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An meine verlorene Schwester

Mein geliebtes Schwesterherz,

heute jährt sich wieder einmal der Tag, an dem Du plötzlich verschwunden bist. Damals konnte ich es nicht begreifen, warum Du gingst. Doch heute, nach so vielen Jahren und mittlerweile selbst Mutter, weiß ich, wie sehr Du unter der Ablehnung meiner Mutter – Deiner Ersatzmutter – gelitten haben musst. Ich wünschte, ich könnte Dir die Liebe zurückgeben, die Dir vorenthalten wurde. Wo bist Du? Wer bist Du geworden? Ich wünsche mir so sehr, dass Du mit mir Kontakt aufnehmen würdest und erleben könntest, wie sehr Dich meine Familie umarmen würde. Ich habe Dich immer geliebt und bete für Dich. Deine Schwester Karina Marie.

Marc legte den Brief nachdenklich zurück.

Welche Gründe mochte Marie für ihr Schweigen gehabt haben, da sie beide doch immer über alles geredet hatten? Vielleicht sollte er irgendwann einmal nach dieser Sarah Hansen im Irak suchen. Irgendwann.


Hassan Schirazi, der Präsident und Regierungschef des Irans bekam von seinem Sekretär die telefonische Nachricht:

»Der Präsident der USA möchte Sie gern sprechen und lässt anfragen, ob das so kurzfristig möglich sei.«

»Geben Sie durch, ich freue mich!«

Dass beide Präsidenten inzwischen fast freundschaftlich sprachen, war seit dem aufgeklärten Verrat des ehemaligen obersten Kommandeurs der Revolutionsgarden, Ali Naz, möglich geworden. Schirazi hatte nach dem Attentat auf die SUNDOWNER dem amerikanischen Präsidenten Summerhill einen versteckten Hinweis gegeben, und der Iran hatte den anschließenden Vergeltungsschlag in Ahvaz billigend in Kauf genommen.

Danach brach eine neue Ära in der Beziehung beider Länder an. Der parteilose Präsident George F. Summerhill hatte sämtliche Sanktionen gegen den Iran aufgehoben, obwohl der längst über atomar bewaffnete Topol-M-Interkontinentalraketen verfügte. Aber die USA hielten sich mit Summerhill konsequent aus den aktuellen Konfliktherden der Welt heraus. Dafür waren sie für die Selbstverteidigung zu Land, Wasser, Luft und im All so gut geschützt wie kein anderes Land in der Welt.

Summerhill bevorzugte es, mit der einstigen Achse des Bösen, zu der auch der Iran gezählt hatte, zu kommunizieren und die Zusammenarbeit kulturell und wirtschaftlich zu fördern.

Diese positive, bilaterale Entwicklung hatte auch Schirazi den Rücken gestärkt. Nie hatte ein iranischer Regierungschef unter dem neuen Staatsoberhaupt und zugleich obersten Religionsführer der Islamischen Republik so viel Handlungsfreiheit wie er. Und auch die Macht des regulären Militärs war nach dem Verrat von Ali Naz gestiegen, wie die der Revolutionsgarden gleichzeitig gesunken war. Der fanatische Ali Naz wollte Israel vernichten und den Iran stärken. Das Erstere hatte er nicht erreicht, das Letztere wohl. Doch nur, weil Menschen besonnen gehandelt hatten, insbesondere der US-Präsident, der sich nicht hatte erpressen lassen, weder von Ali Naz noch von Israel und auch nicht von den Falken in seinem eigenen Lager, die den Vernichtungskrieg gegen den Iran wollten.

Trotzdem wusste Schirazi, war Summerhill alles andere als naiv. Sein Geheimdienst CIA war so stark wie nie zuvor.

»Guten Tag, Präsident Schirazi, schön, dass Sie Zeit für mich haben.«

Seitlich am Schreibtisch im Oval Office saß John F. Martin, Summerhills langjähriger Stabschef und Vertrauter. Der hatte ihm gerade einen CIA-Bericht über das Attentat in Hamburg gegen die Ehefrau des Marc Anderson vorgelegt.

Summerhill kannte beide persönlich von der Ordensverleihung im Weißen Haus. Wenn er einem Menschen zutiefst zu Dank verpflichtet war, dann diesem sympathischen Deutschen, der in einer spektakulären Unterwasseroperation mit seinem Team zur SUNDOWNER getaucht war, um seine Frau Karina Marie zu retten und damit auch die Familie des Präsidenten. Und nun war diese junge Frau bestialisch ermordet worden, vermutlich ein Racheakt. Summerhills Familie, insbesondere seine Tochter und damalige Schiffsgeisel Jane, war vollkommen entsetzt. Jane hatte die Schiffs-Hotelmanagerin Karina Marie als schwangere Frau kennen- und schätzen gelernt. Besonders sie konnte diesen sinnlosen Tod nicht begreifen und schon gar nicht den Raub des Kindes.

»Es ist mir immer wieder eine Freude und Ehre, Mr. President«, antwortete Schirazi.

»Wie geht es dem Iran? Ich höre, die Wirtschaft läuft gut und die Menschen sind zufrieden wie nie. Verraten Sie mir Ihr Zaubermittel!«

»Das muss ich wahrlich nicht, Mr. President. Das haben wir von Ihnen gelernt. Seit Sie Ihrem Land voranstehen, hat sich die Welt zum Guten verändert. Ihre positive intensive Strahlkraft zieht unaufhörlich über den ganzen Globus.«

»Wir haben nur den einen«, sagte Summerhill, »vergessen wir nicht, wir sind eine Menschenfamilie unter einem Schöpfer.«

Der Stabschef fand es interessant, dass dieser kurze Dialog, in dem Summerhill natürlich den Gott der Juden meinte, und Schirazi seinen Gott Allah, überhaupt nicht zu einem Disput führte, sondern religiöse Toleranz auch hier das Miteinander prägte.

Genau diese Toleranz und Weitsicht liebten die Amerikaner an ihrem parteilosen Präsidenten. Summerhill hatte die wirklichen Werte der amerikanischen Verfassung wiederbelebt. Er forcierte in seiner Politik das Prinzip der Humanität gegenüber allen Menschen wie kein anderer US-Präsident zuvor. Rassismus und Ausgrenzungen lehnte er strikt ab. Mit zunehmendem Wohlstand verflachte auch in den beiden politischen Lagern der vormalige gegenseitige Hass. Die Bürger sorgten sich schon jetzt um die Zeit nach dem Ausscheiden dieses Ausnahmepräsidenten.

Denn noch spürten sie die Nachwirkungen jenes korrupten und hochgradig narzisstischen Präsidenten, der als Geschäftsmann die USA heruntergewirtschaftet und die Außenbeziehungen im vermeintlich nationalen Interesse verspielt hatte. Heute empfand es die Mehrheit im Land als ein nationales Glück, dass jener Präsident in seiner zweiten Amtszeit nach der wiederholten sexuellen Belästigung von Frauen im Oval Office sowie nach hysterischen Ausbrüchen im Internet und vor allem nach der öffentlichen Androhung eines Dritten Weltkrieges aus dem Amt entfernt und die Amtsunfähigkeit mit Durchsetzung des 25-sten Verfassungszusatzes als dauerhaft erklärt wurde. Ein Vorgang, der in der Geschichte der USA niemals zuvor zur Anwendung kam.

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Präsident Schirazi. Was halten Sie davon, wenn wir gemeinsam ein Manöver zum Schutz der Straße von Hormus durchführen und zwar zusammen mit den Anrainerstaaten? Das dürfte ein starkes Signal sein. Was denken Sie?«

»Natürlich bin ich darüber sehr erfreut, Mr. President, außerordentlich erfreut! Es wäre neben unserer hervorragenden Zusammenarbeit in den Vereinten Nationen wieder ein neuer Meilenstein in unserer guten Beziehung. Selbstverständlich muss ich den Vorschlag, den ich schon jetzt historisch nennen möchte, intern absprechen.«

Das war dem US-Präsidenten vollkommen klar, zumal mit den Anrainerstaaten Saudi-Arabien, Kuweit, Bahrain, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und der Oman gemeint waren. Und darum ging es vor allem. Weniger um die Sicherung des wichtigen Versorgungsweges durch das dreißig Seemeilen enge Nadelöhr, sondern eben um die Befriedung festgefahrener Rivalitäten in der Region rund um den Persischen Golf und den Golf von Oman.

Summerhill schuf umgehend Fakten: »Falls der Iran dem zustimmen könnte, würde ich zeitnah eine Besprechung unserer Generalstabschefs vorschlagen, vorzugsweise in Katar auf der Al Udeid Air Base, aber auch an einem Ort Ihrer Wahl. Ich rege auch an, dass wir beide uns im Zuge dieses Projektes einmal persönlich kennenlernen, um das Vorhaben öffentlich bekanntzugeben. Was halten Sie davon?«

»Nichts wäre mir lieber, Mr. President. Ich halte das für einen wirklich großartigen Vorschlag. Sie werden alsbald von uns hören.«

»Da wäre noch etwas, Präsident Schirazi. Ich nehme an, Sie haben von dem Anschlag in Hamburg gehört, bei dem es ein Bekennerschreiben von Ali Naz geben soll. Lebt dieser Mann tatsächlich noch? Wir haben unsere sehr gut auswertbare Nachaufklärung noch einmal geprüft und sehen dort, wo die Führungsriege gesessen hat, eindeutig nur Schutt und Asche. Können Sie mir vielleicht dazu etwas sagen, Herr Präsident?«

»Natürlich, Mr. President, haben wir von Hamburg gehört und können nicht glauben, dass Ali Naz tatsächlich Ihren Luftangriff überlebt haben soll. Alle Körper, soweit sie überhaupt noch vorhanden waren, wurden in ein Massengrab gelegt. Wir sind wahrlich nicht stolz auf diesen General, der mit seiner verräterischen Clique unser Oberhaupt tötete, um dann Ihr Land und Ihre Familie anzugreifen. Solche Leute wurden bei uns früher öffentlich gehenkt und zur Schau gestellt. Doch nach dem verheerenden Luftangriff war da nichts mehr. Von Ali Naz wurde lediglich seine Uniformjacke mit einem abgerissenen Arm gesichtet. Für uns ist sein Tod eindeutig. Trotzdem wird als Konsequenz des Attentates in Hamburg derzeit das Grab noch einmal geöffnet. Wir versuchen eine DNA-Analyse durchzuführen. Natürlich wollen wir wissen, ob der Mann tatsächlich noch sein Unwesen treibt.«

»Wenn Sie möchten, Präsident Schirazi, stellen wir Ihnen unsere Erkenntnisse zur Verfügung, wie ich auch die Zusammenarbeit unserer Geheimdienste in dieser Sache anbiete.«

»Da wäre ich Ihnen sehr verbunden, Mr. President, wenn das auch einschließt, dass Sie in Teheran von Ihrer Botschaft aus die Abhörung meines Hauses einstellen.«

George F. Summerhill war einen Augenblick lang fassungslos. Er schaute kurz auf ein Papier, das ihm John herüberschob und erwiderte: »Das sollte wirklich nicht sein, Präsident Schirazi. Ich werde hören, was dort los ist. Gleichzeitig bitte ich Sie höflichst, Ihrem Botschafter bei uns in Washington zu sagen, er möge aufhören, Regierungsbeamte abzuwerben. Wir wissen, dass er zur Auslandsaufklärung Ihres Geheimdienstes VEVAK gehört. Ich denke, unsere beiden Länder sollten hier einen Gang zurückfahren.«

 

Nunmehr blieb Schirazi für einen Moment stumm.

»Dem kann ich nur zustimmen, Mr. President. Vielleicht haben wir beide gemeinsam, dass wir zuweilen selbst von der Kreativität unserer Dienste überrascht werden.«

»Sie haben leider recht, Präsident Schirazi. Aber wir beide sollten uns davon nicht irritieren lassen. Lassen Sie uns bitte wissen, wenn es Neuigkeiten bezüglich Ali Naz gibt. Mir liegt die Aufklärung des Falles sehr am Herzen.«

»Das ist verstanden, Mr. President. Es war wie immer ein großes Vergnügen, mit Ihnen zu reden. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit.«

»Und ich für die Ihre. Auf Wiederhören, Präsident Schirazi!« »Auf Wiederhören, Mr. President!«

»Das war’s, John«, sagte der Präsident zu seinem Stabschef, »er hätte mich beinahe kalt erwischt, aber nur beinahe. Danke für den Zettel! Setzen Sie die CIA erstens auf die Suche nach der kleinen Pia an, und beten wir zu Gott, dass sie noch lebt. Und zweitens, ich will alles über den Terroristen Ali Naz wissen, auch, wer für den Mord in Hamburg verantwortlich ist. Ich nehme an, dafür wird man den deutschen Bundesnachrichtendienst benötigen. Ach, das bringt mich auf die Idee, mit der deutschen Kanzlerin zu sprechen. Schon lange überfällig …«

»Jetzt gleich oder später, Mr. President?«

»Ich gehe erst einmal nach oben in mein Arbeitszimmer und schreibe einen Kondolenzbrief an Marc Anderson.«

»Sollen wir das nicht für Sie machen, Sir? Sie haben doch Wichtigeres zu tun.«

»Manche Angelegenheiten muss man selbst erledigen, besonders, wenn sie von Herzen kommen.«

Der Stabschef wurde etwas verlegen. Er hätte seinen Präsidenten kennen müssen.


»Präsident Summerhill für Sie«, sprach Susanne Ehrlich in die Direktleitung zu ihrer Chefin.

Bundeskanzlerin Dr. Henriette Behrens stand noch unter dem Eindruck des täglichen BND-Lagebildes, konnte aber nicht ahnen, dass genau wegen dieses Falles der US-Präsident selbst anrief.

»Hello, Henriette!«

»Hi, George, schön dich zu hören!«

»Können wir auf Live-Video schalten?«

»Das können wir, Augenblick, ich bin gleich bereit.«

Henriette setzte sich vor den Monitor. Sie war in der nunmehr dritten Legislaturperiode tatsächlich so etwas wie eine vertraute Freundin des US-Präsidenten geworden. Er hatte unterstützt, dass Deutschland im neuen europäischen Verteidigungsbündnis zusammen mit Frankreich und England eine führende Rolle spielte. Vor allem lief die Wirtschaft zwischen beiden Staaten, wie auch zwischen den USA und Europa hervorragend. Summerhill hatte alle Handelsbeschränkungen seines Vor-Vorgängers rigoros abgeschafft und setzte konsequent auf freien Handel.

Die deutsche Bundeskanzlerin war sein Star in Europa. Sie war gebildet, politisch versiert, und galt mit ihren halblangen, schwarzen Haaren, den dunkelgrünen Augen und ihrer Topfigur in den USA als Germanys best brand. Vor allem war sie berechenbar. Die Kanzlerin hatte sich im letzten Jahr bei dem Terroranschlag gegen seine Familie wieder einmal als äußerst verlässliche Partnerin erwiesen.

»Ich bin bereit, George!«

»Mein Gott, wie schaffst du es, immer so verdammt gut auszusehen, Henriette?«

»Ich gebe das Kompliment gern zurück, Mr. Robert Redford.« »Du beschämst mich mit so viel Lorbeeren. Kommen wir zum Grund meines Anrufes. Du hast sicherlich von dem Mord bei euch in Hamburg gehört?«

»Natürlich, George, wir sind mittendrin. Ich bin zutiefst betroffen. Marc Anderson kenne ich persönlich. Er war für eine Karriere bei unseren Spezialkräften vorgesehen, hat sich dann aber für ein mehr privates Leben mit seiner Karina Marie entschieden.«

»Ich kenne beide. Sie war eine großartige Frau und wurde auf dem Schiff die Freundin meiner Tochter Jane.«

»Das Ganze ist entsetzlich, George. Wir versuchen herauszufinden, wer dahintersteckt. Im Augenblick haben wir noch keinen Beweis für einen terroristischen Hintergrund, auch, wenn es auf den ersten Blick so scheinen mag.«

»Schau’ dir einmal diese Bilder an, Henriette!«

Sie sah Aufnahmen von einer Militärparade mit iranischen Offizieren auf einer Tribüne.

»Das ist vor unserem Angriff auf diesen Ali Naz. Dort, wo der Kreis ist, das ist er.«

»Okay, erkannt«, sagte sie.

»Und das ist nach dem Angriff.«

Nichts von dem, was auf dem ersten Bild dargestellt wurde, war wiederzuerkennen. Trümmer, Schutt und Nahaufnahmen von zerfetzten Leichen.

»Kannst du dir vorstellen, dass hier auch nur einer überlebt hat?«

»Kaum, George, ich nehme an, du hast mit dem Iran darüber gesprochen. Was sagt Schirazi dazu?«

»Habe ich. Er ist derselben Auffassung wie ich. Sie begeben sich nun doch noch einmal an die Untersuchung der Leichenteile. Schirazi sprach auch davon, dass sie damals die Uniformjacke von Brigadegeneral Ali Naz mit einem abgerissenen Arm gefunden hätten.«

»Das bestätigt unseren Eindruck, dass die Person hier am Tatort in Hamburg den Namen Ali Naz nur vorgeschoben hat. Vielleicht ein Trittbrettfahrer oder ein Einsamer Wolf.« »Ihr solltet da nicht so sicher sein, Henriette. Wir haben Informationen, dass im Libanon seit Monaten eine neue Guerillaorganisation im Untergrund aufgebaut wird, die mit der Hamas zusammenarbeitet und die völlige Zerstörung Israels will. Sie sind inzwischen mit Raketen aus dem Iran, China und Russland bewaffnet. Die Organisation wird wie die Revolutionsgarden trainiert und geführt. Und jetzt halte dich fest, der Kommandeur ist ein einarmiger, leicht humpelnder Mann, den sie Talimaan nennen, das ist angeblich der Name eines Helden.«

»Das klingt nicht gut, George!«

»Sollte sich bewahrheiten, dass Talimaan jener Ali Naz ist, dann wäre es kaum vorstellbar, dass sich dieser verkrüppelte Mann nach Hamburg begeben hat, um dort persönlich einen Racheakt zu vollziehen. Dann hätte er eher Hintermänner gehabt, sagt die CIA.«

»Und wir hätten in Hamburg tatsächlich eine Zelle,« erwiderte sie, »die womöglich noch mehr vorhat, als bereits geschehen.«

»Offen gestanden, Henriette, wir glauben, dass dies ein persönlich motivierter Racheakt gegen unseren Marc Anderson war, nicht mehr und nicht weniger, so grausam es ist. Ali Naz nimmt sich offensichtlich immer die Familie und nicht den eigentlichen Feind vor. Das ist seine Masche. So war es bei mir, als er meine Familie auf dem Schiff in seine Hände bekam.«

»Du musst Schreckliches durchgemacht haben, George. Ich bekomme jetzt noch Gänsehaut, wenn ich an diese Situation denke.«

»Wem sagst du das … und noch etwas. Ali Naz ist offensichtlich nie selbst am Tatort. So ließ er das Attentat auf dem Schiff durch gekaufte Leute durchführen. Deswegen glauben wir bislang, dass er auch in Hamburg Auftraggeber und nicht Ausführender gewesen war.«

»Ich werde das dem BND sagen. Den wichtigen Aspekt wussten wir noch nicht. Danke!«

»Soweit zu seiner persönlichen Agenda, Henriette. Seine politische Zielsetzung, die USA zu bekämpfen, dürfte allerdings unverändert dieselbe sein. Die USA haben also ein vitales nationales Interesse daran, dass alle amerikanischen Einrichtungen in Deutschland effektiv geschützt werden, besonders das Generalkonsulat in Hamburg.«

»Das ist verstanden, George. Ich werde das veranlassen, und ich werde dafür sorgen, dass der Staatsschutz eingeschaltet wird.«

»Danke, Henriette. Ali Naz, wenn er denn lebt, gehört zu den gefährlichsten Terroristen in der Welt. Wir stufen trotz noch abzuschließender Beweislage die Gefahrensituation so hoch ein, dass ich auch meine Tochter Jane davon abgehalten habe, zur Beerdigung von Karina Marie Anderson nach Hamburg zu fliegen. Sie wollte unbedingt kommen, aber folgt Gott sei Dank meinen Bedenken. Die Familie hat heute an Marc Anderson geschrieben. Unser Generalkonsul wird das Schreiben überreichen.«

»Danke, George, auch wir werden angemessen reagieren. Haben wir beide noch etwas?«

»Das wär’s für heute. Es ist gut, dich in Deutschland als Chefin zu haben.«

»Das sehen nicht alle so«, lachte sie, »grüße bitte deine Frau Marion herzlich von mir.«

»Das will ich gern tun. Ich bin gewiss, dass ihr alles unternehmen werdet, Marcs Baby lebend zu finden. Ich möchte wirklich nicht in seiner Haut stecken. Take care, Henriette!« »Take care, George!«


Die evangelisch lutherische Kirche in Blankenese war ein Traum in Weiß, wenn der Anlass nicht ein Albtraum für Marc gewesen wäre. Jelke hatte sich in ihre Freundin hineinversetzt und war sicher, dass sie all das wunderbar finden würde. Der schlichte Altarbereich, getragen von den drei hohen schmalen Glasfenstern, war ein weißes Blumenmeer aus Rosen, das auch für eine Hochzeit nicht hätte schöner sein können. Einzig die weiße Urne mit Karina Maries großem Porträt und zwei brennenden Kerzen zeigten das Unfassbare. Und anders als der weiße Trauerschmuck war die Urne von bunten Blumen umgeben.

Die Kirche war einschließlich der beiden seitlichen Emporen bis auf den letzten Platz besetzt. Lediglich für die Angehörigen und Marcs Team waren die ersten Reihen rechts und links freigehalten worden.

Auf dem von der Polizei abgesperrten Vorplatz standen Hunderte von Menschen, die sich wie alle anderen einer Personenkontrolle hatten unterziehen müssen. Man hatte davon abgesehen, die Sicherheitsstufe 1 zu aktivieren, da die Tochter des US-Präsidenten und auch der deutsche Verteidigungsminister kurzfristig abgesagt hatten, angeblich wegen der Sicherheitslage.

Dennoch kamen die Medien auf ihre Kosten, als sie einige der anfahrenden Gäste erkannten:

Der Amerikanische Generalkonsul sowie der Bürgermeister der Stadt; Hamburgs Polizeipräsident Hendrik Mann zusammen mit zwei Beamten der SoKo KILO MIKE, Joe Weber und Ganter Holms.

Der KSK-Kommandeur Brigadegeneral Wolf. Er hatte Karina Marie nach ihrer Befreiung durch Marc und Tom an der Küste Algeriens in Empfang genommen.

Der Truppenpsychologe Gerrit Hinrich, der Marc nach dem tragischen Verlust seines Freundes betreut hatte.

Uniformierte Elitesoldaten aus Marcs alter Einheit in Calw sowie vom Marinestützpunkt Eckernförde.

Karina Maries ehemaliger Lebensgefährte, Johannes Ericson, begleitet von seinen Eltern Georgia und Gustaf.

Der Kapitän der SUNDOWNER, Gert Raimunds, samt Crew sowie der Reeder.

Der Leiter des Institutes für Rechtsmedizin, Professor Klaus Buschmann, zusammen mit seinem Kollegen, Dr. Faysal Mahmoudi, der Karina Marie obduziert hatte.

Ziemlich weit hinten saß ein kräftiger Mann mit Bürstenhaarschnitt. Es war kein Sicherheitsbeamter, von denen sicherlich einige hier verstreut herumstanden, sondern Porter, der die SEALs zur SUNDOWNER geführt hatte und inzwischen den Dienst quittiert hatte. Er hatte seit der ersten Begegnung eine Affinität zu den Männern der Maritime Security Services gehabt.

Viele andere waren ebenfalls in der Kirche, die einen persönlichen Bezug zur Familie Anderson hatten. Die Trauergäste hatten Platz genommen und ließen die Stille auf sich wirken. Sie sahen, wie durch das Kirchenfenster das Sonnenlicht auf das Bild einer strahlenden jungen Frau fiel. Nicht einmal ein Husten oder ein Bewegungsgeräusch störte die Ruhe.

Dann erhoben sich die Trauergäste, beginnend mit der letzten Reihe. Marc führte Karina Maries Eltern zum Altar. Die kranke Mutter Paula wusste das alles nicht wirklich zu deuten und lächelte freundlich grüßend zu den Gästen. Der Vater war durch sein versteinertes Gesicht gezeichnet wie auch Marc. Als sie sich vor der Urne verbeugten, löste sich Paula spontan von Erich, ging zu dem Bild und streichelte es stumm. Ihre Augen waren erschrocken aufgerissen. Sie schien für den Moment das Unfassbare zu begreifen.

Ein stilles Raunen ging durch die Kirche, als Jelke kam. Sie führte langsam Karina Maries Kinderwagen zur Urne.

 

Sie hatte Marc um dieses Ritual gebeten. Marie sollte bei ihrer Verabschiedung mit der ganzen Familie vereint sein. Zugleich war es für alle das sichtbare Symbol einer Tragödie und der Hoffnung zugleich, denn im leeren Kinderwagen stand das Foto einer strahlenden Tochter, von der allerdings niemand wusste, ob sie noch lebte.

Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass das Bild vom Kinderwagen vor der Urne das UNICEF-Pressefoto des Jahres werden würde.

Hinter Jelke folgte Marcs Team. Thomas, Ale, Thunder, Hermy und Mike. Alle in Tarnfleckhosen und schwarzem T-Shirt. Marc wollte deren öffentlichen Auftritt zunächst nicht, denn seine Brüder hatten bis zur letzten Rettungsaktion im Atlantik kein Gesicht gehabt. Nach dem Empfang im Rathaus war das inzwischen egal. Das Gesicht jedes Einzelnen war jetzt bekannt. Er wusste nicht einmal, ob er seine Firma überhaupt weiterführen würde.

Die Trauergemeinde setzte sich, und der Pfarrer, der bereits Karina Marie getauft und konfirmiert hatte, begann seinen bewegenden Gottesdienst.

Er sprach von ihr, nein mit ihr, als wäre sie unter den Gästen und erklärte, warum die Kirche weiß und nicht dunkel geschmückt sei. Weiß sei die Farbe von Karina Marie, Weiß als Symbol, dass Trauer wichtig sei, aber das Leben weiterginge in strahlender Erinnerung an sie. So hätte er sie erlebt.

Der Leiter des Gospelchors, in dem Karina Marie mitgewirkt hatte, erzählte von seinen Begegnungen. Sein Chor sang in einer bewegenden Intonation das Halleluja:

I heard there was a secret chord …

Danach Stille. Der Pfarrer nickte zur ersten Reihe.

Der Hüne Tom stand auf. Er, der Karina Marie am längsten kannte, hatte eine kleine Rede vorbereitet. Doch als er auf den Zettel blickte, konnte er die Zeilen nicht mehr lesen. Er weinte, blickte verlegen in die Menge, verließ das Stehpult und ging zu ihrem Bild, den Rücken zur Gemeinde.

Dann brach es förmlich heraus.

»Karina Marie, wir sind alle deinetwegen hier. Doch das ist der falsche Ort. Wir wollen nicht, dass du tot bist … Du gehörst da oben nicht hin … Ich meine, noch nicht … Wir haben dich zweimal aus schlimmster Gefahr befreit … Und ich sage dir, wir haben das verdammt gern gemacht … für dich, für unseren Bruder Marc … für uns … und dann kommt einer und schneidet dir auf der Straße, hier mitten in Hamburg, einfach den Hals durch … und nimmt dein Baby … Du hattest keine Chance … Dein Glück war wohl verbraucht … Ich weiß, nicht mehr, ob es einen Gott gibt … aber ich weiß, dass du jetzt bei uns bist … und siehst, wie wir um dich weinen … Gute Reise, Karina Marie … Du wirst für immer in unseren Herzen bleiben

Er wartete, bis er sich gefasst hatte, wandte sich vom Bild ab, trat zu Marc und wollte ihn spontan umarmen. So wie immer, wenn sie unter sich und sich alle nahe waren. Er erschrak über diese Idee hier in der Öffentlichkeit und so blieb er vor Marc stehen. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er wollte ihm etwas sagen. Es ging nicht. So nahm er Haltung an und grüßte militärisch zu seinem Freund. Der nickte ihm liebevoll zu.

»Mein Gott«, flüsterte Polizeipräsident Hendrik Mann zum Bürgermeister, »was für ein Mann, was für ein Freund, mehr geht nicht.«

Der Pfarrer berichtete fast fröhlich von den Stationen Karina Maries, und der Gospelchor sang Sailing.

Can you hear me, can you hear me Through the dark night, far away I am dying, forever crying To be with you, who can say …

Marc saß bis dahin mit unbewegter Miene. Doch nun durchbebte wieder dieses starke Zittern seinen Körper. Das Lied, zugleich der Beginn ihrer Liebe, war zu viel. Er krampfte seine Fingerknöchel zusammen, bis sie weiß wurden. Jelke legt ihre Hand behutsam auf seine. »Geht schon wieder, danke Jelke.«

Die Gemeinde sang und ein junger Tenor aus Hamburg trug das Gedicht von Dietrich Bonhoeffer »Von guten Mächten wunderbar geborgen« vor.

Es war kein Lied für Marc. Er war nicht bereit, das anzunehmen, was dort vorgetragen wurde:

Und reichst du uns den schweren Kelch, den bitteren des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.

Aber das war ihr Lieblingsgedicht gewesen. Und deswegen war es gut so.

Der Pfarrer war bereit, die Gemeinde mit einem Segen zu verabschieden, als etwas nicht Abgesprochenes geschah.

Karina Maries Vater, Erich Hansen, ging schleppend nach vorne. Er blickte in die Trauergemeinde und begann:

»Ich bin ihr Vater. Fassungslos, entsetzt, traurig, und ich schäme mich nicht zu sagen, ich bin wütend. Sehr wütend. Man hat uns das Liebste genommen, was wir besaßen. In einer einzigen Sekunde. Sie liebte, sie wurde geliebt, und … sie war schwanger.

Sie hat verzweifelte Eltern hinterlassen, einen verzweifelten Ehemann.

Ich gehöre, anders als meine Tochter, keiner Religion an, aber ich stehe hinter einer Sure des Korans, die Teil meiner Lebensphilosophie ist:

Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet.

Für uns beiden Alten fühlt es sich an, als wäre mit dem bestialischen Mord an unserem Kind die ganze Menschheit getötet worden. Was soll nun noch lebenswert sein? Was kann noch lebenswert sein, wenn das Kind vor den Eltern geht? Doch der Text der Sure geht weiter:

… und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten …

Deswegen habe ich nur einen einzigen Wunsch, dass man unser Enkelkind Pia finden möge, damit unsere geliebte Karina Marie in ihr weiterleben kann. Damit wir alle, die Familie und ihre Halbschwester, in ihr weiterleben können.«

Während Erich Hansen sprach, zeigte ein Trauergast am Eingang starke Gefühle, senkte den Kopf und stützte sich an der Mauer ab. Offensichtlich war das der geradezu überbordenden Emotion geschuldet, die hier inzwischen viele erfasst hatte. Einige mussten raus an die frische Luft gehen. So auch diese Person.

Draußen schaute sich diese Person um, ob sie unbemerkt war, zog ein Smartphone hervor und sendete über einen schweizerischen Messengerdienst mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselungsprotokoll:

Alles nach Plan. Fotos aller Zielpersonen folgen. Paket versorgt.

Die Antwort kam augenblicklich.

Perfekt. Phase zwei wird vorbereitet. Allah umarmt dich.


Er hockte vor ihrem Grab zwischen den Bäumen auf dem Waldfriedhof. Die Vögel zwitscherten. Weiter weg lief ein Hase über die Lichtung. Über dem Friedhof zog ein Flugzeug Kondensstreifen. Nichts davon nahm er wahr. Erich, Paula und Jelke waren die Einzigen, die er beim letzten Gang bei sich haben wollte und ertragen konnte. Der Bestatter war mit der Urne an diesen Ort vorausgefahren, wo Karina Maries Pfarrer die kleine Gruppe erwartete.

Seine kurze Rede endete mit dem Segen für Karina Marie und die Familie: »Gehet hin in Frieden.«

Aber Marc wollte nicht und blieb als Einziger am Grab zurück. Er hing seinen Gedanken nach, die immer wieder um den einen Punkt kreisten:

Warum musste das geschehen, warum war ich nicht bei ihr?

Er hatte sich vor ihr Grab gehockt, sein Kopf in seinem Arm vergraben, eine Hand zu ihr gestreckt. Alle seine Sensoren, die, wie er einmal gesagt hatte, Teil seiner Gene seien, waren vollkommen ausgeschaltet. Vor seinen Beinen stand ein kleiner verschraubter Metallbehälter, darin ein Teil der Asche, die ihm überlassen worden war.

Die Person hinter einem der Bäume beobachtete die Szene. Sie stellte befriedigt fest, dass niemand in der Nähe war, auch keine Personenschützer, mit denen sie angesichts der Lage eigentlich gerechnet hatte. Denn der Pressesprecher des Polizeipräsidiums hatte getwittert, dass ein terroristischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden könne. Man würde in alle Richtungen ermitteln.

Dieser Waldfriedhof war das ideale Gelände für die Abrechnung. Die Hand griff langsam in die seitliche Jackentasche und fühlte das Messer. Zwischen den beiden lag eine kurze Grasfläche, die lautlose Annäherung wäre kein Problem. Das Opfer war ein menschliches Wrack, weit weg von einem Elitesoldaten.