1918

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7 UHR 15

Im Luftraum östlich des Piave. Drei Sopwith-Maschinen der Royal Air Force vom Typ Camel B.2436, befehligt von Lieutenant A. F. White von der 28. Squadron, befinden sich auf Feindflug, unter ihnen, im strahlenden Morgenlicht, die Tiefebene Venetiens. In der Nähe von Cimadolmo entdecken die RAF-Piloten eine zweisitzige feindliche Hansa-Brandenburg, die in etwa 1.000 Fuß Höhe nach Norden fliegt. White greift sofort an: Er zieht die wendige Camel, mit 1.294 Abschüssen das erfolgreichste Jagdflugzeug des Weltkriegs, steil nach unten, setzt sich in den Rücken des Österreichers, feuert eine mörderische Salve aus seiner vor dem Cockpit montierten Twin Vickers machine gun auf ihn und dreht dann ab, um nicht am Gegner vorbeizujagen und in den Kugelhagel des österreichischen Bordschützen zu geraten. Als Nächster attackiert Lieutenant E. J. Ffoulkes-Jones die Hansa-Brandenburg, auch sein Feuerstoß sitzt im Ziel. Lieutenant Lindsay, der dritte Sopwith-Pilot, hat dagegen keine Chance zum Schuss zu kommen, denn schon ist White wieder an der Hansa-Brandenburg und nimmt sie neuerlich unter Feuer – mit Erfolg: Stark qualmend sackt die österreichische Maschine nach unten weg, streift eine Reihe von Baumwipfeln und kracht dann mit der Schnauze voraus auf ein Feld nördlich von Casa Danela, südlich von Visna. White umkreist die Absturzstelle des Gegners noch etwa fünfzehn Minuten lang, sieht, dass der Beobachter offensichtlich tot neben dem Flugzeugwrack liegt, ansonsten ist keine Bewegung auszumachen.

Plötzlich bemerken die drei RAF-Piloten 12 feindliche Flugzeuge, die in einer Höhe von 8.000 Fuß im Anflug auf die britische Frontlinie im Brückenkopf östlich der Grave di Papadopoli sind. Lieutenant White und seine beiden Kameraden versuchen sofort an Höhe zu gewinnen, um die Österreicher abfangen zu können. Während sie noch im Steigflug sind, geraten die feindlichen Maschinen jedoch bereits in das Abwehrfeuer der britischen Bodentruppen und drehen schließlich in Richtung Nordosten ab, zu hoch und zu schnell, um von den in einer Höhe von 5.000 Fuß fliegenden Sopwith noch erreicht werden zu können. In den Annalen der RAF werden sich White und Ffoulkes-Jones den heroischen Abschuss der Brandenburg auf ihrer scoring list teilen müssen …

Während am Piave das Kriegsdrama seinen Lauf nimmt, beginnt Kaiser Karl, der Oberste Kriegsherr des k. u. k. Heeres, in Schloss Schönbrunn seinen Arbeitstag. Im so genannten Gobelinsaal, den einst auch Napoleon benutzt hat, geht er mit seinem Flügeladjutanten das Programm des Tages durch, dann folgt der erste Termin – Lagebesprechung mit Generalstabschef Arz von Straußenburg. Längst zur Seite geschoben ist unter dem Druck des Krieges der große, schwerfällige, zeremoniöse Apparat der verschiedenen Hofbehörden, Karl legt Wert auf Sachlichkeit und Prägnanz, sucht die rasche Entscheidung. Floskeln, Etikette, all der steife Ballast des Hoflebens früherer Tage gelten ihm nichts. Die Stimmung am Beginn des Gesprächs ist etwas kühl. Arz hat dem Kaiser noch immer nicht ganz verziehen, dass er in der Frage von Graf Andrássys Friedensnote übergangen worden ist und nicht einmal seine Meinung dazu vor Absendung des Schriftstücks äußern konnte. Der Generalstabschef unterrichtet Karl über die Darstellung der politischen Lage, die das AOK in den frühen Morgenstunden den beiden Heeresgruppenkommandos und dem Flottenkommando übermittelt habe. In dieser Nachricht an die Befehlszentralen im Feld, so gesteht Arz offen ein, habe er einen Sonderwaffenstillstand eindeutig abgelehnt, da er persönlich nicht glaube, dass ein solcher Schritt von den Alliierten überhaupt angenommen werden würde. Und er betont, dass man auch die Auswirkungen der Note auf die Soldaten an der Front nur schwer einschätzen könne.

Eingehend und prägnant wie immer referiert der 61-jährige Generalstabschef, Träger des Kommandeurkreuzes des Maria-Theresien-Ordens, dann die Situation an der Front. Die Offensive der Alliierten habe noch nicht wirklich entscheidende Fortschritte gemacht, der befürchtete völlige Zerfall auf den ersten Angriff hin sei nicht eingetreten, bereits vier Tage wehre man sich immerhin erfolgreich. Der Kaiser klammert sich an die dünne Hoffnung, dass man sich bis zum Erreichen eines Friedensschlusses halten werde können, auch Arz schließt dies nicht ganz aus. Alles hänge von der Zuverlässigkeit der Truppen ab, und da gebe die Entwicklung der letzten Stunden doch Grund zur Besorgnis – der von Karl sanktionierte Rücktransport ungarischer Einheiten habe einen wahren Flächenbrand ausgelöst. Psychologisch verständlich, wie Arz erklärt – wer möchte schon gerne nach vorne in den Kugelhagel gehen und als Held sterben, während sich die anderen nach Hause verdrücken können?

Karl aber hofiert die Ungarn, willigt in ihre Forderungen ein, weil er hofft, dass zumindest die Krone des heiligen Stephan für die Dynastie gerettet werden kann – das ist auch die Meinung von Arz, eine Politik, wie sich bald herausstellen wird, die sich auf gefährliche Illusionen gründet – nach dem Krieg wird Karl es besser wissen und verärgert in seinen Aufzeichnungen notieren: Der innere Friede scheiterte an der maßlos dummen Haltung herrschender Cliquen von Deutschen und Ungarn …

Der junge Kaiser und sein Generalstabschef können an diesem kühlen Oktobermorgen aber auch nur schwer die Augen davor verschließen, dass sie beide an der explosiven Situation im Inneren, die sich nun so belastend für die Front zeigt, nicht unschuldig sind. Am Abend des 16. Oktober, nach langen Diskussionen über den endgültigen Text, hatte Karl die Veröffentlichung des so genannten „Völkermanifestes“ befohlen, mit dem man ein radikales Zeichen nach außen setzen wollte, tatsächlich aber eine gewaltige Lawine im Inneren lostrat: die Umwandlung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn in einen Bund von Nationalstaaten. Die entscheidenden Sätze hatten gelautet:

„Österreich soll dem Willen seiner Völker gemäß zu einem Bundesstaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiete sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet … Diese Neugestaltung, durch die die Integrität der, Länder der heiligen ungarischen Krone‘ in keiner Weise berührt wird, soll jedem nationalen Einzelstaate seine Selbstständigkeit gewähren … Bis diese Umgestaltung auf gesetzlichem Wege vollendet ist, bleiben die bestehenden Einrichtungen zur Wahrung der allgemeinen Interessen unverändert aufrecht …

An die Völker, auf deren Selbstbestimmungsrecht das neue Reich sich gründen wird, ergeht Mein Ruf, an dem großen Werke durch Nationalräte mitzuwirken, die – gebildet aus den Reichsratsabgeordneten jeder Nation – die Interessen der Völker zueinander sowie im Verkehr mit Meiner Regierung zur Geltung bringen sollen.“

Mit der Zauberformel „Selbstbestimmungsrecht für die Völker der Monarchie“ hatte man gehofft, das Wohlgefallen von policeman (Karl Kraus) US-Präsident Wilson zu finden, wurde darin aber bitter enttäuscht: In seiner Antwort vom 20. Oktober ließ Wilson keinen Zweifel daran, dass es für diesen Schritt Kaiser Karls bereits zu spät gewesen sei. Inzwischen habe man die Tschechoslowakei als Krieg führenden Staat und Verbündeten anerkannt, ebenso die nationalen Ansprüche der Jugoslawen. Er sehe sich daher nicht mehr in der Lage, „die bloße Autonomie dieser Völker als Grundlage für den Frieden anzuerkennen, sondern ist gezwungen, darauf zu bestehen, dass sie und nicht er Richter darüber sein sollen, welche Aktion auf seiten der österreichischungarischen Regierung die Aspirationen und die Auffassung der Völker von ihren Rechten und von ihrer Bestimmung als Mitglieder der Familie der Nationen befriedigen wird … “

Während sich so das „Völkermanifest“, das sich im Übrigen durch die dem multinationalen Ungarn zugestandene Klausel selbst ad absurdum führte, nach außen hin als völlig wirkungslos erwies, bewirkte es im Inneren eine verhängnisvolle Beschleunigung jener Entwicklungen, die den Zerfall Österreich-Ungarns herbeiführen: So wie das Manifest es angeregt hatte, bildeten die einzelnen Nationen sofort „Nationalräte“. Diese dachten jedoch nicht im Traum daran, die Oberhoheit Habsburgs weiter anzuerkennen und ihre Schritte in einem gesetzlichen Rahmen zu halten, sondern lieferten sich nun ein wahres Wettrennen um die Verteilung der „Beute“. Und bei allen – den Tschechen ebenso wie bei den Deutsch sprechenden Österreichern, bei den Polen ebenso wie bei den Ukrainern – war die Angst groß, dass man zu kurz kommen, die Konkurrenz besser abschneiden könnte. Das Konfliktpotential, das so aktiviert wurde, war unabsehbar – in Ostgalizien und den sudetendeutschen Gebieten sollte es bald zu blutigen Auseinandersetzungen kommen …

Der Agrarstaat Österreich-Ungarn ist nach über vier Jahren Krieg zu einem Reich des Hungers geworden. Besonders betroffen: die Metropole Wien. Angewiesen auf regelmäßige Lebensmittellieferungen aus Ungarn, Böhmen, Mähren und Galizien, wird die Krise des Staates für die Hauptstadt zu einer Frage von Leben oder Tod.

Wer in Wien am Wochenende zu einem kostbaren Stückchen Fleisch auch seine letzten Kartoffeln verspeist hat, muss heute ohne die gewohnte Knolle auskommen: Die „Kartoffelquote“ für diese kurze Arbeitswoche – Freitag, der 1. November, ist Feiertag – sieht vor, dass man gegen Abtrennung des Abschnittes E auf der Lebensmittelkarte von Dienstag bis Donnerstag zum Preis von 72 Heller 1 kg Kartoffeln kaufen kann – mehr ist nicht möglich. Aufgrund des drohenden Lieferungsboykotts durch Böhmen und Galizien scheint selbst dies gefährdet.

Unser „tägliches Brot“ gibt es nur mehr sehr eingeschränkt: Genau 1260 Gramm pro Woche sind für den Nichtselbstversorger vorgesehen, wer nachweislich schwer arbeitet, hat immerhin 1920 Gramm zur Disposition – sofern das Brot überhaupt erhältlich ist und man die Nerven zum stundenlangen Schlangestehen hat. Fleisch ist zu einem wahren Luxus geworden: Selbst für den schwer arbeitenden Nichtselbstversorger sieht die amtliche Regelung nur eine wöchentliche Ration von 125 Gramm vor; als Ergänzung dazu noch 60 Gramm Fett; minimale 40 Gramm Fett darf der „normale“ Nichtselbstversorger verbrauchen – so die Theorie; tatsächlich sind seit 20. Oktober die zur Verteilung gelangenden Mengen oft noch geringer; für die Herstellung von Margarine fehlt es wiederum an Kohle.

 

Auch die Versorgung mit Milch ist streng rationiert: Ein Achtelliter pro Tag muss genug sein, ausgenommen sind nur stillende Mütter und Kinder bis zum vollendeten 1. Lebensjahr: Sie erhalten 1 Liter täglich, Kinder bis zum 2. Lebensjahr immerhin noch einen halben Liter, bis zum 6. Lebensjahr gibt’s einen Viertelliter.

Selbst mit jedem Stäubchen Mehl muss sorgfältig umgegangen werden: Pro Person sind wöchentlich nur mehr 250 Gramm erlaubt – im Jahre 1916 sind es noch 500 Gramm gewesen. Der Zuckerverbrauch ist mit 0,75 kg pro Monat und Nichtselbstversorger limitiert.

Infolge einer Verordnung des Ernährungsamtes sind vom Wiener Marktamt neue Äpfel- und Birnenpreise festgelegt worden: Tischäpfel aus Ungarn kosten nun 3 Kronen 80 Heller je Kilo, Wirtschaftsäpfel 3 Kronen 40 Heller und Mostäpfel 3 Kronen 20 Heller je Kilo; auch für böhmische Äpfel gilt ein Durchschnittspreis von 3 Kronen 80 Heller. Birnen aus Ungarn kann man für 3 Kronen 50 Heller je Kilo erstehen, böhmische Birnen kommen auf 3 Kronen 70 Heller. Wer Obst kaufen will, muss sich jedoch beeilen: Aus Ungarn sind nur 20.600 kg Äpfel angeliefert worden, dazu noch 7.560 kg Weintrauben und 635 kg Hagebutten – das Obst ist blitzschnell ausverkauft.

Etwas besser ist die Lage bei Gemüse: Am Naschmarkt sind aus Böhmen 142.350 kg, aus Ungarn immerhin 126.000 kg Weißkraut eingetroffen sowie 22.150 kg Rotkraut. Aus Galizien kommen zehn Waggons mit Kartoffeln, aus Niederösterreich werden 12.500 kg Karotten und 9.250 kg Möhren sowie 650 kg Fisolen angeliefert. 15.540 kg böhmische Speiserüben, 10.550 kg Wruken und 32.600 kg ungarische Kürbisse ergänzen das Angebot; aus Ungarn, dem bedeutendsten Gemüselieferanten der Wiener Märkte, kommen 40.890 kg Karotten, 14.975 kg gelbe Rüben, 36.750 kg Stoppelrüben, 25.670 kg Zwiebeln und 24.600 kg Knoblauch. Reich ist das Angebot an Pilzen, allein an Hallimasch verfügen die Händler über 4.580 kg.

Dramatisch dagegen ist die Versorgungslage bei Fleisch und Wurstwaren: In der Großmarkthalle Inzersdorf gelangen nur 500 kg verschiedener Würste zum Verkauf; einen Lichtblick stellen die neun Waggons mit 1.996 Schafen (29.700 kg) dar, die aus Ungarn in St. Marx eintreffen. Per Achse – so die Tagesstatistik – belaufen sich die Zufuhren auf 15 kg Rindfleisch und 1.381 kg Würste.

Eine erfreuliche Neuigkeit gibt es für die Mitglieder des „Reichswirtschaftsbundes der Festangestellten“: In der Zentrale im 3. Bezirk, Hohlweggasse 30, kommen am Vormittag lebende Gänse zum Verkauf; in der Kleiderverkaufsstelle in der Hohenstaufengasse 10 sind Kindermäntel und Pelzkrägen eingelangt.

Auch der „Konsumverein von Bankangestellten“ hat für seine Mitglieder wieder erfolgreich Waren organisiert: Im Verkaufslokal Schottenbastei 10 bekommt man Mahlprodukte, Kriegskaffee, Seife, Salz und Spiritus; wesentlich größer ist die Bandbreite der angebotenen Produkte im Verkaufslokal in der Rockhgasse 2 – hier, in einem kleinen Paradies von Köstlichkeiten, das an die reiche Warenwelt der Vorkriegszeit erinnert, gibt es verschiedene Mineralwässer, Essig, Zitronenessenz, „Teerumersatz“, Kognak, Senf, trockenes Suppengemüse, Suppenwürfel, Kümmel, Paprika, Streichkäse, ungarische Zwiebeln, Rosinen, Heringe, Eier, „Eßfeigen“, „1a-Brimsen“, Bier, Fleischkonserven und „nach Einlangen“ sogar Backpulver. Wer von den Bankangestellten Bundholz benötigt, kann dieses im Magazin in der Helferstorferstraße 4 erstehen, vorher allerdings ist das Bundholz in der Kanzlei des Konsumvereins, Schottenbastei 6, zu bezahlen.

Wer sich dagegen als eingeschriebenes Mitglied des „Wirtschaftsvereins der RFO“ ausweisen kann und einen Familiennamen führt, dessen Anfangsbuchstabe zwischen F und K liegt, hat heute im Verkaufslokal des Vereins in der Hofmühlgasse 14 immerhin die Möglichkeit, einige Eier zu erstehen. Und in den Verschleißmagazinen 8, 12, 15, 16 und 18 werden neben den „rayonirten Artikeln“ auch Sultaninen, Haselnüsse, Puddingpulver, Fleischkonserven, Zitronenersatz, Labsal, Schuhwichse, Schuhcreme, Lederfett, Senf und so wichtige praktische Dinge wie Waschpulver, Soda, Schmierseife und Reibbürsten feilgeboten.

Nicht zuletzt werden von der Preisprüfungsstelle Wien auch die Richtpreise für Brennholz festgelegt – angesichts der sinkenden Temperaturen und des Kohlemangels von elementarer Bedeutung im Kampf gegen den Wucher: Für den Raummeter Scheiter und Prügel mit nicht mehr als 10 Prozent schadhaften oder angefaulten Stellen stehen dem Erzeuger ab zufahrbarem Aufstellungsorte im Walde zumindest 26 Kronen zu, für weiche Auholzscheiter von 13 Zentimetern Stärke zumindest 21 Kronen, für den Raummeter Bürdelholz zumindest 18 Kronen. Der Großhandel, das ist der Verkauf in Mengen von einem Waggon aufwärts, darf 8 Prozent, jedoch nicht mehr als 14 Kronen pro Raummeter ab Verladestation aufschlagen, der Kleinhandel 7 Heller pro Kilogramm zuzüglich der Kosten für das Schneiden und Zerkleinern des Holzes. Für Schneiden und Grobhacken darf der Kleinhändler pro Raummeter 10 Kronen in Rechnung stellen, für Schneiden und Kleinhacken 12 Kronen; erledigt er diese Arbeit mit einer Maschine, stehen ihm nur 7 Kronen pro Raummeter zerkleinerten Holzes zu.

Und es wäre nicht der k. u. k. Staat, hätte man nicht zur strengen Überwachung all der Regeln und Limits, der Beschränkungen und Begrenzungen in dieser Hungerkrise eine eigene Behörde gegründet: das Kriegswucheramt. Seine Beamten haben Tag und Nacht zu tun, sind mit Feuereifer bei der Verfolgung der Volksausbeuter. Und so ertappen sie einen Übeltäter nach dem anderen: etwa die Milchverschleißerin Katharina Fleischmann, wohnhaft Sonnbergplatz 6 im 19. Bezirk – ihr weist man nach, dass sie absichtlich Milch sauer werden lässt, um diese dann zur lukrativen Buttererzeugung zu verwenden. Die strenge Revision der Überwachungsorgane in der Milchverschleißstelle fördert denn auch sieben Kilogramm Butter und eine größere Menge Rahm zutage. Nach Abschluss der Amtshandlung wird Katharina Fleischmann wegen Veruntreuung und Betrug sowie Übertretung des Lebensmittelgesetzes und Preistreiberei bei der Staatsanwaltschaft angezeigt – eine empfindliche Strafe ist ihr gewiss. Was die Verteilung der Milch durch die Molkereien selbst betrifft, so werden auch hier immer häufiger Unregelmäßigkeiten beobachtet: Selbst an eineinhalbjährige Kinder, berichtet etwa die Reichspost, wird die Hälfte der vorgesehenen Milchmenge in saurer Milch ausgegeben.

Hunger im Herbst: Auf den abgeernteten Feldern in der Umgebung Wiens sucht man nach Essbarem.

Einen besonderen Fund machen die fleißigen Kontrollore bei einem Bürstenbinder auf der Landstraße, der im Verdacht steht sich durch Schleichhandel ein Zubrot zu verdienen: eine lebende Milchkuh, die seit einem Tag in seiner Werkstatt eingestellt ist. Der Handwerker hat einigermaßen Erklärungsbedarf, denn zu seinem Pech ist die brave Kuh als gestohlen gemeldet, ja, auf ihre Wiederbeschaffung ist sogar eine Belohnung von 1.000,- Kronen ausgesetzt.

Ein beliebter Treffpunkt der Wiener Schleichhändler ist in den letzten Oktobertagen 1918 das Café des Hotels National in der Taborstraße im 2. Bezirk. Verfügt man über das nötige Geld, so kann man hier bei reicher Auswahl erwerben, was das Herz begehrt, zum Beispiel Schuhe und Textilien in bester Qualität oder auch Medikamente, die aus den Apotheken bereits verschwunden sind. Allerdings: Auch hier lauern die Spürhunde des Kriegswucheramtes auf Käufer und Verkäufer. Und wer frisches Obst kaufen will, muss sich des Nachts auf die Praterstraße begeben: Schlaue Händler, die es leid sind, ihre schöne Ware zum regulierten Marktpreis abgeben zu müssen, verkaufen hier in dunklen Ecken die begehrten frischen Vitamine zu wahren Rekordpreisen – immer mit dem Risiko, dass sie plötzlich einem Beamten ins Auge blicken.

Auch Privatwohnungen sind vor dem Zugriff des Kriegswucheramts nicht geschützt: In der Woche vom 21. zum 26. Oktober werden von seinen Beamten 163 Beschlagnahmungen in privaten Unterkünften vorgenommen; die Mengen, die gefunden werden, sind zum Teil beachtlich: Einer der kontrollierten Haushalte hortet immerhin 100 kg Mehl und 40 kg Zucker – und zwölf Paar neue Damenschuhe.

Die hungernden Menschen sind der guten Ratschläge müde geworden: „Wir haben in den letzten vier Jahren so viel theoretisch gekocht, dass wir fast das praktische Kochen darüber verlernt haben, und der Mehlspeisen ohne Mehl, Fett, Ei und Zucker sind wir alle schon einigermaßen müde geworden. Sie schmecken im besten Fall nach gebratener Luft und eingebrannten Illusionen!“, hatte am 23. Juni 1918 eine Journalistin der Arbeiter Zeitung anlässlich einer „Ersatzmittel-Ausstellung“ im Prater sarkastisch festgestellt.

Auffallend sind im Straßenbild die vielen Männer in Uniform, Soldaten, die traurigen Gespenster der Front. Mit den umjubelten Helden von 1914 haben diese trostlosen Elendsgestalten jedoch nichts mehr zu tun. Mit ihnen, die erdgrau, dreckgrau, grabesgrau durch die Stadt ziehen, in einer brenzligen Gestankhülle von getrocknetem Schlamm und Karbol, will nun niemand mehr etwas zu tun haben. Zurückgekehrt aus dem Reich des Todes müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass sie für das Vaterland, das sie vier Jahr hindurch unter Einsatz ihres Lebens verteidigten, nicht viel mehr als unappetitliche Pechvögel sind, Bazillenträger, denen man besser aus dem Weg geht. Sie sind auferstandene Tote, die sich in der Heimat nicht mehr zurechtfinden, ausgespuckt von der „großen Zeit“, Verlierer und Depravierte, die mit den erstaunten Augen aufgerüttelter Schläfer auf eine ihnen fremde Welt blicken. Wer überleben will, muss die Augen immer offen halten, muss immer bereit sein zuzuschlagen, kostbare Beute zu erhaschen: Wurst ohne Fleischkarte, Fischkonserven, Obst, ein Paket Würfelzucker – der Rucksack ist deshalb notwendiger Begleiter, wenn man in der Stadt unterwegs ist; hier wird verstaut, was man in dunklen Hausfluren eingetauscht oder zu weit überhöhten Preisen gekauft hat. Männer und Frauen tragen ihn, Arme und Reiche, Arbeiter und Bürger, Schleichhändler und Schieber, unermüdliche Hamsterer und geborene Abenteurer der Verproviantierung, die Rutengänger verbotener Genüsse und die einfache Hausfrau, die ihre Familie versorgen muss. Diese Aufgabe erfordert Strategien: Man muss geschickt mit Brotkarten, Fettkarten, Fleischkarten, Zuckerkarten jonglieren, darf nie den Überblick über Angebote und Termine verlieren, muss immer bereit sein zu stundenlangem Schlangestehen.

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