch die Teilhabe an sprachlicher Bildung. Sprachliche Bildung und damit auch individuelle Sprach-entwicklung begleiten das ganze Leben. Mit ihren strukturellen Gegebenheiten auf der Laut-, Wort- und Satzebene sowie mit ihren verbalen, non- und paraverbalen Modalitäten und der Schrift ist Sprache ein zentrales Medium schulischen Lernens, emotionalen Erlebenes und sozialen Handelns. Mit ihr können wir uns anderen Menschen verbal, schriftlich, visuell und auch über Bilder von Angesicht zu Angesicht mitteilen und andere verstehen. Mit Sprache können Ideen und Wünsche in Worte gefasst werden. Bedürfnisse nach Akzeptanz und sozialer Regulation äußern sich direkt und indirekt neben dem nonverbalen und melodischen Ausdruck auch über die Wortwahl und den Satzbau; das Erfahren von Selbstwirksamkeit wird so sprachlich vermittelt. Sprachliche und kommunikative Fertigkeiten und Fähigkeiten unterstützen die individuelle Identitätsentwicklung (Hartig-Gönnheimer 1994; Wolf 1998). Sprache erfasst und ordnet das Wollen, aber auch, was nicht gewollt ist. Die Grammatik der Sprache bringt die ausgedrückten Gedanken „auf die Reihe“ und strukturiert gleichzeitig mit Kategorien, mit Ober- und Unterbegriffen die kognitive Entwicklung.


„Die Sprache ist nichts anderes als eine spezialisierte und konventionalisierte Fortführung des gemeinsamen Handelns“ (Braun 2006, 172).

Das besondere am Medium der verbalen Sprache ist, dass es sich zusammensetzt aus einer Menge von Zeichen, die anders als bildhafte Verweise, Mimik oder Gestik, eine ganz besondere Eigenschaft haben. Sie sind symbolische Zeichen, d. h. der Zusammenhang zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck ist willkürlich (arbiträr), also nicht naturgegeben und nicht durch sinnliche Wahrnehmung erfahrbar. Der kulturell festgelegte Zusammenhang muss in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt werden. Gerade durch diese Willkürlichkeit sind sprachliche Zeichen in den verschiedenen Sprachgemeinschaften konventionalisiert, damit Kommunikation überhaupt möglich werden kann.

angeborene Fähigkeit zur Sprache

Diese symbolische Eigenschaft der Zeichen zu erkennen, also Sprache in der übrigen Geräuschumgebung unterscheiden und diese symbolischen Zeichen regelhaft verwenden und kombinieren zu können, ist eine gattungsspezifische, angeborene Fähigkeit (Pinker 1996; Stromswold 2001). Sie erfordert jedoch kognitive, emotionale und biologische Entwicklungsschritte (→ Kapitel 2.1).

Sprechen als soziokulturelle Fertigkeit

Das Sprechen wird als soziokulturelle Fertigkeit in einer muttersprachlichen Umgebung gelernt. Dies setzt nicht nur die sensomotorische Erfahrung der Artikulationsorte und Artikulationsweisen und die Imitation der muttersprachlichen Lautbildung voraus, sondern auch ein Wissen über die Vielfalt von Zeichenbedeutungen, ein Wissen über die Welt, über die gesprochen wird, sowie einen äußeren, sozialen Anlass und eine innere Motivation. Die Fähigkeit und die Fertigkeiten zu sprachlicher Kommunikation, deren Entwicklung und Förderung in schulischen Kontexten unter erschwerten Bedingungen spezifischer Beeinträchtigungen, steht im Folgenden im Mittelpunkt.

Im Fokus sonderpädagogischer Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote stehen das sprachliche Handeln des Kindes und dessen individuelle Lern- und Entwicklungsbedingungen. Bei schweren Beeinträchtigungen im rezeptiven und produktiven Sprachgebrauch können störungsspezifische Interventionen notwendig werden, um zunächst die basalen Grundlagen intentionalen, partnerorientierten und symbolischen Handelns zu schaffen. Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz für den Förderschwerpunkt Sprache sehen daher vor, „kommunikationsförderliche Erziehungs- und Unterrichtssituationen“ herzustellen (Drave et al. 2000, 230), in denen die Schüler Interesse entwickeln, ihre sprachliche Handlungsfähigkeit zu erproben.

„Dabei können sprachtherapeutische Maßnahmen erforderlich werden, die Einsicht in erwartungsüblichen Sprachgebrauch vermitteln, die […] Erprobung und Übung sprachlichen Handelns sichern“ (Drave et al. 2000, 230).

Definition:

Sprache wird hier definiert als intentionales, partnerorientiertes, verbales und symbolisches Handeln (→ Abbildung 1).


Abb. 1: Definition sprachlicher Kommunikation (Linke et al. 2004, 173)

sprachgenerierende und sprachbegleitende Prozesse

Die Entwicklung sprachgenerierender kognitiver und sprachbegleitender sozial-emotionaler Prozesse in diesen kommunikationsförderlichen Unterrichtssituationen sowie die spezifische Sprachverwendung an sich kann direkt und indirekt pädagogisch unterstützt und gefördert werden. Eine solche sprachspezifische Unterstützung reicht von der Beratung der Bezugspersonen bis zur funktionellen Übung der Artikulation. Zwischen diesen problem-, individuum- und kontextorientierten Herangehensweisen bildete sich bisher das Handlungsfeld des Unterrichts als Hauptprofessionstätigkeit von spezialisierten Sprachpädagogen, so genannten Sprachheillehrern. Der Unterricht als zentrale Aufgabe des Sonderpädagogen unterschied sich zunächst weder bei den unterschiedlichen Förderschwerpunkten noch vom Auftrag anderer Lehrpersonen in Regelschulen.

 

Das Spezifische des Bildungsauftrages mit dem Förderschwerpunkt Sprache liegt im Fokus auf dem Sprachgebrauch der Schüler als Beobachtungs- und Reflexionsgegenstand.

Unterrichtsplanung

Die Analyse des auffälligen sprachlichen Handelns hat das Ziel, die didaktischen Anforderungen und methodischen Erfordernisse bei der Unterrichtsplanung einzuschätzen (Welling 2007, 955). In spezialisierten Schulen (z. B. Förderschulen) können dann sonderpädagogische Angebote spezifischer Sprachförderung und zusätzlicher Sprachtherapie vorbereitet und durchgeführt werden. Dort, wo Schüler mit Sprachbeeinträchtigungen am Unterricht regulärer Grundschulen teilnehmen und die Verantwortung für die Unterrichtsgestaltung vorübergehend oder vollständig bei den Grundschullehrkräften liegt, verändert sich auch das Aufgabenfeld der Sonderpädagogen mit dem Förderschwerpunkt Sprache.

Inklusion

Die Bildungssysteme in vielen europäischen Ländern stehen weiterhin vor der Aufgabe mit einer vorrangig inklusiv ausgerichteten Schulorganisation das Ziel Teilhabe an Bildung auch für Schüler mit Beeinträchtigungen zu erreichen. Die „Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD)“, die 2008 in Kraft trat, stellt dabei keine neuen Spezialrechte für Menschen mit Beeinträchtigungen dar, sondern konkretisiert die bestehenden Menschenrechte. In Deutschland wird häufig der Begriff der Behindertenrechtskonvention (BRK) verwendet. Die Behin-dertenrechtskonvention konkretisiert und erweitert die bestehenden Menschenrechte, es werden keine neuen Spezialrechte formuliert. Sie zielt auf die Schaffung von Gleichberechtigung und Selbstbestimmung ab, statt auf fremdbestimmte Fürsorge durch die Gruppe von Menschen ohne Beeinträchtigungen. Das Ziel der sozialen Inklusion bezieht sich auf die gesamte Gesellschaft, das Ziel der schulischen Inklusion auf das gesamte Bildungssystem.

Gleichberechtigung und Kindeswohl

Als zentrales inhaltliches Ziel der BRK ist erstens die Gleichberechtigung hervorzuheben. Zweitens steht das Kindeswohl im Mittelpunkt: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder mit Behinderungen betreffen, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Art. 7, Abs. 2).

Unterstützungsmaßnahmen

Das inklusive Bildungssystem soll zudem „[…] wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld [vorhalten], das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet“, bei Erhaltung des Ziels „vollständiger [sozialer] Integration“ (Art. 7, Abs. 2e). Aus diesen Artikeln lässt sich schlussfolgern, dass Bildung möglichst in einer Schule für alle organisiert sein soll bei umfänglicher (sonderpädagogischer) Unterstützung für beeinträchtigte Kinder. Von dieser Praxis sind Schulen in vielen Bundesländern in Österreich und Deutschland noch weit entfernt.

exklusive Maßnahmen

Sonderpädagogische Bildungsangebote durch zusätzliche, vorübergehend exklusive (nicht exkludierende) Maßnahmen innerhalb der Schule für alle (z. B. Kleinklassen) oder Angebote an Beratungs- und Förderzentren sind möglich, wenn sie dem Wohl des Kindes dienen und die „vollständige (soziale) Integration“ zum Ziel haben. Kindern mit Beeinträchtigungen und deren Eltern wird die Möglichkeit zur Wahl alternativer bzw. paralleler Angebote wie z. B. Förderschulen nicht verweigert, sofern sie als allgemeinbildende Schulen, die auch langfristig den Zugang in die Arbeitswelt ermöglichen, von den Schulsystemen der Länder angeboten werden. Exklusive sonderpädagogische Bildungsangebote bleiben nach den Empfehlungen der deutschen Kultusministerkonferenz (2011, 16) aber „zeitlich befristete“ Maßnahmen. Gleichzeitig wird den Förderschulen die Möglichkeit offen gehalten „sich […] für Kinder und Jugendliche ohne Behinderungen zu öffnen, um dort gemeinsames Lernen zu ermöglichen.“ Spezialisierte Schulen zur Sprachentwicklungsförderung (Sprachheilschulen) können sich weiterentwickeln zu einer allgemeinbildenden Grundschule mit einem profilierenden Programm zur sprachlichen Bildung, Unterstützung und Förderung aller Schüler (Glück/Mußmann 2009).

Perspektivenwechsel in der Sonderpädagogik

Mit dem inklusiven Schulsystem geht ein Perspektivenwechsel vom Individuum und seinen individuellen Einschränkungen hin zur behindernden physikalischen, institutionellen und personellen Umwelt einher. Für Schüler mit erschwerten Lern- und Entwicklungsbedingungen in der Sprache und Kommunikationsfähigkeit soll Chancengleichheit erreicht werden. Kinder mit z. B. Spracherwerbsstörungen, Aussprachestörungen oder Kinder die stottern, können in ihrer schulischen Bildung spezifische Barrieren erfahren. Auch sie haben daher in Regelgrundschulen einen spezifischen pädagogischen Unterstützungsbedarf.

Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, dass auch für diese Schüler in der inklusiven Schule die Adaption des Unterrichts im Mittelpunkt steht und dass diese Differenzierung der Lernangebote im Unterricht jedoch nur mit einem individualisierten Blick auf die sprachlichen und kommunikativen Möglichkeiten der Schüler möglich ist.

1.2 Das Problem inklusiver Pädagogik und exklusiver Sprachförderung

Diskussion um Inklusion

Viele Beiträge erziehungswissenschaftlicher Vertreter in der Diskussion um eine inklusive Umstrukturierung des Bildungssystems beschränken sich häufig auf schulstrukturelle und institutionelle Aspekte (Hinz 2009). In der Sprachheilpädagogik führte diese Orientierung zu Positionen und Diskursen, die sich Vorwürfen der institutionellen Bestandswahrungen und der disziplinären Strukturerhaltung ausgesetzt sahen (vgl. Motsch 2008). Lütje-Klose (1997, 17) stellte daher früh fest, dass sich die integrative Pädagogik „seit Mitte der 70er Jahre weitgehend ohne Beteiligung der Sprachbehindertenpädagogik [entwickelte].“ Ein integrativer Anspruch in der Fachrichtung reduzierte sich auf die Integration von exklusiven Techniken in den allgemeinbildenden Unterricht (vgl. Braun 1991, 211). Zwar stellte Orthmann bereits 1969 die Nachrangigkeit des Förderorts heraus, reduzierte die Entwicklung integrativer Konzepte aber auf die therapiedidaktische Frage nach den „Verbindungsstrukturen“ (Werner 1995, 111). Lütje-Klose (1997, 19) forderte daher Konzepte und individualisierte Methoden der Sprach- und Kommunikationsförderung, die „die Gemeinsamkeit aller in der Klasse – Kinder, LehrerIn und SprachpädagogIn – unterstützt statt sie zu stören.“ Diese Konzepte haben sich mittlerweile etabliert (vgl. Reber/Schönauer-Schneider 2017; Lüdtke/Stitzinger 2017; Mahlau 2018).

Unterricht und Sprachtherapie

Das Verhältnis der Handlungskategorien des Unterrichts, der individualisierten Förderung und der rehabilitativen Sprachtherapie steht seit der Konstitution der Fachrichtung im Mittelpunkt der Diskussion um das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik (Werner 2001; Baumgartner 2006; Mußmann 2011).

cross-kategorale Perspektiven

Dezidiert integrative und förderschwerpunktübergreifende bzw. sogenannte cross-kategoriale Perspektiven aus dem angloamerikanischen Bereich blieben aber in der Sprachheilpädagogik mit Ausnahme weniger Autoren (z. B. Romonath/Prüser 1995; Bindel 2007) weitgehend unberücksichtigt. Ansätze wie der Life-Related und der Life Participation Approach der angolamerikanischen Speech and Language Pathology griffen jedoch den Begriff der Inclusion für die Konzeptionierung einer Communication Therapy sehr früh auf (insbesondere Calculator/Jorgensen 1994; indirekt auch McLean/Snyder-McLean 1978; Nelson 1995; Duchan 2000). Sie konzeptionierten spezifische Methoden, die sich an den individuellen Entwicklungsbedingungen, Problemlagen und der subjektiv empfundenen Lebensqualität der Menschen mit Sprachbeeinträchtigungen orientierten. Solche Methoden sind mit Bezug auf die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der World Health Organisation (WHO 2005), im deutschsprachigen Raum erst seit einigen Jahren zu finden (z. B. Rapp 2007; Neumann/Romonath 2008; Grötzbach/Iven 2009; Kolonko/Hunziker 2013) und beschränken sich entweder auf den außerschulischen Bereich der Logopädie oder blieben in der Pädagogik bei Sprachbeeinträchtigung gerade mit Blick auf schulische Kontexte lange Zeit unbeachtet (vgl. Lüdtke/Bahr 2002).

sprachtherapeutischer Unterricht als integratives Konzept

Die lange Phase der Stagnation der Fachrichtung verwundert, da es in der Vergangenheit verschiedene empirische und theoretisch-konzeptionelle Versuche gab, substanzielle Beiträge zur Integrationsdiskussion der vergangenen Jahrzehnte zu leisten. Nicht zuletzt das Kernstück sprachheilpädagogischen Handlungswissens, das Konzept des „sprachtherapeutischen Unterrichts“, wurde von Braun implizit als integratives Konzept definiert:

„Grundsätzlich ist sprachtherapeutischer Unterricht nicht an die Schule für Sprachbehinderte gebunden, er kann auch in anderen sprachheilpädagogischen Organisationsformen praktiziert werden. Das Konzept ist institutions- bzw. lernortunabhängig“ (Braun, 2004, 50).

Vereinbarkeit von Bildungsauftrag und Therapieanspruch

Das didaktische Dilemma, Bildungs- und Heilauftrag in einer Handlungskategorie und in einer Organisationsform des Bildungssystems zu vereinen, stellte die professionstheoretische Entwicklung der Sprachheilpädagogik vor eine ressourcenaufwendige Herausforderung. Statt das störungsspezifische Reflexions- und Handlungswissen zur Identifikation der relationalen Qualität von Sprachbehinderung zu nutzen, um angepasste Bildungsangebote zu entwickeln, wurden Interventionsformen zur Eliminierung und Kompensation dieser Sprachstörungen abgeleitet, deren immanenter Bildungsanspruch nur mittelbar zu erschließen war.

integrierte Selektion

Reiser sieht in einem solchen Verständnis sonderpädagogischer Arbeit eine „Serviceleistung“, die „allzu oft in die ‚integrierte Selektion’ mündet, statt in die Unterstützung der regelpädagogischen Lehrkräfte bei der Einbeziehung der Kinder. […] Unter dem Druck der selektiven Tendenzen des deutschen Bildungssystems“ fand eine „qualitative Deformierung“ des integrativen Anspruches statt:

„Sonderpädagogen arbeiten z. B. in Grundschulen mit etikettierten Kindern in besonderen Gruppen, das heißt äußere Differenzierung als versteckte Selektion unter Firmierung Integration“ (Reiser 2003, 306).

„Ressourcen-Förderungs-Dilemma“

Damit entstand eine „Exklusivität der Disziplin Sonderpädagogik, die [die] Inklusion der Personen, die sie als ihr Klientel betrachtet, [verhindert]“ (Reiser 2003, 311). In diesem Zusammenhang diagnostizierte Hinz (2004, 245) „eine paradoxale Tendenz: Mit immer mehr Integration nehmen die Special Education Needs – in Deutschland der sonderpädagogische Förderbedarf – immer weiter (…) zu.“ Dies wurde von Füssel/Kretschmann (1993) als das so genannte „Ressourcen-Förderungs-Dilemma“ beschrieben.

pauschale Ressourcenzuweisung im inklusiven System

Um dieses Dilemma zu lösen, sollen sonderpädagogische Ressourcen für einen inklusiven Unterricht nicht mehr nach festgestelltem sonderpädagogischen Förderbedarf verteilt werden, sondern sie sollen pauschal den Schulen, gebunden an die Anzahl schulpflichtiger Kinder, zugewiesen werden. Die administrative Leitung und Organisation der Regelschule und sonderpädagogischen Unterstützung sollen in einer verantwortlichen Hand liegen; in Abhängigkeit der Gesamtschülerzahl einer Regelschule unabhängig spezifisch ermittelter Unterstützungsbedarfe „werden basale Stellenvolumen für Sonderpädagogik vorgehalten, vor allem in den Bereichen Lernen, Verhalten und Sprache“ (Preuss-Lausitz 2008, 460).

Internationale Entwicklung?

Der Sonderpädagoge mit einem Förderschwerpunkt Sprache ist in diesem Modell Mitglied des Kollegiums der Regelgrundschule und nicht mehr primär unterrichtender „Sprachheillehrer“, sondern Berater und Kooperationspartner im Regelschulteam. „Damit findet eine Annäherung der Berufsrolle an die internationale Entwicklung statt“ (Grohnfeldt/Romonath 2005, 271). Diese Entwicklung wird mit dem Einwand der De-Professionalisierung kritisch diskutiert (Motsch 2008).