X-World

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Plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte die Hände zusammen und breitete die Arme aus. Augenblicklich hörte er ein leichtes Rauschen in seinen Ohren.

„Ja, Jonte, was ist?“, hörte er die vertraute Stimme seines Vaters.

„Papa, hier ist ein großer Tiger!“, flüsterte Jonte.

„Ja natürlich, Jonte, den hast du dir doch gewünscht! Ich habe ihn extra für dich gemacht. Gefällt er dir?“

„Ich habe Angst!“, flüsterte Jonte.

„Das brauchst du nicht“, gab Ron zurück. „Du hast dir einen lieben Tiger gewünscht, und der hier ist lieb. Aber ich kann dich verstehen, mir hat er beim ersten Mal auch einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Er heißt übrigens Joey!“

„Echt? Das ist ja witzig!“, sagte Jonte.

„Wieso?“

„Weil ich einen Stofftiger habe, der genauso heißt. Weißt du das nicht mehr? Den hast du mir doch geschenkt!“

Ron war perplex. War es Zufall, dass Alf gerade diesen Namen ausgewählt hatte, oder gab es einen inneren Zusammenhang? Er beschloss, dieser Frage später nachzugehen. Im Moment musste er sich auf die bevorstehende Präsentation konzentrieren.

„Hör mal, Jonte“, sagte er, „warum sagst du nicht einfach ‚Hallo‘ zu dem Tiger? Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen.“

Er beendete die Verbindung und beobachtete auf dem Monitor, wie sein Sohn langsam auf das Tier zuging. Es blieb wachsam stehen, zeigte aber keine Anzeichen von Aggressionen. Alles war in Ordnung, und Ron wandte sich wieder seinen Projektdaten zu.

Jonte hob den Arm, um den Tiger zu streicheln. Plötzlich passierte etwas Merkwürdiges: Als er den Rücken des Tieres erreichte, spürte er keinen Widerstand – doch seine virtuelle Hand folgte der realen Hand nicht mehr, als er sie weiter nach unten bewegte. Es war ein eigenartiges Gefühl, so als würden sich Leib und Seele voneinander trennen. Das war irgendwie unheimlich, und der Junge beeilte sich, seine Hände wieder in Einklang zu bringen, indem er den Arm schnell hoch über den Kopf hob. Gehorsam setzte seine virtuelle Hand die Bewegung um.

Der Tiger zuckte zusammen, als Jonte sich so plötzlich bewegte, drehte sich um und lief mit großen Sprüngen zurück in den Wald. Es kümmerte ihn nicht, dass Jonte hinter ihm herrief. Dafür antwortete eine menschliche Stimme.

„Hallo Jonte! Da bist du ja! Ich muss dir was Tolles zeigen. Eine echte Höhle! Ich schwöre, die war gestern noch nicht da!“ Gemeinsam kletterten die Jungen den Berg hinauf, einem neuen Abenteuer entgegen.

Das Wochenende verging wie im Fluge. Es gelang Ron kaum, seinen Sohn zum Essen zu bewegen, was ihn einerseits erschreckte, aber andererseits auch ganz recht war, denn im Mehrspielermodus tauchten plötzlich Probleme auf, die er nicht vorhergesehen hatte, und deren Lösung sich als sehr zeitaufwendig herausstellte. So waren Vater und Sohn auf höchst unterschiedliche Weise mit X-World beschäftigt. Beide verloren jedes Gefühl für die Zeit.

Es war ein glücklicher Zufall, dass Ron und Jonte gerade beim Essen saßen, als es an der Tür klingelte, und Lisa kam, um ihn abzuholen. Freudestrahlend lief er ihr entgegen und nahm sie in den Arm.

„Na ihr beiden, wie war euer Männerwochenende?“, fragte sie.

Jonte sprudelte förmlich über. „Es war so toll! Ich habe einen neuen Freund, er heißt Alf, und er ist so alt wie ich, und wir haben …“

„Oh, Schatz, das ist ja wunderbar!“, sagte Lisa zu ihrem Sohn und schaute ungläubig zu Ron hinüber, dessen Gesicht eine rötliche Färbung annahm. Er beugte sich vor und begann, intensiv ein interessantes Detail an seinem Wurstbrot zu studieren.

„Er ist doch sonst so zurückhaltend mit anderen Kindern!“

„Ja“, sagte Ron ausweichend, „ich glaube, er hat große Fortschritte gemacht!“

„Und ich habe einen Tiger gesehen!“, rief Jonte. „Der war ganz zahm, aber als ich ihn streicheln wollte, ist er weggelaufen …“

„Wart ihr im Zoo?“, fragte Lisa verwirrt.

„Nein, in der neuen Welt, die Papa gemacht hat. Die ist super, Mama, die musst du dir unbedingt anschauen!“

Lisas Miene gefror zu Eis.

„Ich fasse es nicht“, sagte sie. „Der Junge war nicht einmal draußen, stimmt’s?“

„Doch, er war Brötchen holen“, antwortete Ron lahm.

„Ja und ich durfte mir ein Comic-Heft kaufen!“, rief Jonte dazwischen. „Ach Mama, Papa, bitte streitet euch nicht!“

Flehentlich sah er zu seiner Mutter hinauf. Sie biss sich auf die Lippen.

„Nein, nein, es ist schon gut“, sagte sie zu ihm. „Hol deine Sachen. Ich stehe im Halteverbot.“

Ihre schönen blauen Augen schossen Blitze auf Ron. Aber sie verlor kein weiteres Wort zu dem Thema. Das war auch nicht nötig. Ron wusste ohnehin, was sie sagen wollte. Als sein Sohn mit seinem Koffer wiederkam, nahm er ihn kurz in die Arme.

„Es war ein tolles Wochenende mit dir“, flüsterte er.

„Ja, Papa, das fand ich auch!“, flüsterte Jonte zurück. Dann verließ er mit seiner Mutter das Haus.

Ron war wieder allein.

3. FRANKFURT AM MAIN

Mit gemischten Gefühlen machte sich Ron Schäfer auf den Weg nach Frankfurt, wo sich der deutsche Firmensitz von Future Computing befand.

Er war stolz auf sein Werk, und das mit gutem Grund. In den vergangenen Wochen hatte er praktisch rund um die Uhr gearbeitet und dabei eine Software erschaffen, die wie maßgeschneidert zu dem Cyberhelm passte, den der Konzern auf den Markt bringen wollte. In technischer Hinsicht machte er sich keine allzu großen Sorgen, obwohl er den Mehrspielermodus nur begrenzt hatte testen können. Das würde schon alles laufen.

Bauchschmerzen bereitete ihm der Gedanke an das, was danach unweigerlich kommen musste: Verhandlungen. Ron war kein Geschäftsmann. Geld und Verträge interessierten ihn immer nur so weit, wie sie es ihm ermöglichten, in Ruhe zu leben und zu arbeiten. In wenigen Stunden aber würde er einer Gruppe von Menschen gegenübersitzen, die in dieser Hinsicht völlig gegensätzlich dachten. Geschäftsleute, die sich für Computertechnik nur so weit interessierten, wie sie ihnen Geld einbrachte.

Ron schloss die Augen und suchte nach einer bequemen Position in seinem Sitz. Die gleichmäßigen Bewegungen des Zuges ließen seine Müdigkeit überhandnehmen. In den letzten Tagen hatte er nur wenig Schlaf bekommen.

Aber es hatte sich gelohnt. Die Demo-Version war nun auf Hochglanz poliert. Sogar Sandburgen konnte man jetzt bauen, auch wenn er bezweifelte, dass hochrangige Manager daran Interesse hatten. Doch für Jonte war es wichtig gewesen. Er lächelte bei dem Gedanken an seinen kleinen Jungen und glitt in einen traumlosen Schlaf.

****

„Sie sind mal wieder dabei, Ihre Kompetenzen zu überschreiten!“, sagte der Chief Executive Officer frostig. Sein Gesicht war unbewegt, doch die schmalen Augen hinter der Brille mit dem Goldrand funkelten bedrohlich.

„Unsere Konzernleitung hat unmissverständlich klargestellt, dass diese Firma sich nicht im Softwaresektor zu engagieren gedenkt. Wir sind kein Gemischtwarenladen. Wir handeln mit Hardware. Unser Ziel ist es, den Anwendern die weltweit beste Computerperipherie zur Verfügung zu stellen, die technisch möglich ist.“

Dr. Gerhardt Fleischmann verdrehte die Augen, als sein Vorgesetzter zum hundertsten Mal aus dem Leitbild der Firma zitierte. Aber er wusste, dass Dong-Min Choi meinte, was er sagte. Die Koreaner hätten keinen treueren Vertreter ihrer Interessen in sein Land schicken können.

Er atmete langsam aus und versuchte, seine innere Ruhe wiederzugewinnen. Diese Angelegenheit ging ihm schon seit Jahren gegen den Strich. Sie saßen in den Räumen des Unternehmens, das sein Vater nach dem Krieg Stück für Stück aufgebaut hatte. Nach dessen Tod war die Leitung an ihn, den einzigen Sohn, übergegangen, und er hatte die „Prometheus AG“ über vierzig Jahre lang erfolgreich weitergeführt.

Doch dann war „Future Computing“ gekommen.

Die Koreaner hatten gezielt nach einer alteingesessenen Firma mit guten Vertriebswegen gesucht, die für eine feindliche Übernahme in Betracht kam, und waren ausgerechnet bei ihm fündig geworden. Glücklicherweise war die Mehrheit der Aktionäre ihm und seinem Vater persönlich verbunden, so dass der Konzern kein so leichtes Spiel gehabt hatte, wie es sich die Strategen ursprünglich vorgestellt hatten. Dennoch hatten die Teilhaber ihn dazu gedrängt, in die Verhandlungen einzutreten, und auch Gerhardt Fleischmann hatte schließlich einsehen müssen, dass seine Firma sich der Globalisierung auf Dauer nicht verschließen konnte.

Daraufhin hatte er beschlossen, das Beste aus der Sache zu machen und die Übernahme so weit wie möglich nach seinen Interessen zu gestalten. Im Ergebnis war er nun „CMO“ – Chief Marketing Officer – für Deutschland, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man wie früher einfach „Vertriebsleiter“ dazu gesagt.

Doch in vielen Punkten ging es nun nicht mehr nach seinem Willen. Er hatte zwar einen wichtigen Posten inne und war durch seinen Vertrag unkündbar, aber er hatte sich der Konzernleitung unterzuordnen, die Dong-Min Choi mit unerschütterlicher Loyalität vertrat. Manches wäre leichter gewesen, wenn das Verhältnis zu ihm nicht so unterkühlt wäre. Aber das war es nun mal, und so kam es ständig zu Auseinandersetzungen.

Dieses neue Produkt aus Korea, das nun auf den Markt kommen sollte, dieser Cyberhelm, war, soweit er es beurteilen konnte, sicherlich eine tolle Sache, aber sein unternehmerischer Instinkt sagte ihm, dass es so nicht funktionieren würde.

Choi vertrat die Ansicht, dass es in der Computertechnik einen natürlichen Regelkreislauf gäbe. Neue Hardware sorgte stets auch dafür, dass neue Software entstand, ebenso wie neue Software die Entwicklung neuer Hardware vorantrieb. Doch er selbst bewertete die Situation anders: Wenn sich ihr Helm nicht gut genug verkaufte, weil dem hohen Anschaffungspreis keine interessanten Anwendungen gegenüberstanden, dann würde sich auch keine Softwareschmiede der Welt die Mühe machen, Spiele für den Helm zu entwickeln. Das gäbe die geringe Stückzahl nicht her. Ein Teufelskreis, der dazu führen würde, dass man das Gerät wieder vom Markt nehmen müsste – mit gewaltigen Verlusten, die letztlich von der Belegschaft aufzubringen wären. Und ehe das Mutterwerk Schaden leidet, würde zuerst die deutsche Tochter geschlossen – es ging hier also um seine Firma und seine Angestellten, für die er sich nach wie vor verantwortlich fühlte.

 

Aber es war sinnlos. Er hatte mit dem Direktor schon etliche Male immer dieselben Argumente ausgetauscht. Mittlerweile kam er sich vor wie ein Zirkuspferd auf einem Kinderkarussell, das unablässig seine Runde dreht, ohne dabei wirklich voranzukommen.

„Es ist natürlich Ihre Entscheidung, Herr Choi“, sagte er, als der Koreaner mit seinen Ausführungen zum Ende gekommen war. „Wenn Sie das Softwaregeschäft anderen überlassen wollen, bitte. Aber so weit sollten wir uns doch einig sein, dass es für den Vertrieb, für den ich nach wie vor verantwortlich bin, nur von Vorteil sein kann, wenn ein junger begabter Softwareingenieur eine Anwendung schreibt, die die Menschen dazu bewegt, unser Produkt zu kaufen. Ich konnte mich in Berlin von seinem Talent überzeugen. Schauen Sie sich wenigstens einmal an, was er zu bieten hat!“

Der Direktor schwieg nachdenklich.

„Na gut, Herr Dr. Fleischmann. Informieren wir uns darüber, was unser Cyberstar auf dem Softwaremarkt bewegt.“

****

Ron schreckte hoch. Einen glühend heißen Moment lang fürchtete er, den Ausstieg verschlafen zu haben. Aber das war kaum möglich, denn dieser Zug endete in Frankfurt. Die altmodischen Zeiger seiner Taschenuhr beruhigten ihn. Er hatte noch zwanzig Minuten Zeit, eventuelle Verspätungen nicht mitgerechnet.

Verschlafen sah er aus dem Fenster, blickte der vorbeijagenden Landschaft hinterher und versuchte, sich auf das bevorstehende Verhandlungsgespräch einzustellen. Er hätte sich einen Berater engagieren sollen. Aber abgesehen davon, dass diese Erkenntnis etwas zu spät kam, kosteten gute Berater Geld, und er war praktisch pleite.

So schwierig wird es schon nicht sein, sagte er sich. Die Sache wird sich an branchenüblichen Preisen orientieren. Wir sind schließlich nicht auf einem orientalischen Basar …

Gab es eigentlich Basare in Südkorea? Er wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Alles, was er wollte, war ein vernünftiges Gehalt und …

Moment, war das wirklich sein Ziel, Angestellter eines Konzerns zu werden?

Womöglich müsste er dann nach Frankfurt ziehen und wäre gezwungen, ständig irgendeinem Vorgesetzten zu erklären, woran er gerade arbeitete? Nein danke. Er war selbstständig und wollte es auch bleiben. Natürlich musste die Kasse stimmen, aber er war sehr zuversichtlich, dass sich sein Spiel gut verkaufen würde. Außerdem sollte es sein Spiel bleiben. Die Rechte daran wollte er auf jeden Fall behalten.

Der Zug hielt, Ron stieg aus und folgte dem Strom der Menschen in Richtung Ausgang. Er sollte am Bahnhof abgeholt werden, hatte man ihm gesagt. Suchend sah er sich nach einem „Meetingpoint“ um, bis er schließlich einen schlanken jungen Mann im Geschäftsanzug entdeckte, der ein Schild hochhielt. Es zeigte das Logo von Future Computing; darunter stand „Herr R. Schäfer“. Ron blieb einen Moment stehen, um den Anblick zu genießen. Endlich fühlte er sich wieder bedeutend.

Dann trat er auf den Angestellten zu und gab sich zu erkennen. Er wurde freundlich begrüßt und zum Firmenfahrzeug geleitet. Am Steuer saß der Mitarbeiter, dem Ron schon am Messestand auf der Funkaustellung gegenübergestanden hatte.

„Guten Tag, Herr Kim!“, sagte er.

Der Koreaner lächelte. „Guten Tag, Herr Schäfer. Schön, Sie zu sehen! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise!“

„Ja, die hatte ich“, behauptete Ron, dem Bahnfahren zuwider war.

„Das freut mich. Bitte steigen Sie ein. Sie werden erwartet.“

Folgsam kletterte der Programmierer in das Auto und versuchte sich zu sammeln. Die Straßen und Häuser zogen an ihm vorbei, ohne dass er es recht wahrnahm. Sein Gastgeber schwieg respektvoll, er schien zu spüren, dass Ron nicht nach Smalltalk zumute war.

Endlich hielt der Wagen vor einem Geschäftsgebäude. Glas, Stahl, Marmor – das übliche Business-Ambiente.

Ein Lift brachte sie in eine der oberen Etagen, wo ein Sitzungsraum vorbereitet war. Er trat ein und blinzelte einen Moment, bis er sich an die blendende Helligkeit gewöhnt hatte. In dem Raum stand ein langer Konferenztisch, an dem knapp 20 Geschäftsleute saßen. Ihre teuren Anzüge und Kostüme wiesen sie als hochrangige Führungspersonen aus. Jeder hatte einen schwarzen Cyberhelm sowie Handschuhe und Gamaschen vor sich liegen.

Ein älterer Mann, ein Europäer, der trotz seiner weißen Haare einen sportlichen und aktiven Eindruck machte, erhob sich und kam auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

„Herzlich willkommen, Herr Schäfer“, sagte er freundlich. „Schön, dass Sie gekommen sind. Wir alle erwarten Ihre Vorführung mit Spannung. Ich habe schon sehr von Ihnen geschwärmt.“ Dann wandte er sich an die Runde. „Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie unseren Gast, Herrn Ron Schäfer!“

Die Männer und Frauen erhoben sich von ihren Stühlen. Ron ging herum und gab allen die Hand. Er hasste solche Situationen, in denen er trotz seiner guten Erziehung ständig mit der Angst kämpfte, irgendwie gegen die Etikette zu verstoßen und sich damit bis auf die Knochen zu blamieren. Aber bislang schien alles gut zu laufen. Ihm wurde ein Stuhl angeboten, und als alle wieder saßen, ergriff der Vertriebsleiter erneut das Wort.

„Meine Damen und Herren“, sagte er, „wie Sie wissen, stehen wir kurz vor der Markteinführung unseres ‚Cyberstar 3‘.“ Ron stutzte. Er war sich ziemlich sicher, dass auf seinem Gerät der Schriftzug ‚Cyberstar 2‘ stand. Konnte es sein, dass es schon wieder ein neues Modell gab?

„Ich bin davon überzeugt, dass dies das beste Produkt ist, das wir jemals auf den Markt gebracht haben.“ Gerhardt Fleischmann überhörte das unwillige Gemurmel einiger Ressortleiter, die sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten, und fuhr fort: „Aber uns muss klar sein, dass wir damit Neuland betreten. Unsere Monitore, unsere Soundsysteme und unsere Scanner kann der Anwender für alle Standardanwendungen nutzen. Der Cyberstar funktioniert zwar auch mit herkömmlichen Programmen, aber die Software, die seine wirklichen Stärken nutzt, ist noch nicht geschrieben.“

Er übersah bewusst einen warnenden Blick des Direktors.

„Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass die Menschen einen guten Grund brauchen, um sich für unser Produkt zu entscheiden, und darum freue ich mich, dass dieser junge Mann dabei ist, eine Anwendung zu entwickeln, die die Vorzüge unseres Systems voll zur Geltung bringt. Ich hatte bereits in Berlin das Vergnügen, eine Kostprobe seiner Arbeit zu sehen, und bin davon überzeugt, dass er uns auch heute nicht enttäuschen wird. Herr Schäfer, nun sind Sie an der Reihe.“

Ron stand auf und schaute nervös in die Runde. „Sehr geehrte Damen und Herren“, begann er, ohne recht zu wissen, was er sagen sollte. Er hatte keine Rede vorbereitet.

„Äh – zunächst möchte ich für das in mich gesetzte Vertrauen danken und Ihnen zu Ihrem fantastischen Produkt gratulieren. Die Möglichkeiten, die darin stecken, sind einzigartig, und ich freue mich auf die Zusammenarbeit. Da die Stärke des Cyberhelms in der realistischen Wiedergabe liegt, habe ich mich für eine Spielwelt entschieden, die der realen Welt eins zu eins nachempfunden ist. Aber zuvor möchte ich Sie mit einem kleinen Einführungsprogramm vertraut machen, dass ich für den Neuanwender konzipiert habe. Wenn Sie nun so freundlich wären, ihre Ausrüstung anzulegen?“

Er packte seinen Laptop aus und verband ihn mit dem Netzwerk des Konferenzraumes, während die Damen und Herren der Runde damit beschäftigt waren, Gamaschen, Handschuhe und Helme anzulegen.

Ron blickte auf den Netzwerkmonitor, der ihm die betriebsbereiten Geräte mit einer Kennnummer und einem grünen Punkt signalisierte. Er startete das Programm. Vor den Augen der Teilnehmer glitt der samtrote Vorhang auf, und die einführenden Übungen begannen. Einmütig pflückten die Führungskräfte virtuelle Äpfel und bewegten die Beine, um sich fortzubewegen.

Schließlich begann das eigentliche Spiel. Ron sah die Inselwelt auf seinem Bildschirm aus der Vogelperspektive. Grüne Punkte bewegten sich darauf – jeder stellte einen Spieler dar. Manche waren in kleinen Gruppen unterwegs, andere einzeln.

Schmunzelnd blickte er in die Runde. Ihm bot sich ein witziger Anblick. Krawattentragende Manager und Damen in modischen Kostümen hatten sich mit schwarzen Helmen und Handschuhen verkleidet. Allesamt ruderten sie wild in der Luft herum und strampelten aufgeregt mit den Beinen. Sie schienen sich köstlich zu amüsieren.

Nach 15 Minuten ließ er das Spiel langsam wegdimmen. Die Helme wurden abgenommen, die Handschuhe ausgezogen, und prompt erfüllte ein munteres Schwatzen den Raum, als man einander mitteilte, was man soeben gesehen und erlebt hatte.

Der Vertriebsleiter klopfte Ron auf die Schulter. „Herr Schäfer, Sie haben sich selbst übertroffen. Ich bin tief beeindruckt.“ Zustimmendes Gemurmel erklang.

Ein junger Mann meldete sich zu Wort. „Es ist ja alles schön und gut, die Grafik ist wirklich fantastisch, aber was soll denn die Spielidee sein? Tauchen da noch feindliche Soldaten auf, gegen die man das Land verteidigen muss, oder irgendetwas in dieser Richtung?“

„Nein“, sagte Ron, „dies ist kein Ballerspiel. Die Spielidee ist eine ganz andere. Mir schwebt X-World als eine Alternative zum realen Leben vor. Nicht jeder kann sich eine Reise in die Karibik erlauben, aber dieses Spiel ermöglicht es ihm trotzdem. Er kann dort sogar auf Dauer wohnen, wenn er will. Er kann Freunde treffen, Häuser bauen, was immer ihm einfällt.“

„Aber wird das nicht langweilig?“, wandte der junge Mann ein, der offenbar eine andere Art von Spielen bevorzugte.

„Wie kann das Leben langweilig sein? Es geht bei X-World nicht um den schnellen Adrenalinkick, sondern um ein langfristig angelegtes soziales Netzwerk. Hier können sich Menschen in einer wunderschönen Umgebung bewegen und einander begegnen. Ich denke schon, dass es dafür einen Markt gibt. Sehen Sie sich nur die Userzahlen der herkömmlichen Social Networks an!“

„Wie stellen Sie sich die fertige Welt vor? Wir haben jetzt eine karibische Insel gesehen – soll es beispielsweise auch Großstädte geben?“, wollte eine Frau in den mittleren Jahren wissen.

„Nein, ich stelle mir vor, dass das Spiel in vorindustrieller Zeit spielt. Vielleicht sogar in der Antike. Wussten Sie, dass es Tausende gibt, die sich regelmäßig treffen, um ein Wochenende lang wie im Mittelalter zu leben? Ich glaube, dass sehr viele Menschen Sehnsucht nach Einfachheit und Ursprünglichkeit haben. Sie suchen einen Gegenpol zu ihrem technisierten und hektischen Alltag. X-World bietet das, und zwar ohne die Nachteile. Es gibt keine lästigen Insekten, keine Seuchen, keinen Gestank. Man muss auch nirgendwo hinfahren, sondern kann bequem von Zuhause aus teilnehmen.“

Es gab keine weiteren Fragen. Die Runde schien beeindruckt. Es wurde Zeit, zum geschäftlichen Teil zu kommen.

Ein älterer Asiate mit Goldrandbrille erhob sich von seinem Platz.

„Das war eine sehr interessante Vorführung, Herr Schäfer, doch nun ruft uns die Pflicht wieder zu anderen Aufgaben. Wir freuen uns sehr, dass Sie an diesem Projekt arbeiten, und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.“

Ron sah ihn verwirrt an. Er wusste nicht, wer der Mann war, aber die Art und Weise, in der er gesprochen hatte, ließ darauf schließen, dass er in diesem Raum das Sagen hatte.

„Ich dachte, wir wollten uns nun über meine Bezahlung unterhalten?“, sagte er unbeholfen.

„Nun, da liegt sicherlich ein Missverständnis vor. Soweit ich informiert bin, leiten Sie eine eigene Firma. Wir gehen davon aus, dass Sie das Spiel auf eigene Rechnung produzieren und veröffentlichen werden. Wie gesagt freuen wir uns über Ihr Engagement und halten Sie gerne über unsere neuesten Entwicklungen auf dem Laufenden.“

Ron hatte das Gefühl, als würde der Raum um ihn herum verschwimmen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Alle Arbeit umsonst? Natürlich wollte er gerne unabhängig bleiben, aber so konnte es nicht funktionieren. Für die Entwicklung einer kompletten Spielwelt brauchte er ein großes Team, und dazu reichten seine finanziellen Möglichkeiten bei weitem nicht aus. Hilflos sah er zu Gerhardt Fleischmann herüber, der unmerklich den Kopf schüttelte.

 

Ron verstand nicht, was hier vorging, aber er sah ein, dass er im Moment keine andere Möglichkeit hatte, als seine Vorführung zu beenden und sich einen würdevollen Abgang zu verschaffen. „Nun, dann danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und für die Zeit, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben“, sagte er so lässig wie er konnte und begann, seinen Laptop einzupacken.

Dong-Min Choi nickte ihm zu, und verließ den Raum, gefolgt von seinen Assistenten, die wie ein Kometenschweif hinter ihm hereilten. Nach und nach strebten auch die anderen Führungskräfte dem Ausgang zu und zückten im Gehen ihre Smartphones. Hilfesuchend wandte Ron sich an Gerhardt Fleischmann. „Das hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt“, sagte er.

„Ich mir auch“, knurrte dieser. „Aber verlieren Sie nicht den Mut. Ich bin sicher, dass wir eine Lösung für Sie finden werden.“ Er sah sich um und wartete einen Moment, bis die letzten Nachzügler den Raum verlassen hatten. Dann beugte er sich neben Rons Ohr und fügte leise hinzu: „Unser Chauffeur wird Sie zurück zum Bahnhof bringen. Wir treffen uns in zwei Stunden im Restaurant des Hotels Excelsior.“

Danach trat er einen Schritt zurück und fuhr betont laut fort: „Herr Schäfer, wir freuen uns, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, uns Ihre Arbeit vorzustellen. Diese Präsentation war wirklich sehr inspirierend. Kommen Sie gut nach Hause, und lassen Sie bitte wieder von sich hören! Mein Assistent wird Sie zum Auto begleiten. Auf Wiedersehen!“

Mit diesen Worten verließ er den Raum.

Als Gerhardt Fleischmann beim Hotel Excelsior vorfuhr, war Ron Schäfer schon bei seinem dritten Glas Bier. Er fühlte sich am Boden zerstört. Von der Hochstimmung, die ihn auf der Hinreise beflügelt hatte, war nichts übriggeblieben.

Ron kämpfte mit seiner Enttäuschung. Es war so ungerecht. Die harte Arbeit der letzten Wochen, seine neuen Hoffnungen, seine ehrgeizigen Ziele, alles vergeblich. Und er war sich so sicher gewesen, endlich wieder auf der Siegerstraße zu sein. In Gedanken ging er noch einmal die Gespräche durch, die er mit den Vertretern von Future Computing geführt hatte, aber er konnte keinen Fehler entdecken, fand keinen Hinweis auf ein mögliches Missverständnis. Auch die Präsentation war gut gelaufen. Soweit er das beurteilen konnte, waren alle Anwesenden von seinem Spiel begeistert gewesen, auch wenn es hier und da einige kritische Fragen gegeben hatte. Warum also dieser abrupte Sinneswandel?

Ron sah auf die Uhr. Ob dieser Fleischmann wirklich noch kommen würde? Er war schon zehn Minuten über die Zeit. Heute würde ihn nichts mehr wundern.

Andererseits – er mochte den älteren Herrn mit dem verschmitzten Lächeln und hatte den Eindruck, dass ihm zu trauen war. Auch wenn Ron die Zusammenhänge in der Firma nicht kannte, schien es ihm doch offensichtlich, dass das abrupte Ende der Konferenz manche der Anwesenden überrascht hatte. Dies war vermutlich auch der Grund für dieses inoffizielle Treffen in der Hotelbar. Wenn es denn tatsächlich noch stattfinden sollte.

Ein leises Räuspern ließ ihn hochschrecken. Gerhardt Fleischmann stand an seinem Tisch, trotz seines fortgeschrittenen Alters noch immer eine imposante Erscheinung. Sein Anzug wirkte erlesen, aber dezent. Seine weißen, kurzgeschorenen Haare vermittelten eine eigenartige Mischung aus Jugendlichkeit und Erfahrung. Er hatte eine große markante Nase und lustige Fältchen um die Augen.

„Nun lassen Sie den Kopf mal nicht hängen, mein Junge“, sagte er und klopfte Ron väterlich auf die Schulter. Ohne viele Umstände nahm er sich einen Stuhl, winkte den Ober heran und bestellte zwei Bier.

„Möchten Sie etwas essen?“, fragte er, als sie wieder alleine am Tisch saßen.

Ron schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er, „ich habe keinen Hunger.“

„Es tut mir wirklich leid, was da vorhin passiert ist“, sagte der Vertriebsleiter. „Leider bin ich nicht mehr Herr in meinem Haus.“ Ron sah ihn verständnislos an.

„Der Betrieb ist vor ein paar Jahren von den Koreanern übernommen worden“, erläuterte er. „Das war wirtschaftlich nicht zu vermeiden, und vieles ist anders geworden seitdem. Ich habe einen sicheren Job, aber die letzten Entscheidungen hinsichtlich der Firma werden nun in Seoul getroffen.“ Seine Stimme klang bitter.

„Und was heißt das jetzt für mich?“, fragte Ron.

„Sie haben es doch gehört: Future Computing hat kein Interesse daran, X-World zu vermarkten.“

„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das für mich bedeutet?“, entgegnete Ron heftig. „Wir hatten eine Abmachung!“

„Ja, das weiß ich, und bitte glauben Sie mir, wenn ich jemandem mein Wort gebe, dann stehe ich dazu. Aber leider sind mir, was Future Computing angeht, die Hände gebunden.“

„Na prima“, gab Ron bitter zurück, „Ihnen tut alles herzlich leid, und ich kann sehen, wo ich bleibe.“

Gerhardt Fleischmann blieb unbeeindruckt.

„Herr Schäfer, ich halte Sie für ausgesprochen talentiert, und X-World ist das Beste, was ich seit langem gesehen habe.“

„Danke für die Blumen.“ Ron konnte seinen Sarkasmus nicht zügeln. „Ich bin auch sehr zufrieden mit mir, wenn ich das so sagen darf, und wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich das Programm selbst auf den Markt bringen. Leider fehlen mir, offen gestanden, die Mittel dazu.“

„Trotzdem bitte ich Sie weiterzumachen.“

„Haben Sie nicht gehört?“, Ron wurde lauter. Ihm war jetzt alles egal. „Ich bin pleite! Ich kann nicht einmal mehr meine Miete bezahlen!“

„Würden Ihnen fünftausend als Vorschuss erst einmal genügen?“, fragte Gerhardt Fleischmann. Ron glaubte, sich verhört zu haben.

„Was für ein Vorschuss?“, fragte er verwirrt. „Ich denke, das Geschäft mit Future Computing ist gestorben?“

„Ist es auch.“

„Woraufhin bekomme ich dann einen Vorschuss?“

„Auf Ihren Vertrag mit der Prometheus Software AG“, sagte der Geschäftsmann trocken. „Es gibt da nur ein kleines Problem …“

„Und das wäre?“, fragte Ron misstrauisch.

„Die Firma existiert noch nicht.“

Ron starrte ihn entgeistert an.

„Hören Sie“, fuhr Gerhardt Fleischmann fort, „ich möchte Sie nicht mit Details langweilen, die Sie vermutlich ohnehin nicht interessieren. Sie können mir vertrauen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie gut können, und ich werde das tun, was ich gut kann.“

Er wirkte motiviert und entschlossen. Ron fühlte sich auf unerklärliche Weise sicher in seiner Gegenwart.

„Gut“, sagte er nach kurzem Zögern, „ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Also, wie geht es jetzt weiter?“

Der Geschäftsmann griff in die Innentasche seines Sakkos und zog einen dicken Umschlag heraus. „Hier ist erst einmal Ihre Anzahlung“, sagte er. „Den Papierkram regeln wir, wenn ich mit der Firmengründung so weit bin. Bis dahin muss sich jeder von uns auf das Wort des anderen verlassen.“

Das ist nicht die schlechteste Basis, dachte Ron und streckte seine Hand über den Tisch. Gerhardt Fleischmann ergriff sie ernst und schüttelte sie. „Auf gute Zusammenarbeit“, sagte er.

Die beiden Männer sahen sich an. Der ältere räusperte sich. „Sie haben vermutlich mitbekommen, dass es einen neuen Prototyp gibt?“

„Ja“, sagte Ron, „Sie erwähnten bei der Präsentation den Cyberstar 3. Ich dachte erst, Sie hätten sich versprochen.“

„Nein, nein, unsere Entwicklungsabteilung arbeitet momentan mit Hochdruck. Sie wollen den technologischen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern auf jeden Fall halten. Das Neue am Cyberstar 3 ist das haptische Modul.“

„Das was?“ Ron hob den Kopf. Sein Interesse war augenblicklich geweckt.