Frühlingsfahrt

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From the series: Lindemanns #139
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Als der Dreizehnjährige die Bestürzung in des Vaters Augen sah, ergänzte er obenhin: „Naja, keine Bange, ich komm dich schon besuchen, wenn der Ramon hier eingezogen ist. Hast du eigentlich schon ’ne Wohnung?“

Mechanisch, ohne zu antworten, zog Nikolaus die Tür hinter sich zu. Irgendetwas rieselte beständig in seinem Inneren herab. Würde er demnächst zusammenbrechen? Vermutlich. Auf dem Weg in den Keller nahm er, ohne es recht zu bemerken, ein Lämpchen mit, das ihm Annedore hingestellt hatte. Ach ja, sein Kellerreich und die Treppe dorthin! Noch während der Stillzeit hatte ihn die junge Mutter eines Nachmittags damit überrascht, dass sie ihn in den ehemaligen Hobbykeller führte und ihm selbigen als künftigen Schlafplatz zuwies. Die Tischtennisplatte – ein wenig voreilig für das erwartete Kind angeschafft – stand zusammengeklappt an der Wand; in der Mitte prangte Annedores altes Sofa, Relikt leichterer Zeiten, wie sie sich auszudrücken beliebte, da sie noch häufig triebfreudigen Herrenbesuch empfing. Die gakelige, fleckige Liegestatt hatte sie fein säuberlich mit Spannbettbezug verdeckt – immerhin. Bis auf wenige Ausnahmen verbrachte Nikolaus die Nächte der nächsten dreizehn Jahre dort. Seine Nackenschmerzen nahmen zu, aber auch das war auszuhalten.

Das lichtlose Lämpchen in der Hand, näherte sich Nikolaus seinem Verlies. Ein weiteres Ritual Annedores bestand darin, dass sie ihm nach und nach all das, was sie einst miteinander verbunden hatte, sämtliche Geschenke, alle gemeinsam angeschafften Haushaltsdinge, jedwedes Ding, das sie auf welche Weise auch immer an den ohne Angabe von Gründen Verstoßenen erinnern mochte, auf die Treppe stellte: grundsätzlich auf die zweite Stufe von oben, Stück für Stück Demütigungen, Kennzeichen einer mitleidlosen, irreversiblen Austreibung.

Im Souterrainzimmerchen angekommen, drehte sich Nikolaus ein paarmal im Kreis. Er wusste durchaus nicht mehr, was er hier unten beginnen sollte. Der Schock, wiewohl vorbereitet durch vierzehn Jahre, wirkte sich aus; Nikolaus ruderte mit den Armen, ohne Halt zu finden. Dann schnürte er durch den dunklen Gang auf sein Privatklo, setzte sich und vergaß seine Notdurft zu entrichten. Er zog ab, schlich wieder zurück ins Zimmerchen, nahm die Jacke vom Stuhl und den Schlüssel vom Tisch. Als er sein Handy liegen sah, kam ihm der Gedanke, es gegen die Wand zu werfen. Doch er fürchtete Annedores Gezänk und den Schreck, den Nikolaus davontragen könnte. Also ließ er’s liegen und verriegelte die Tür mittels einer Spezialvorrichtung, die er einst selbst gebastelt hatte.

Der Weg nach oben, zur Haustür, war nur von dem einzigen Gedanken bestimmt: Niemand möge ihn jetzt ansprechen, auf keinen Fall Annedore, aber auch Valentin nicht, dessen Ignoranz ihm den größten Schmerz bereitet hatte. Vorsichtig, wie ein Tierpräparator ein totes Vögelchen, berührte er den Knauf der Haustür. Es klickte. Zu laut.

Bevor Nikolaus in die Nacht hinaustrat, hörte er es von drinnen gellen: „Haust du jetzt ab oder was?“

Nikolaus behielt den Schlüssel in der Hand, schlenkerte ihn unbewusst wie ein Spielzeug. In der anderen Hand trug er die Jacke. Es war die laueste Nacht seit dem letzten September, zeitige Wärme war schon vor Tagen den Rheingraben hinaufgeweht, hielt sich an den Hängen der Bergstraße fest. Langsam ging er geradeaus, unbekümmert um Ziel und Richtung. Wohl kam ihm der Gedanke, das Auto zu nehmen und loszufahren; Nikolaus redete sich ein, er verzichte darauf aus Verantwortung – denn wer weiß, vielleicht würde er absichtlich und mit Wucht auf irgendeinen Brückenpfosten zusteuern ... Dabei war ihm klar, dass er sich einzig und allein für den Spaziergang entschieden hatte, weil Annedore das Auto morgen früh benötigte. Und wo war er morgen früh? Er, Nikolaus Henn, der Dödel?

Ja, wo sollte er überhaupt jetzt hin? Er, der „Hannebambel“, wie ihn Oschi zutreffend beschrieben hatte, der außer Valentin keinen Menschen mehr kannte, der ihn mochte? Und auch dies schien seit heute Abend fraglich. – Es trieb Nikolaus zu dem Spielplatz, den er vor einem Jahrzehnt mehrmals täglich aufgesucht hatte, als sorgeberechtigte Begleitung des Kleinen: jeweils mit präziser Zeitangabe versehen, wie lange er sich hier aufzuhalten und wann er heimzukehren habe. Annedore brauchte eben Ruhe.

Unter einer Linde, die noch kahl war, ließ sich Nikolaus auf die wohlbekannte Bank nieder. Er betrachtete die Spielgeräte im Laternenlicht. Einerseits war es damals unendlich langweilig gewesen, Stunden über Stunden hier zu verbringen, in der selten anregenden Gesellschaft akribischer Mütter, die ihn mehr duldeten als schätzten. Zum andern hatte er seinerzeit eine Aufgabe, war gewissermaßen sozial akzeptiert im Kontakt zu diesem Kind, dessen Existenz ihn hinwiederum an eine Frau band, die ihn zu verabscheuen schien, warum auch immer. Nikolaus streckte die Beine aus, lehnte den Kopf nach hinten. Weiche Regenspritzer trafen ihn im Gesicht. Ah, Frühlingsregen, dachte er, ohne etwas dabei zu empfinden. Eine Melodie ging ihm durch den Kopf, eine lange nicht mehr gehörte. Er kam nicht drauf.

Früher, das wusste er, hatte er das Lied oft gesungen. Seit langem beschränkte er sich darauf, seine einst vorzüglich ausgebildete Stimme im Kirchenchor hören zu lassen. Bei den Aufführungen sang er so leise wie möglich, um nicht aufzufallen. Dieser Kirchenchor ... Nikolaus litt unter den quietschenden, verheulten Einsätzen zumal der älteren Soprane, durfte sich jedoch durchaus nicht beschweren: denn einer, der beinahe einmal die Laufbahn zum professionellen Sänger eingeschlagen hätte, ist in einem Vorstadtkirchenchor selbstverständlich fehl am Platz. Wie war er dort nur hineingeraten? Richtig, Annedore hatte gemeint, es könne nicht schaden, wenn man in der Gemeinde ein wenig Präsenz zeige ... zumal der liebe Valentin dort getauft worden war und die Kommunion erhalten hatte.

Durch ein Kichern wurde Nikolaus aus seinen Gedanken aufgescheucht. Es war ihm sogleich unangenehm, dass man ihn spätabends auf einem Kinderspielplatz alleine antraf. Wieder einmal gab er keine gute Figur ab – das fanden auch die fünf Jugendlichen, vier Burschen und ein Mädchen, die sich ihm gegenüber auf der anderen Bank niedergelassen hatten. Ein wenig blöde schaute er hinüber, sein Gesicht war nassgeregnet. Am lautesten lachte das Mädchen.

„Voll das Opfer“, tuschelte es ihren Begleitern zu. Einer von diesen, er trug eine kurze Jeansweste und war an den Oberarmen tätowiert, spielte den Fürsorglichen.

Indem er treuherzig mit dem Kopf wippte, beugte er sich vor und lehnte die Unterarme auf die Oberschenkel. „Ey, wenn wir dir irgendwie helfen können ...?“

Für seine Freunde war das zu viel. Kreischend vor lachen, klatschten sie einander ab, wischten sich Tränen aus den Augen. Das Mädchen schlug vor Übermut auf den Überfreundlichen ein und nannte ihn „Sozialheimer“. Auch dieser musste nun über seinen Witz lachen – zu Nikolaus’ Erstaunen, denn er hatte das Angebot ernst genommen.

Bis zur Halbglatze von Schauern der Scham überzogen, stand Nikolaus geschwinde auf. Um den Spielplatz zu verlassen, musste er direkt an dieser Bank voller Schadenfreude vorbei. Er überlegte, ob er lieber den rückwärtigen Zaun überklettern solle. Nein, das wäre nun doch übertrieben. Was kümmerten ihn ein paar harmlose Halbwüchsige? Er hatte anderen Kummer. In der Mitte des Spielplatzes befand sich ein Sandkasten; das hätte Nikolaus eigentlich wissen müssen – doch im Dunkeln stolperte er hinein, strauchelte und schlingerte auf das Türchen zu. Diese neuerliche Einlage gefiel seinem Publikum über die Maßen. Einer der Jungs röchelte am Boden und flehte, der Fremde solle doch bitte, bitte aufhören mit seiner Show. Es sei zu großartig. Während Nikolaus das Türchen durchschritt, vernahm er abermals das Wort „Opfer“. Diese darwinistische, hundserbärmlich gemeine Jugendsprache hatte ihn schon immer angewidert; doch in seinem Innern musste er den Nachtschwärmern recht geben.

Kaum hatte er sich ein paar Schritte entfernt, fiel ihm ein, dass der Schlüssel noch auf der Bank lag. Seine Rückkehr wurde mit großem Hallo begrüßt.

„Haben Sie es sich anders überlegt?“, machte sich der Chef-Zyniker zum Vergnügen seiner Beisitzer erneut über Nikolaus lustig.

„Der hat wahrscheinlich Sehnsucht nach uns“, stöhnte das Mädchen.

„Ja klar, nach dir!“, vermutete ein Rothaariger mit Bürstenschnitt. Und ergänzte: „Ey, wollen Sie die haben? Fünfzig Euro! Nee, hundert!“

Während das Mädchen wieder einmal wild drauflosprügelte, diesmal den Rothaarigen, sah sich Nikolaus genötigt, auch an dieser Stelle seine Demütigung komplett zu machen. So, als hätte er mit den Fünfen einen fröhlichen Abend verlebt, gab er überflüssiger Weise den Grund für sein abermaliges Auftauchen an: „Schlüssel vergessen.“

Dabei kam auch ihm seine Stimme so dünn und knabenhaft vor, dass er sich über den erneuten Lachsturm auf der Bank keineswegs wunderte.

Noch lange hörte er die Jugendlichen hinter sich gackern und jubeln. Wie konnte er sich nur so verhöhnen lassen? Den Einfall, ein weiteres Mal zurückzukehren, um die Unverschämten zur Rede zu stellen, vielleicht sogar zu züchtigen, setzte er glücklicherweise nicht in die Tat um; wer weiß, wie er sich bei diesem Unterfangen blamiert hätte ... Womöglich wäre er gestürzt und der muskulöse Menschenfreund hätte ihm die Kehle zugedrückt. Nun ja, eine Möglichkeit.

Der Regen fiel gleichmäßig, nicht sehr ergiebig, doch es genügte, um die Kleidung nach und nach vollständig durchzuweichen. Für eine halbe Stunde bot das Neubauviertel die öde Silhouette für Nikolaus Henns seltsame Nachtwanderung. Kahle weiße Häuser, Autos davor, Mülltonnen, ordentlich abgestellt, fabelhaft hässliche Laternen ... Allmählich bildete sich eine Idee heraus: Er würde ins Zentrum vordringen, in die Altstadt. Am Studentenwohnheim wollte er stehenbleiben, dort, wo er einmal gewohnt hatte. In „leichteren Zeiten“, wie Annedore sich auszudrücken beliebte. Er würde hinunter zum Neckar spazieren und am Ufer sitzen bleiben. Von dort aus würde man weitersehen.

 

Jede Menge Lebende

Im Kelterhof zu Großvillars sah man sich in diesem Frühjahr mit einer in diesem Ausmaß und zu solcher Zeit ungewöhnlichen Problemlage konfrontiert: Es war viel zu trocken, seit Wochen schon. Nur ab und zu spritzte es einmal vom Himmel, rasch verdunstend, nicht nennenswert. Man sprach bereits vom trockensten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – wobei aufmerksamen Zeitgenossen auffallen musste, dass an diesen Meldungen über permanente Rekorde irgendetwas nicht stimmen konnte: der wärmste Sommer, der kälteste Winter, der windigste Herbst, der trockenste Frühling ... und alles und immer: seit Beginn der Wetteraufzeichnungen! Hat es denn früher überhaupt kein Wetter gegeben? War denn alles immer nur wohlausgewogene, nach Bedarf steuerbare, lebensfreundliche Normalität gewesen? Armin Schäufele ließ sich nicht nervös machen. Er ruhte in dem Bewusstsein, dass seine Reben tief genug wurzelten. Die meisten waren vor über dreißig Jahren gepflanzt; ein paar Wochen Trockenheit würden sie leicht überstehen. Ein zeitiger Austrieb brachte allerdings das Risiko mit sich, dass der Frost die jungen Triebe zerstört. Zudem, den Junganlagen täte baldmöglichst etwas Feuchtigkeit wohl ... Nun, man würde abwarten. Bislang war dem Winzer noch immer etwas eingefallen.

Die Weinberge Großvillars liegen zum überwiegenden Teil an geschützten Hängen. Großflächenweinbau wie in Rheinhessen oder in der Pfalz ist im gesamten Kraichgau unbekannt; man hatte es stets mit kleinen Parzellierungen zu tun. Bereits im Spätmittelalter waren die Reben aus der Ebene hinauf an die Hänge gewandert; gut beratene Fürsten hatten der Volksernährung den Vorzug gegeben: „Wo ein Pflug kann gehen, soll kein Rebstock stehen“, hatte man dekretiert. Von dieser Maßnahme profitieren die Winzer bis heute. Doch der klimatische Vorzug der steilen Lagen wirkt sich nicht nur auf den Schutz der Trauben aus: Auch die Qualität der Weine ist entsprechend hoch ... und wird von Jahr zu Jahr höher. Die Weinbauern lernen dazu; seit Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts schicken immer mehr Winzer ihre Kinder an die önologischen Hochschulen und weit, weit hinaus in die neue Weinwelt. Wenn die Sprösslinge heimkehren, bleibt meist wenig, wie es vorher war. Neue, wirksamere Methoden unterstützen den Weinbau auf einem Niveau, das man in Deutschland früher für unerreichbar gehalten hatte.

Bisweilen ähneln die neuesten Verfahrensweisen den allerältesten verblüffend. Armin Schäufele war nie Freund von Herbiziden und Chemie gewesen. Nun hatte er sich entschlossen, sein Weingut komplett auf ökologisches Wirtschaften umzustellen. Das bedeutete mehr Arbeitsstunden, mehr Aufwand, größeres Risiko – freilich. Doch in den Augen des Autodidakten, der nicht in Großvillars geboren war, gab es keine Alternative. Mit Elan bildete er sich fort, unterwies die vielen Helfer und entwickelte über die Jahre ein Produktsortiment, das mit den alten Tagen, da man schlichte Besen-Weine herstellte, immer weniger gemein hatte. – Oh ja, der Besen! So hatte man begonnen. Die Schäufeles zweifelten nie daran, dass ein Gutteil ihres Anfangserfolges auf die heimelige Atmosphäre ihres Wirtshauses zurückzuführen war, des Kelterhofes. Auch wenn die Gaststätte längst vollkonzessioniert war und zutreffendermaßen inzwischen „Weinwirtschaft“ hieß, hatte man doch verstanden, Interieur und Speisekarte in den vielen Punkten zu erhalten und nur behutsam zu bereichern und zu erneuern – ohne dabei, wie dies oft geschieht, die Stammgäste zu verschrecken.

Viele Dörfer würden sich glücklich schätzen, wenn sie eine solche omnisensuelle Wohlfühleinrichtung wie den Kelterhof ihr Eigen nennen könnten. In Großvillars wäre das natürlich nicht anders; doch ein Spezifikum besteht hierorts darin, dass man über eine unerhörte Dichte an Gasthäusern und Besen verfügt; bei einer Erhebung des höchsten Pro-Kopf-Koeffizienten käme das Dörfchen wahrscheinlich sehr weit nach vorne. Drei Besen und ebensoviele Gasthäuser bei gerade einmal knapp eintausend Einwohnern zeugen von einer beeindruckenden Hochschätzung der Freuden des Lebens – eine erstaunliche Entwicklung, bedenkt man die Vorliebe der Dorfgründer, jener grausam aus dem Alpenraum vertriebenen Waldenser, fürs Karge, fürs Asketische.

Welch ein Wunder: Das Örtchen ist unter dem Andrang der gastronomischen Vagabunden aus Bretten, Pforzheim, Karlsruhe nicht zusammengeknickt. Stets sind sie auf der Suche nach dem Wahren, Guten und Leckeren, dabei Günstigen, am besten Preiswerten, vorzugsweise aus eigener Produktion und frisch, nach Hausmannsart. Und vor allem: üppig bemessen. Im Gegensatz zu Vorzeige-Weindörfern wie Rust oder Rhodt unter Rietburg ist man in Großvillars erfreulich bodenständig und im Kerne unbehelligt geblieben; auf Fußgängerzonen mit Blumenkübeln hat man bislang weise verzichtet. Die brauchte es nicht, denn nur eine zu Hauptverkehrszeiten gelegentliche frequentierte Landstraße führte mitten durch den beschaulichen Ort, zwei Buslinien stoppen an der Kirche; wer sich bescheidet und weder zu früh noch zu spät nach Bretten oder Oberderdingen zu gelangen wünscht, findet auf diese Weise, auch ohne Besitzer eines Fahrzeugs zu sein, Anschluss an die Außenwelt.

Bereiten wir uns doch das Vergnügen und lernen die Örtlichkeit näher kennen, indem wir uns zugleich mit den wichtigsten Personen vertraut machen, die den Kelterhof bewohnen, bewirtschaften, beleben. Wir suchen sie der Reihe nach auf, wie sie an jenem Märzentag, als Nikolaus Henn, geborener Grashof, in Heidelberg seine nachmals so berühmte Fußreise startete. Beginnen wir am besten mit Edelbert Schicke, den wir bereits im ersten Kapitel bereits am Weinberghäusle antrafen. Er hat es sich verdient ... nicht allein deshalb, weil er im kommenden Herbst derart furchterregende Dinge erleben wird, sondern weil der Mann eine Zentralstelle in der Arbeit des Kelterhofs einnimmt: Er zeichnet verantwortlich für die Bewirtschaftung der Weinberge in den Lagen namens Klott, Wilfenberg und Soßberg. Letztgenanntes Rebstück klingt richtig lecker, darf aber, wie so viele berühmte Einzellagen, gar nicht mehr so heißen, da die Weinbürokratie von 1971 in hybridem Eifer die Winzer zu Vereinheitlichungen zwang. Seither gibt es im Rund nur noch die Kupferhalde, die gemeinhin mit Oberderdingen in Verbindung gebracht wird.

Am fraglichen Morgen ist Edelbert Schicke damit beschäftigt, das Erdreich zwischen den Rebstöcken zu lockern – glücklicherweise nicht von Hand, das wäre doch gar zu mühevoll, nein, dafür gibt es längst hilfreiche Vorrichtungen, die man mit etwas Geschick am Weinbergstraktor anschraubt und damit zwischen den Zeilen hindurchtuckert. Auch Schicke hat sich an die Umstellung von konventionellem auf ökologischen Weinbau gewöhnen müssen. Sein Freund Armin erklärte ihm, dass sie selbst auf höchst praktische Weise Nutzen aus dieser Reform zögen: Das Gift, das man den Trauben erspart, belastet auch den Arbeiter im Weinberg nicht.

Zwei weitere Freunde und freiwillige Helfer des Ober-Winzers Schäufele finden wir an weinbautechnisch gewissermaßen entgegengesetzter Stelle wieder: Peter und Heiner sind soeben dabei, die Abfüllung der ersten Sorten des neuen Jahrgangs vorzubereiten. Es gehört zu den zugleich unbeachtetsten wie aufwändigsten, in jedem Fall nervenaufreibendsten Tätigkeiten im Jahreslauf, wenn der vergorene Most aus Edelstahlfässern und großen Holzfässern meist unter Zeitdruck in die Flaschen gebracht werden muss. Wiewohl dafür heute ebenfalls komplizierte, anfällige Maschinen eingesetzt werden, gehört doch viel Erfahrung und Aufmerksamkeit dazu, damit der letzte Schritt vor dem Verkauf zielgenau getan wird. Naht die Zeit der Lese, finden sich wie von selber zahlreiche weitere Helferinnen und Helfer ein. Wohlgemerkt, auf dem Kelterhof kann man auf die Rekrutierung portugiesischer, polnischer oder bosnisch-mazedonischer Kräfte verzichten, weil man genug Freunde hat. Der Gegensatz zu den optimierten Verfahrensweisen anonymer Großbetriebe könnte nicht größer sein: Während auf einigen jener Weingüter während der Lese Wein im Weinberg streng verboten ist und die Pause nach Industrieminuten berechnet wird, findet in den Reblagen des Kelterhofs noch das Erntefest statt, wie es vom Alten Testament bis in die jüngste Zeit hinein geliebt und gefeiert wird.

Wenden wir unseren Blick nunmehr nach innen, das heißt mitten in den Trubel der Weinwirtschaft hinein, so fällt uns sogleich die nimmermüd hin- und herhuschende Silhouette der Brigitte Böhringer auf; man unterschlüge bedeutsame Anteile ihres Wirkens, behauptete man schlicht, die erfahrene Fachkraft sei für die Bedienung der Gäste zuständig. Tatsächlich geht es um Kontaktarbeit, um Beziehungspflege im eigentlichen Sinne, ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn die Entscheidung getroffen wird, ob ein per Zufall hereingeschneiter Gelegenheitshungriger sich zum Stammgast mausert. Ja, in vielen Einzelfällen vermöchten wir nicht zu sagen, was den Entschluss, den Kelterhof aufzusuchen, fundamentaler bedingt: die saftig-zarten Fleischküchle oder der persönliche Kontakt.

Da wir von Fleischküchle reden: Stellvertretend für all die Erprobten und Bewährten des Küchenteams möchten wir die Thailänderin Jen nennen; zur höheren Ehre der heimischen Küche verzichtet sie bei der Zubereitung der Speisen auf Zitronengras und Kokosmilch vollständig. Der Entschluss, im Kelterhof nur traditionell verbriefte Gerichte zu servieren, hat sich seit Jahrzehnten bewährt und sollte auch, so die Meinung der Gäste, künftighin kompromisslos beibehalten werden.

Nun aber sollten wir doch endlich einmal die Protagonisten des in dritter Generation im Familienbesitz stehenden Hofes aufsuchen. Ute Schäufele, den unbestrittenen energetischen Mittelpunkt, finden wir augenblicklich mit der Zubereitung von geriebenem Kartoffelsalat beschäftigt, einer lokalen Spezialität, die kaum je auf der Karte zu finden ist, sondern meist der Familie vorbehalten bleibt – der Familie, deren Verköstigung, in anderen Fällen eine Hauptaufgabe, bei der zweifachen Mutter eher in den Bereich Nebentätigkeiten fällt. Multitasking, kein besonders klangvoller, gleichwohl ungemein populärer Begriff, beschreibt einen neuen Mythos des Weiblichen: Frauen, so heißt es, seien zur Erledigung mehrerer, einander bisweilen widerstrebender, gar ausschließender Tätigkeiten befähigt. Wie dem auch sei, die Herrin vom Kelterhof wäre so ein Beispiel, dass dergleichen tatsächlich existiert und keineswegs auf den Bezirk feministischer Fantasien beschränkt bleibt. Von den kaum aufzählbar zahlreichen Verrichtungen, die dieser biodiverse Gemischtwarenladen von seinen Mitarbeitern einfordert, gibt es schlechthin keine, die nicht täglich mehrmals von dieser Frau ausgeführt würde.

Ein wenig komplizierter wird es nun, wenn wir nach Armin Schäufele, dem spiritus rector, der männlichen Leitfigur des Kelterhofs suchen – er ist nämlich gar nicht da. Wieder einmal befindet er sich auf einer seiner Touren, am Lenkrad des Lieferwagens, unterwegs zu Kunden, Küfern, Gasthäusern, Kellereibedarfsfachhandlungen, Handwerksbetrieben, Weinhändlern ... Der Mann ist außerordentlich viel herumgekommen, auch in früheren Zeiten, da er noch anderweitigen Berufen oblag. Schreinermeister ist er gewesen, auch ein EDV-Spezialist der ersten Stunde, bevor er in Großvillars, im Kelterhof, in Ute Schäufele seine höhere Berufung fand. Durchaus, es passt zu Armin Schäufele, dass wir ihn gerade auf Achse antreffen – denn er gehört zu jenen Naturen, die das Bestehende sehr wohl achten, wenn es erhaltenswert erscheint, jedoch beständig auf Neues sinnen, Besseres wagen, Unerprobtes in die Tat umsetzen und somit die Rolle von Motivatoren eines gezielten Fortschritts übernehmen. Unter Schäufeles Ägide ist der Kelterhof zu dem gewachsen, was er heute darstellt; aus einem Weinbaubetrieb wurde ein respektables Weingut mit allen Voraussetzungen, nach Höherem zu greifen; aus einem konventionellen Mischtrieb typisch Kraichgauer Prägung entwickelte sich einer der ersten Biobetriebe der Region. Bei alledem schimmert nirgendwo eine Spur von Dogma durch, keine Verbissenheit ist Armin Schäufele anzumerken. Weiß Gott, wo ihm sein Selbstvertrauen gewachsen ist ...

Wenn bei Weingütern die Rede auf die Jugend kommt, sprich auf die nächste Generation, so gewinnt, zumal für Freunde des Hauses, die Frage höchste Brisanz, ob diese denn gewillt sei, das Aufgebaute dereinst zu übernehmen. Die Leute verlangen Sicherheiten – das ist nachvollziehbar. Leider können wir zur Stunde noch keine Entwarnung geben, denn Isabel und Gerrit Schäufele haben sich zunächst auf die Künste der Betriebswirtschaftslehre verlegt. Sagten wir zur Stunde? Nun, da dürfen wir nicht verschweigen, dass just an diesem Märzvormittag, da wir einen Blick auf den Kelterhof zu werfen wagen, die Geschwister wohl aufs Umtriebigste für das Wohl des Hauses tätig sind: Geschwinde, geschickt und eingespielt bauen sie einen Pavillon für das große Frühlingsfest auf, das am kommenden Wochenende mehr denn ein halbes Tausend Weinlustige nach Großvillars ziehen wird. Dann sperrt man die Straße zwischen der Kelter und dem Hof, auf Bänken werden die Gäste in der Frühlingssonne sitzen und Flammkuchen und Knackwürste schmausen und sämtliche Weine durchprobieren, die das Gut zu bieten hat, und mittendrin werden Isabel und Gerrit herumwuseln, dass es eine Art hat, mit einer Zahllosigkeit von Dingen beschäftigt, dabei gutgelaunt, behende und mit jeder Faser hier zu Hause.

 

Von Dichtern wie Hölderlin wissen wir – oder wir hoffen zumindest mit ihnen –, dass, wo Gefahr ist, das Rettende gleich mit heranwachse. Zweifelsohne, das hat man so schon beobachten können. Jedoch, es gibt auch den umgekehrten Fall: Es ist zu einem der Lieblingsthemen der Kunst geworden, Idylle, wenn sie schon einmal da sind, möglichst rasch und vollständig zu brechen. Mag sein, dass auch diese Variante auf Vorbildern fußt ... Bislang wissen wir nur dies: Großvillars mitsamt dem Kelterhof scheint eines jener Refugien des Lebensglücks zu sein, wonach die meisten Erdbewohner lebenslang vergebens suchen. Und dennoch droht hier ein Ereignis von solcher Dramatik, dass Metropolen wie Frankfurt oder New York geradezu neidisch werden müssten. So viel dürfen wir verraten: Es droht nicht nur von außen, sondern durchaus auch von innen her. Denn Erfolg schafft Neider und Besitz erregt Eifersucht; Tatkraft vergrämt die Zukurzgekommenen, und vom Glück des Glücklichen fühlt sich der Verbitterte verhöhnt. Diesem Gedankengang wollen wir zu einem späteren Zeitpunkt detailreicher nachgehen.

Großvillars am Rande des Kraichgaus, zwischen Bretten und Oberderdingen ... Seltsam, wenn man die Bewohner befragt, was es hierorts für Merkwürdigkeiten, gar Schrecknisse gegeben habe, welche Auffälligkeiten aus den vergangenen Jahrzehnten zu berichten sind, zucken die meisten die Achseln. Ja, da sei mal ein Kampfflugzeug in einen Vorgarten gestürzt, gottlob unbemannt und ohne größeres Unheil anzurichten; in der Tat, da habe es einmal zwei Häftlinge aus Bruchsal gegeben, die sich in einer Wohnung verschanzt hielten – auch aus dieser Geschichte kam man heraus, ohne Schaden zu nehmen. Ein paar Originale habe es auch gegeben, einen, der ohne Unterlass Relikte der Vorzeit aus den Äckern grub, einen anderen, der nach seinem Tagewerk mit dem Trecker direkt in die Höfe der Besenwirtschaften geholpert kam, um, noch auf dem Bocke sitzend, seinen ersten Abendschoppen zu sich zu nehmen ... Ansonsten erfährt der Wissbegierige allenfalls von jener prekären Hanfkrankheit, der auffallend viele Bürger des Ortes zu erliegen scheinen. Wobei man freilich wissen muss, dass aus Hanf Stricke gefertigt werden, welche man sich in Momenten der schlimmsten Seelennot um den eigenen Hals legen kann. Ob diese Häufung, sollte der Sachverhalt denn wirklich zutreffen, womöglich eine sehr späte Folge der unvorstellbar grässlichen, von Folter und Mord gekennzeichneten Vertreibungsgeschichte der waldensischen Vorfahren darstelle, eine Verkettung unbewusster Reaktionen auf niemals verarbeitete, von Generation zu Generation weitergereichte Traumatisierungen, wer kann es wissen ...

Für unseren Fall genügt es zu fragen, ob der unzweifelhaft in reichem Maße vorhandene Zusammenhalt der Hiesigen genügen wird, um mit den Gefahren, die auf das Örtchen zukommen, fertig zu werden? Die Antwort schieben wir auf.

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