Öffentliches Baurecht für Architekten und Bauingenieure

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5. Anwendung „alter“ Bebauungspläne – Regelungsgrundlagen der jeweiligen BauNVO

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Um einen Bebauungsplan richtig lesen bzw. anwenden zu können, müssen die Regelungen des Bebauungsplans im Zusammenhang mit der Baunutzungsverordnung (BauNVO) gesehen werden. Die BauNVO wird aufgrund der gesetzlichen Verordnungsermächtigung des § 9a BauGB erlassen. Daraus folgt, dass die Gemeinden bei der Aufstellung von Bebauungsplänen an die Bestimmungen der BauNVO gebunden sind und somit grundsätzlich nur solche Festsetzungen treffen können, die die BauNVO zulässt. In diesem Zusammenhang ist wiederum von Bedeutung, dass es verschiedene Fassungen der BauNVO gibt. Diese wurde zunächst im Jahr 1962 in Kraft gesetzt und dann in den Jahren 1968, 1977 und 1990 überarbeitet. Die Festsetzungen in Bebauungsplänen beziehen sich immer auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bebauungsplans geltende Fassung der BauNVO. Die aktuelle Baunutzungsverordnung wurde im November 2017 bekannt gemacht. Neu geschaffen wurde als Art der baulichen Nutzung das „urbane Gebiet“ in § 6a BauNVO.

Beispiel:

Soll in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet eine Sporthalle errichtet werden, kommt es darauf an, wann der Bebauungsplan in Kraft getreten ist und welche Fassung der BauNVO demzufolge gilt. Ist der Bebauungsplan 1965 in Kraft getreten (BauNVO 1962), wäre eine Sporthalle nur ausnahmsweise zulässig, § 8 Abs. 3 Nr.. 2 BauNVO 1962. Ist der Bebauungsplan hingegen im Jahr 2012 (BauNVO 1990) in Kraft getreten, wäre die Sporthalle in dem Gewerbegebiet allgemein zulässig, § 8 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO 1990.

6. Abweichungen von den Festsetzungen eines Bebauungsplans

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In der Praxis kommt es nicht selten vor, dass ein geplantes Vorhaben nicht vollständig mit den Festsetzungen des maßgeblichen Bebauungsplans übereinstimmt. In solchen Fällen stellt sich die Frage, ob Abweichungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans in Betracht kommen.

Fall:

Ein Architekt wird mit der Planung und Realisierung folgenden Vorhabens beauftragt: In einem durch Bebauungsplan festgesetzten Gewerbegebiet (BauNVO 1990) soll ein Gebäude für eine Paintball-Anlage errichtet werden. In dem Gebiet befinden sich bereits mehrere Vergnügungsstätten (Diskotheken, Spielhallen etc.). In den Festsetzungen des Bebauungsplans zur Art der Nutzung wird auf die BauNVO verwiesen. Außerdem soll die Höhe des Baukörpers die im Bebauungsplan festgesetzte Höhe von 6 m um 1 m übersteigen. Vergleichbar hohe Gebäude sind im Geltungsbereich des Bebauungsplans bereits genehmigt worden.

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Widerspricht ein Vorhaben den Festsetzungen des Bebauungsplans, kommt eine Zulassung des Vorhabens dennoch in Betracht, wenn für die Abweichung eine Ausnahme (§ 31 Abs. 1 BauGB) oder eine Befreiung (§ 31 Abs. 2 BauGB) erteilt werden kann.

Ausnahmen und Befreiungen unterscheiden sich dadurch, dass die Ausnahme bereits im Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen ist (planimmanente Abweichung). Die Befreiung ist hingegen eine nicht im Bebauungsplan vorgesehene Abweichung von den Festsetzungen (planexterne Abweichung). Sowohl die Ausnahme als auch die Befreiung kommt jedoch nur in Betracht, soweit es um Festsetzungen des Bebauungsplans geht. Beachte: Von dem Erfordernis einer gesicherten Erschließung des Vorhabens kann in keinem Fall abgewichen werden.

Hinweis zu Abweichungen nach dem Bauplanungsrecht (BauGB) und solchen nach dem Bauordnungsrecht (LBO):

Soll das Vorhaben nicht von Festsetzungen des Bebauungsplans, sondern von in der LBO geregelten bauordnungsrechtlichen Vorgaben abweichen (z. B. von der Anzahl notwendiger Stellplätze, § 37 LBO Baden-Württemberg), richtet sich die Zulässigkeit einer solchen Abweichung nicht nach § 31 BauGB, sondern nach einer entsprechenden Vorschrift in der LBO (§ 56 LBO Baden-Württemberg, s. a. Rn. 284 f.).

a) Ausnahmen gemäß § 31 Abs. 1 BauGB

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Nach § 31 Abs. 1 BauGB können solche Ausnahmen zugelassen werden, die in dem Bebauungsplan nach Art und Umfang ausdrücklich vorgesehen sind. Die Gemeinde kann von sämtlichen Planfestsetzungen i. S. v. § 9 BauGB Ausnahmen im Bebauungsplan zulassen. Dabei ist die BauNVO heranzuziehen, die für sämtliche Baugebietstypen bestimmt, welche Nutzungen ausnahmsweise zulässig sind. Dies ist jeweils im Abs. 3 der entsprechenden Vorschriften geregelt (§§ 2 bis 9 BauNVO). Die dort geregelten Ausnahmen werden automatisch Bestandteil des Bebauungsplans, es sei denn, dies wird durch den Bebauungsplan ausdrücklich ausgeschlossen, § 1 Abs. 3 Satz 2 BauNVO. Wie sich aus der Formulierung in § 31 Abs. 1 BauGB (Ausnahmen können zugelassen werden) ergibt, steht die Entscheidung über die Erteilung einer Ausnahme im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.

b) Befreiungen gemäß § 31 Abs. 2 BauGB

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Sieht der Bebauungsplan selbst keine Abweichungsmöglichkeit vor, kann die Abweichung durch eine Befreiungsentscheidung der Behörde ermöglicht werden. Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans können gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gewährt werden, wenn

– die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und

– die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist und

– ein Befreiungsgrund gegeben ist, nämlich entweder

– Gründe des Wohls der Allgemeinheit die Befreiung erfordern oder

– die Abweichung städtebaulich vertretbar ist oder

– die Durchführung des Bebauungsplans zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte führen würde.

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Eine Befreiung setzt also zunächst voraus, dass die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept, das sich aus dem Bebauungsplan samt seiner Begründung nachvollziehbar ergeben muss, zuwiderläuft. Die Grundzüge der Pla nung werden jedenfalls dann berührt, wenn für die Abweichung in quantitativer oder qualitativer Hinsicht eine Planänderung erforderlich wäre, wenn also dieses Grundkonzept ganz oder teilweise aufgehoben würde.

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Die Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen setzt zweierlei voraus: Durch das Merkmal der öffentlichen Belange soll sichergestellt werden, dass nicht in den im Bebauungsplan erreichten Interessenausgleich zwischen öffentlichen und privaten Belangen eingegriffen wird. Zugleich dürfen mit einer Befreiung nachbarliche Interessen nicht unzumutbar beeinträchtigt werden.

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Zu den drei Befreiungsgründen:

Gründe des Allgemeinwohls erfordern eine Befreiung dann, wenn es zur Wahrnehmung eines bestimmten Gemeinwohlinteresses geboten ist, mithilfe der Befreiung das Vorhaben an der vorgesehenen Stelle zu verwirklichen (beispielsweise bei Schulen, Kindergarten, Krankenhäusern).

– Das Kriterium der städtebaulichen Vertretbarkeit ist dann erfüllt, wenn die Abweichung einen nach § 1 Abs. 6, § 9 BauGB zulässigen Inhalt eines Bebauungsplans aufweist. Dieser Befreiungsgrund weist eine inhaltliche Schnittmenge mit der Befreiungsvoraussetzung „Grundzug der Planung“ auf.

– Die Voraussetzungen einer offenbar nicht beabsichtigten Härte dürfte nur in den seltensten Fällen gegeben sein. Ein „Härtefall“ liegt nur dann vor, wenn aufgrund der Regelungen des Bebauungsplans ein Grundstück aufgrund seiner Lage, Größe oder seines Zuschnitts nicht oder nur höchst begrenzt baulich nutzbar wäre (z. B. wenn sich ein nicht überbaubarer Untergrund an der Stelle befindet und das Bauen im zulässigen Baufenster einschränkt, was bei der Planaufstellung so nicht erkannt worden ist).

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Auch die Befreiungsentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen („kann“) der Behörde. Die Behörde wird allerdings eine Entscheidung für eine Befreiung insbesondere dann in Blick nehmen müssen, wenn sie im Geltungsbereich des gleichen Bebauungsplans in vergleichbaren Konstellationen bereits Befreiungen erteilt hat; denn dies gebietet der Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 Abs. 1 GG.

Lösung:

Im Hinblick auf die Art der Nutzung ist für eine Paintball-Anlage zu prüfen, ob es sich hierbei um eine Anlage für sportliche Zwecke oder um eine Vergnügungsstätte handelt. Eine Anlage für sportliche Zwecke wäre in einem Gewerbegebiet gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO allgemein zulässig. Sollte eine Paintball-Anlage hingegen als Vergnügungsstätte zu qualifizieren sein, wäre eine solche gemäß § 8 Abs. 3 Nr. 3 BauNVO nur ausnahmsweise zulässig. In diesem Fall müsste die Behörde eine Ermessensentscheidung dazu treffen, ob sie eine Ausnahme gewährt. Da aller dings im Geltungsbereich des gleichen Bebauungsplans bereits Vergnügungsstätten genehmigt worden sind, spricht einiges dafür, dass die Behörde eine Ausnahme erteilen wird.

Im Hinblick auf die geplante Höhe des Gebäudes kommt eine Ausnahme i. S. v. § 31 Abs. 1 BauGB nicht in Betracht, weil der Bebauungsplan insoweit keine Ausnahmeregelung enthält. Eine Genehmigung der von der Festsetzung im Bebauungsplan abweichenden Höhe kommt nur als Befreiung i. S. v. § 31 Abs. 2 BauGB in Betracht. Ob ein um 1 m höheres Gebäude die Grundzüge der Planung berührt, wird nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls festgestellt werden können. Der Umstand, dass in dem Bebauungsplangebiet bereits mehrfach höhere Gebäude zugelassen worden sind, könnte dafür sprechen, dass die „Höhenfestsetzung“ keinen Grundzug der Planung darstellt. In diesem Fall wäre dann auch die weitere Voraussetzung, nämlich städtebauliche Vertretbarkeit, erfüllt. Hingegen könnten für eine Befreiung keine Allgemeinwohlgründe angeführt werden. Auch wenn die Paintball-Anlage der Allgemeinheit zugänglich sein soll, handelt es sich dabei doch nicht um eine Einrichtung, die im Allgemeinwohlinteresse steht. Es liegt auch kein Fall einer unbeabsichtigten Härte vor. Mit diesem Kriterium soll nicht eine (aus Sicht des Bauherrn) optimale Bebaubarkeit, sondern nur die grundsätzliche Möglichkeit zu Bebauung abgesichert werden. Soweit eine Abweichung von der „Höhenfestsetzung“ auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen einer Befreiung vor und die Behörde muss eine Ermessensentscheidung treffen. Da die Behörde im Geltungsbereich des gleichen Bebauungsplans bereits Höhenüberschreitungen vergleichbarer Art genehmigt hat, spricht viel dafür, dass die Behörde auch in diesem Fall eine Befreiung erteilen wird.

 

III. Die Baunutzungsverordnung

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Das zuständige Bundesministerium hat mit der Ermächtigung im BauGB, vgl. dazu § 9a, die Möglichkeit, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates zu erlassen. Für die Praxis besonders wichtig sind

– die Planzeichenverordnung, die aufgrund des § 9a Nr. 4 BauGB erlassen wurde, und

– die Baunutzungsverordnung, Grundlage zum Erlass: § 9a Nr. 1 a bis c BauGB.

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Die Planzeichenverordnung sichert, dass jeder Bauleitplan einheitliche Farbgebungen und Zeichen verwendet. Jedermann kann in der Verordnung nachsehen, was eine farbliche oder zeichnerische Angabe bedeutet. Somit ist eine eindeutige Lesbarkeit in jedem Bauleitplan gewährleistet.

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Besonders relevant im Planungsrecht ist die Baunutzungsverordnung, BauNVO. Durch sie werden die zentralen Vorgaben des BauGB ergänzt und detaillierter erklärt. Sie ist beim Vorliegen eines Bebauungsplans stets heranzuziehen, teilweise auch bei Vorhaben im Innenbereich (vgl. § 34 Abs. 2 BauGB – d. h. möglicherweise bei der Art der baulichen Nutzung). Aktuell ist die BauNVO in der Neufassung vom 21. November 2017 in Kraft. Änderungen der letzten Jahre, z. B. zu Kindertagesstätten, Klimaschutz, und der neuen Nutzungsart eines urbanen Gebietes finden sich hier.

1. Bedeutung der BauNVO

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Der Schutz der Menschen, die Möglichkeit der Ansiedlung von Gewerbe und Industrie oder die Beachtung historisch gewachsener Dorfstrukturen, um nur einige Beispiele zu nennen, sind unterschiedliche Themen, die im Baurecht geregelt werden müssen, um den sich widerstreitenden Interessen gerecht zu werden. Als in Deutschland mit dem Beginn der Industrialisierung Wohnungen und produzierendes Gewerbe dicht an dicht entstanden, zeigten sich schnell die Probleme. Unzureichende Wohnverhältnisse, schlechte Luft, Gefahren durch Brände, Spekulation betreffend die Bauflächen sind nur einige Schlagworte, die Auswirkungen auf rechtliche Regelungen im Baurecht ausgelöst haben. Ungeordnete Bebauung, beispielsweise auch bei Hinterhöfen in Großstädten, war alles andere als das, was man eine geordnete Entwicklung nennen konnte. Die damit verbundenen Probleme mussten angegangen werden, wobei zunächst überwiegend die Verhinderung von Gefahren (z. B. durch Brände) im Vordergrund stand. Die tatsächliche Entwicklung in den Kommunen führte dennoch oftmals zu einer städtebaulichen Fehlentwicklung. Um die Situation in den Griff zu bekommen, gab es Überlegungen, ordnend einzugreifen. Eine der zentralen Bestimmungen etwa war das Fluchtliniengesetz in Preußen von 1875. Dort sollten durch die Festsetzung von Straßenfluchtlinien und -breiten Gefahren für die Gesundheit der Menschen verringert werden. Entsprechende Abstände sorgen nämlich für eine ausreichende Belichtung und Belüftung. Insgesamt wurde auch in dem Zusammenhang schon der Begriff der Funktionstrennung genannt. Dies bedeutet: möglichst störende und nicht störende Bereiche trennen und dazwischen Puffer schaffen. Eine industrielle Nutzung soll also nicht unmittelbar neben einem Wohnbereich sein, um ein Bespiel dieser Funktionstrennung zu nennen.


Abb. 20: Wohngebiet mit Kiosk/Lebensmittelgeschäft.

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Heute sollen insbesondere die Bebauungspläne die städtebauliche Ordnung regeln, vgl. § 1 Abs. 5 BauGB. Im Baugesetzbuch wurde aber nicht abschließend geregelt, welche Konkretisierungen durch die möglichen Festsetzungen im Bebauungsplan entstehen. Dies änderte sich mit dem Erlass der ersten Baunutzungsverordnung im Jahr 1962. Seither wurde die Baunutzungsverordnung mehrfach, zum Teil recht weitreichend, geändert. Eine Neufassung gab es jeweils 1968 und 1977. Zentral war die Änderung im Jahr 1968 zu großflächigem Einzelhandel in § 11 BauNVO. Ergänzungen kamen mit dem „Gesetz zur Stärkung der Innenentwicklung in den Städten und Gemeinden und weiteren Fortentwicklung des Städtebaurechts“ im Jahr 2013. Vor allem das in der Praxis relevante Thema der Kindertagesstätten in reinen Wohngebieten war ein zentraler Punkt. Für den Klimaschutz ist die Zulassung von Solaranlagen und KWK-Anlagen (Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen) wichtig und nun geregelt. Eine ganz zentrale Bedeutung hat der im Jahr 2017 eingeführte Gebietstyp nach § 6a BauNVO. Die urbanen Gebiete sollen eine Nutzungsmischung zwischen Wohn-/Arbeitsstätten- und Freizeitnutzung bei gleichzeitig verdichteter Bebauung ermöglichen unter der Prämisse eines ggf. etwas erhöhten Störpotenzials.


Abb. 21: Gebäude mit Photovoltaikanlage.

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Bei der Frage nach der Zulässigkeit eines Bauvorhabens ist zunächst die BauNVO heranzuziehen, die zum Zeitpunkt des Erlasses des Bebauungsplans galt (s. a. Rn. 86). Ein Bebauungsplan, der von vor 2017 stammt, hat also die damals geltende BauNVO zu beachten. Durch die diversen Änderungen kann es bauleitplanerisch teilweise zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen. Daher muss darauf geachtet werden, dass die „richtige“ BauNVO zum Lesen des Bebauungsplans herangezogen wird. Die Städte und Gemeinden sind ggf. aufgefordert, den „alten“ Bauleitplan an die neuen Vorgaben der BauNVO anzupassen, was i. d. R. vor allem beim Maß der baulichen Nutzung relevant ist.

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Die zentralen Vorgaben der BauNVO betreffen die Art und das Maß der baulichen Nutzung. Die Fragen „Was darf wo realisiert werden (Art) und in welcher Größe (Maß)?“ spielen in der Praxis die zentrale Rolle. Damit werden Details zu den Festsetzungen eines Bebauungsplans gegeben. Hinzu kommen noch die Vorschriften zur Bauweise und Überleitungsvorschriften. Letztere sind bei Novellierungen der BauNVO wichtig, um zu erkennen, welche alten oder neuen Regelungen noch oder ab wann gelten.

Beispiel:

In einem reinen Wohngebiet ist nur Wohnen zulässig. Was meint „Wohnen“ im Sinne der BauNVO? Die Rechtsprechung hat zum im Gesetz nicht näher definierten Begriff des „Wohnens“ Merkmale entwickelt. Danach ist ein Wohnen dann gegeben, wenn es

auf Dauer angelegt ist,

eine Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises vorliegt und

der Aufenthalt freiwillig ist.

Was ist, wenn ein (Alten-)Pflegeheim in einem solchen Gebiet errichtet werden soll? Wohnt man dort oder ist die Pflege etwas anderes? In einer solchen (sozialen) Einrichtung werden Menschen betreut und an einem oder mehreren Merkmalen des Begriffs „Wohnens“3 könnte es fehlen. Die Nutzungsart des Gebäudes wäre dann keine Wohnnutzung mehr, sondern es handelt sich dann um eine Anlage für soziale Zwecke. Diese ist allenfalls ausnahmsweise im reinen Wohngebiet zulässig. Um diesen Streitpunkt abschließend zu lösen, wurde die BauNVO geändert und mit § 3 Abs. 4 festgelegt, dass zu den zulässigen Wohngebäuden auch solche gehören, die der Betreuung und Pflege der Bewohner dienen.

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Was die Bauweise betrifft, sind die §§ 22 und 23 BauNVO einschlägig.

Die offene Bauweise (Länge bis max. 50 m, § 22 Abs. 2 Satz 2 BauNVO) unterscheidet sich von der geschlossenen Bauweise (Häuserfront über 50 m). Eine geschlossene Bauweise bedeutet somit, dass man an die seitlichen Grundstücke zu bauen hat, wohingegen bei der offenen Bauweise die Abstände zu den Nachbargrundstücken relevant sind. Die weiteren Einzelheiten sind ohne Weiteres dem Verordnungstext der BauNVO zu entnehmen. Wichtig ist, dass auch abweichende Bauweisen im Bebauungsplan möglich sind, vgl. § 22 Abs. 4 BauNVO.


Abb. 22: Wohngebiet in offener Bauweise.


Abb. 23: Beispiel einer geschlossenen Bebauung über mehrere Grundstücksgrenzen hinweg.

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Die Flächen, die bebaut werden dürfen, können durch Baulinien, Baugrenzen oder Bebauungstiefen im Bebauungsplan festgesetzt werden; dies regelt § 23 Abs. 1 BauNVO. Was eine Baulinie ist, ergibt sich aus § 23 Abs. 2 BauNVO, eine Baugrenze ist in Abs. 3 näher bestimmt und die Bebauungstiefe in Abs. 4.

Aber woran erkennt man diese im Bebauungsplan? Hier hilft die Planzeichenverordnung.

Sie hilft generell beim Lesen von Bauleitplänen. Im Folgenden einige Beispiele aus der Planzeichenverordnung.

Auszug aus der Planzeichenverordnung:


Abb. 24: Baulinie und Baugrenze: zeichnerische Darstellung in schwarz/weiß und farbig, vgl. Anlage zur Planzeichenverordnung Nr. 3.4. Erklärung zur Baulinie: auf der Linie ist grundsätzlich zu bauen, vgl. § 23 Abs. 2 BauNVO. Erklärung zur Baugrenze: diese Grenze darf grundsätzlich nicht überschritten werden, man kann aber auch dahinter zurückbleiben, vgl. § 23 Abs. 3 BauNVO.


Abb. 25: Flächen für Gemeinbedarf, Anlage zur Planzeichenverordnung, Nr. 4.1


Abb. 26: Grünflächen, Anlage zur Planzeichenverordnung, Nr. 9

2. Art der baulichen Nutzung

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Bei der Art der baulichen Nutzung geht es darum, was in einem Gebiet verwirklicht werden kann – bezogen auf den „Inhalt“ des Gebäudes (z. B. Wohnen, Gewerbe). Der erste Abschnitt der BauNVO befasst sich mit der Art der baulichen Nutzung. Dabei spielt der bereits erwähnte Trennungsgedanke eine zentrale Rolle. Der Aufbau in der BauNVO, bezogen auf die Art, verläuft – vereinfacht ausgedrückt – von einem Gebiet mit wenig Störpotenzial hin zu einem Gebiet mit deutlich höherem Störpotenzial für die Umgebung und die Menschen.

 

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Die Einstiegsvorschrift ist § 1 BauNVO. Dort wird nach den Flächen im vorbereitenden Bauleitplan (Flächennutzungsplan = FNP) und dem verbindlichen Bauleitplan (BP) unterschieden. Der folgende Auszug aus der BauNVO gibt dazu eine Übersicht.

Für den Flächennutzungsplan (also vorbereitende Bauleitplanung) sind gröbere Angaben ausreichend als für einen Bebauungsplan (verbindliche Bauleitplanung). Daher kennt § 1 Abs. 1 BauNVO für den Flächennutzungsplan nur vier Gruppen (Bauflächen). Bei der Konkretisierung für die Bebauungspläne werden detailliertere Baugebiete zugelassen (insgesamt 11 Gebietstypen, wobei es allerdings zwei verschiedene Arten von Sondergebieten gibt, vgl. § 1 Abs. 2, §§ 10, 11 BauNVO).

Auszug aus der Baunutzungsverordnung:

§ 1 Allgemeine Vorschriften für Bauflächen und Baugebiete

(1) Im Flächennutzungsplan können die für die Bebauung vorgesehenen Flächen nach der allgemeinen Art ihrer baulichen Nutzung (Bauflächen) dargestellt werden als


1. Wohnbauflächen (W)
2. gemischte Bauflächen (M)
3. gewerbliche Bauflächen (G)
4. Sonderbauflächen (S).

(2) Die für die Bebauung vorgesehenen Flächen können nach der besonderen Art ihrer baulichen Nutzung (Baugebiete) dargestellt werden als


1. Kleinsiedlungsgebiete (WS)
2. reine Wohngebiete (WR)
3. allgemeine Wohngebiete (WA)
4. besondere Wohngebiete (WB)
5. Dorfgebiete (MD)
6. Mischgebiete (MI)
7. Urbane Gebiete (MU)
8. Kerngebiete (MK)
9. Gewerbegebiete (GE)
10. Industriegebiete (GI)
11. Sondergebiete (SO)

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Die Art der baulichen Nutzung regeln die §§ 1 bis 15 BauNVO. Während in § 1 BauNVO abschließend die Möglichkeiten für die Flächenausweisung (Bauflächen, § 1 Abs. 1 BauNVO) im Flächennutzungsplan bzw. die Baugebietsflächen (§ 1 Abs. 2 BauNVO) im Bebauungsplan aufgelistet werden, sind Einzelheiten zu den Gebieten (Gebietstypen) in den §§ 2 bis 11 BauNVO geregelt.

Ergänzend und praxisrelevant sind die Möglichkeiten, die sich aus den §§ 1 Abs. 3 bis 10 BauNVO ergeben. Sie ermöglichen eine Flexibilität bei der Bauleitplanung, um einzelnen Vorstellungen bei der Planung und Bedürfnissen für die Praxis nachkommen zu können.

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Die Art der baulichen Nutzung hat sich in den jeweiligen Baunutzungsverordnungen weiterentwickelt. Gesellschaftliche Vorstellungen spielen hierbei ebenso eine Rolle wie das Verhindern von städtebaulichen Fehlentwicklungen. Beispielsweise ist das gesellschaftliche Bedürfnis im Hinblick auf Kindertagesstätten in Wohngebieten mit der Novellierung 2013 aufgenommen worden. Nach § 3 Abs. 2 BauNVO sind sie nun planerisch allgemein zulässig – trotz des „Lärms“, vgl. dazu ergänzend auch die im Jahr 2011 eingeführte Vorschrift des § 22 Abs. 1a Bundesimmissionsschutzgesetz, wonach Lärm, verursacht durch Kinder in Kindertageseinrichtungen und auf Kinderspielplätzen, regelmäßig nicht als schädliche Umwelteinwirkung im Sinne des Immissionsschutzes gilt.

Ein weiteres Beispiel für geänderte Vorstellungen zu einer städtebaulichen Entwicklung ist das Thema großflächiger Einzelhandel. Um eine Steuerung vornehmen zu können und damit Fehlentwicklungen zu verhindern, ist etwa die Änderung im Sondergebiet nach § 11 BauNVO zu nennen, wo die Vermutungsgrenze für großflächige Handelsbetriebe heute eine andere Regelung (Geschossfläche von mehr als 1.200 qm) beinhaltet als früher.

Und mit der Schaffung des Gebietstyps „Urbane Gebiete“ soll die Wohn- und Geschäftsnutzung sowie Freizeitbereiche auf engem Raum ermöglicht werden, was insbesondere in den größeren Städten an Bedeutung gewinnen dürfte.

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Der Aufbau der einzelnen Gebietstypen der BauNVO nach den §§ 2 bis 11 BauNVO ist systematisch und einfach zu merken:

Der erste Absatz beschreibt den jeweiligen Gebietstyp (allgemeine Zweckbestimmung). Absatz zwei gibt sodann Beispiele der typischerweise in dem Gebiet vorhandenen bzw. zulässigen Nutzungsarten. Im dritten Absatz sind mögliche Ausnahmen beschrieben. Was die Ausnahmen betrifft, muss im Bebauungsplan etwas dazu gesagt werden, sofern diese ausgeschlossen oder nur in einem bestimmten Umfang zulässig sein sollen.


Abb. 27: Auszug aus einem Bebauungsplan – Ausnahmevorgaben.

Abweichungen im Sinne von Ergänzungen zu dem zuvor beschriebenen allgemeinen Aufbau enthalten z. B. § 3 BauNVO mit seinem Absatz 4 und die Vorschriften für die Sondergebiete (§§ 10 und 11 BauNVO).

An einem Beispiel soll die Relevanz der Systematik der BauNVO verdeutlicht werden:

Ein aktueller Bebauungsplan enthält u. a. als Regelung „WA“, also ein allgemeines Wohngebiet, vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 3 und § 4 BauNVO. Der Plan enthält aber auch Folgendes: Im Baugebiet ist die ausnahmsweise Zulassung von Tankstellen ausgeschlossen. Ein Investor möchte aber eine Tankstelle errichten.

Bei der Klärung der Zulässigkeit des Bauvorhabens ist zunächst zu fragen, welche BauNVO Anwendung findet. Bei einem aktuellen Plan ist es die BauNVO in der Bekanntmachung von 2017. Dort regelt § 3 das Weitere:

– Nach Absatz 1 (Gebietsbeschreibung) wird das Bebauungsplangebiet überwiegend zum Wohnen genutzt.

– Nach Absatz 2 sind neben Wohngebäuden u. a. auch Geschäfte zulässig, die der Versorgung der dort lebenden Menschen dienen sollen. Dazu gehören beispielsweise Speiselokale oder auch die Eckkneipe.

Bei solchen Nutzungen handelt es ich um Nebennutzungen, die im allgemeinen Zusammenhang mit dem Wohnen zu sehen sind und keine wesentlichen Störungen für ein (relativ) ruhiges Wohnen darstellen.

– Absatz 3 enthält eine Aufzählung von Nutzungsarten, die ausnahmsweise zulässig sind. Ausnahmen sind dann zulässig, wenn sie die Eigenart des Gebietes nicht beeinträchtigen, also etwa Störungen verursachen, die in ein anderes Plangebiet gehören.

Tankstellen umfassen neben den Zapfsäulen auch dazugehörende Einrichtungen wie ein Kassenhäuschen, aber ggf. auch eine kleine Halle für Wagenwäsche oder Reparaturarbeiten. Der Bebauungsplan kann solche Ausnahmen nach § 1 Abs. 6 BauNVO ganz ausschließen oder beschränken bzw. insgesamt steuern (vgl. dazu auch Absätze 7 bis 9 des § 1 BauNVO). Dabei müssen städtebauliche Gründe im Sinne des Trennungsgedankens beachtet werden. Wird der Zweck des festgesetzten Gebiets in seinem Charakter durch die geplante Nutzung so gestört, dass es mit diesem nicht mehr vereinbar ist? Wird z. B. das Störpotenzial (Lärm, Immissionen) dadurch so hoch (oder so stark reduziert), dass für das konkrete Gebiet eine Veränderung erfolgen würde, die nicht mit dem Gedanken der Gebietseinteilung vereinbar ist?

Im vorliegenden Fall wäre der Ausschluss der Tankstelle grundsätzlich möglich. Es sollte aber im Bebauungsplan eine Ausführung dazu geben, um die planerischen Gedanken nachvollziehen zu können und um zu sehen, welche Gesichtspunkte in die Abwägung bei der Aufstellung des Bebauungsplans Einzug fanden.

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Zur Art der baulichen Nutzung gehören auch die Vorschriften der §§ 12 und 14 BauNVO. Diese befassen sich mit der Zulässigkeit von Abstellplätzen für Fahrzeuge bzw. Nebenanlagen. Flächen für Fahrzeuge sind grundsätzlich bauplanungsrechtlich ausweisbar, allerdings sind hierzu die jeweiligen Vorschriften des Landesrechts (dort: der Landesbauordnungen) heranzuziehen. Es gibt im Hinblick auf die Anzahl von Stellplätzen, die für Bauvorhaben notwendig sind, unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern (vgl. z. B. für Baden-Württemberg § 37 Abs. 1 LBO, wonach für jede Wohnung grundsätzlich ein Kfz-Stellplatz notwendig ist).

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§ 14 BauNVO spricht von Nebenanlagen. Damit sind solche Anlagen oder Einrichtungen gemeint, die einen baurechtlichen Bezug haben und letztlich als bauliche Anlage beschrieben werden können. Sie dürfen im Vergleich zur Hauptanlage nur untergeordnet sein. Auch haben sie einen engen Bezug zur Hauptanlage und dürfen für den Gebietscharakter keine weiteren Störungen hervorrufen. Typische Beispiele für Nebenanlagen sind Geräteschuppen, Antennen oder Einfriedungen (Höhenfestsetzungen sind zulässig).

Für Versorgungseinrichtungen liefert Abs. 2 nähere Vorgaben. Abs. 3 ist im Zusammenhang mit den Klimaschutzvorstellungen zu sehen und lässt Solar- und Photovoltaikanlagen als Nebenanlagen zu, wenn die gewonnene Energie vorrangig ins öffentliche Stromnetz eingespeist wird.

Auch Stellplätze bzw. Garagen (oder Carports) sind Nebenanlagen, aber für diese ist § 12 BauNVO die speziellere Vorschrift im Sinne des Bauplanungsrechts.

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Eine weitere Vorschrift im Rahmen der Art der baulichen Nutzung ist § 13 BauNVO, der in der Praxis oftmals eine entscheidende Rolle spielt. Diese Vorschrift ermöglicht für Freiberufler und vergleichbare Berufe die Ausübung ihrer Tätigkeit in Räumen oder dem ganzen Gebäude, selbst wenn dieses eigentlich nicht typisch für das entsprechende Plangebiet ist. Zu beachten ist, dass in reinen, allgemeinen und besonderen Wohngebieten (§§ 2 bis 4 BauNVO) nur Räume, in den Gebieten nach §§ 4a bis 9 BauNVO aber auch das ganze Gebäude für Freiberufler genutzt werden darf.

Die Vorschrift des § 13 BauNVO soll z. B. eine individuelle geistige Leistung oder besondere Fertigkeiten dort in ihrer Ausübung zulassen, wo die Vereinbarkeit mit dem Gebietscharakter gegeben ist. Das durch die entsprechende Tätigkeit entstehende Störpotenzial kann hingenommen werden, insbesondere auch was den An- und Abfahrtsverkehr zu oder von dem Freiberufler bzw. in ähnlicher Weise Tätigen betrifft.