Der Pfeiler der Gerechtigkeit

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»Dein Meister hat dir das angetan?« Lois pfiff leise durch die Zähne. »Hab ich’s mir doch gedacht. Siehst du, Karl?«

»Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem geschadet, wer weiß, was er ausgefressen hat.«

»Das waren wohl nicht nur ein paar Ohrfeigen. Diese Narbe hier«, wandte er sich an Simon und zeigte auf den dicken roten Wulst, der sich von seinem Unterlid bis zum Kinn zog, »hat mir einst mein Lehrmeister verpasst. Er war sturzbetrunken und behauptete, ich hätte ihn bestohlen. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und ist auf mich losgegangen.«

»Du hast Glück gehabt«, antwortete Simon. »Wann wird Meister Schlichting zurück sein?«

»Ich weiß nicht. Geh nach Hause und komm morgen wieder.«

»Kann ich nicht hierbleiben?«, flüsterte Simon, dem angst und bange wurde, wenn er nur daran dachte, zurückzugehen.

Lois schüttelte bedauernd den Kopf, und Simon erhob sich ächzend.

»Hier, nimm, du hast heute sicher noch nichts gegessen.«

Dankbar nahm Simon das Stück Brot entgegen, schenkte dem Gesellen ein trauriges Lächeln und verschwand.

Seine Füße trugen ihn zur Lilien-Apotheke. Vielleicht würde ihm Sterzing helfen, schließlich war dieser einer seiner Bürgen. Auf keinen Fall konnte er zurück zu Bernbeck.

Als er scheu den Laden betrat, befanden sich bereits eine Frau und ein Mann in der Offizin. Konrad Sterzing war mit beiden ins Gespräch vertieft und bemerkte den Neuankömmling nicht. Simon verzog sich in eine Ecke, hielt den Kopf gesenkt und lauschte dem Apotheker.

»Aquae vitae sind gesund und dienen der Verdauung. Nach dem Essen trinkt Ihr einen Schluck und werdet spüren, wie Euer Magen leichter wird. Zu viel auf einmal solltet Ihr aber nicht davon genießen.«

Das Ehepaar entschied sich für einen nach Kräutern schmeckenden Trank, bezahlte und verließ mit einem herzlichen »Ad Deum« die Apotheke. Simon war erstaunt, meist sagten die Leute nur noch ›Ade‹, kaum einer machte sich die Mühe, den Gruß ganz auszusprechen.

Scheu trat er auf Konrad Sterzing zu, der mit dem Rücken zu ihm gewandt hinter dem großen Tisch stand und seine Finger suchend über die Keramikgefäße im Regal gleiten ließ.

»Grüßt Euch Gott, Herr Apotheker«, brachte er trotz seines plötzlich trockenen Mundes hervor.

Sterzing drehte sich um und starrte ihn an, verblüfft und mitleidig zugleich, als er Simons geschwollenes Auge und der Blutspuren im Gesicht gewahr wurde. Doch dann verwandelte sich seine Miene. Die Augenbrauen waren so zusammengezogen, dass sie sich beinahe berührten, sein Mund glich einem dünnen Strich. Sterzing war zornig.

»Was willst du? Reicht es nicht, dass du deine Familie beleidigt hast? Für mich und die meinen war dein Verhalten beschämend.«

»Ich … ich«, Simon schluckte, »ich wollte Euch als meinen Bürgen um Hilfe bitten. Aber ich merke schon, es ist vergebens.«

»Melchior hat dich büßen lassen, weil du unverschämt warst. Und du hast die Tracht Prügel verdient. Leiste Abbitte bei deinem Stiefvater und Lehrmeister, das ist die einzige Hilfe, die ich dir geben werde.«

»Aber …«

»Vater, Mutter schickt mich, sie …«

Plötzlich erschien Julia in der Offizin, die Locken flossen über ihre schmalen Schultern, und ihre dunklen Augen wurden noch größer, als sie Simon erblickte.

»Oh, du bist es«, freute sie sich.

Simon hatte schnell den Kopf gesenkt, damit sie die Spuren, die Melchiors Schläge hinterlassen hatten, nicht sehen konnte.

»Julia, geh und sag deiner Mutter, ich bin gleich bei ihr. Und du«, wandte sich Sterzing an Simon, »verschwinde und tu, was ich dir geraten habe.«

Julia sah von einem zum anderen und rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«

»Hast du nicht gehört, Julia, geh! Dasselbe gilt auch für dich, Simon.«

Sterzing riss die Tür auf und deutete mit dem Zeigefinger hinaus auf die Straße.

Er war noch nicht weit gekommen, als er Julia rufen hörte.

»Simon, warte!«

Die dunklen Locken wippten auf ihren Schultern, als sie eiligen Schrittes näher kam.

»Mein Vater wollte mir nichts sagen, also habe ich mich davongestohlen. Was ist mit deinem Gesicht geschehen? Tut es sehr weh?«, sprudelte es aus ihr heraus.

Sie hat das blaue Auge vorhin doch bemerkt, dachte Simon.

»Bernbeck hat mich halb totgeschlagen, weil ich es gewagt habe, die Wahrheit über seinen lausigen Sohn auszusprechen. Das ist geschehen.«

»Ich glaube dir, was du über Wulf gesagt hast. Die Worte kamen so plötzlich, dass sie einfach die Wahrheit sein mussten. Ich mag Wulf nicht, er ist zwar freundlich, aber er mustert mich, als ob ich ein Stück Vieh auf dem Markt wäre.«

»Er sagt, ihr beide hättet sehr viel getanzt und er hätte dich geküsst …«

Sie winkte ab. »Einen Tanz. Und der Kuss ist gelogen. Du warst nicht da, und ich habe dich vermisst. Warum bist du den Feierlichkeiten ferngeblieben?«

Die dunklen Augen sahen ihn fragend an, und Simon glaubte sich in ihnen zu verlieren. Wie in tiefen ruhigen Seen.

»Wir hatten Streit, Wulf und ich. Nicht zum ersten Mal. Bernbeck kam dazu und hat mir befohlen, die Arbeit allein zu machen, und verboten, zur Feier zu gehen.«

Mitfühlend nahm sie seine Hand. Warm und tröstlich fühlte sie sich an. Es tat gut.

»Was hast du nun vor?«, fragte sie und strich sich eine Locke hinter ihr linkes Ohr.

»Ich werde den Zunftmeister anrufen, vielleicht kann er mir helfen. Er war nicht in seiner Backstube, der Geselle sagte, ich solle morgen wiederkommen.«

»Und bis dahin? Wo willst du bleiben? Du wirst doch sicher nicht nach Hause wollen.«

Immer noch hielt sie seine Hand, und er wünschte, sie würde nie wieder loslassen.

»Irgendwo werde ich ein Plätzchen zum Schlafen finden, gut, dass es nachts nicht mehr so kalt ist.«

Mit ihrer Linken zupfte sie an ihrer Unterlippe. Dann strahlte sie ihn plötzlich an. »Komm mit«, sagte sie. »Ich bringe dich auf unseren Dachboden, dort bewahren wir die Vorräte auf und trocknen die Kräuter.«

»Damit handelst du dir viel Ärger ein, Julia. Ich komme schon zurecht.«

»Das lass mal meine Sorge sein. Nun komm schon.« Sie packte seine Hand fester und zerrte ihn hinter sich her.

»Und wie sollen wir ungesehen an deinem Vater vorbeikommen?«, zischte er.

»Es gibt eine Außentreppe«, entgegnete sie augenzwinkernd.

Während Julia Simon ein behagliches Plätzchen in einer Nische auf dem nach Kräutern und Gewürzen duftenden Dachboden einrichtete, eilte Melchior Bernbeck durch die Gassen der Stadt. Sein Weg führte ihn am Ziehbrunnen vor dem Rathaus mit dem gewaltigen Grafeneckart vorbei. Der Turm beherbergte Glocken, die bei Sturm und Feuer geläutet wurden, um die Bürger zu warnen, und tief in seinem Inneren befand sich das Lochgefängnis. Im Wenzelsaal, im Seitenflügel des Turms, fanden die Ratsversammlungen statt, und just in dem Augenblick, als die Turmuhr elfmal schlug, öffnete sich die Tür. Die Ratsherren traten hinaus in die Sonne, lüpften die Hüte zum Abschiedsgruß und zerstreuten sich. Melchior entdeckte die gedrungene Gestalt des Zunftmeisters und rief: »Sebastian, das trifft sich gut, ich war auf dem Weg zu dir.«

Schlichting rückte seine Kopfbedeckung zurecht. »Was kann ich für dich tun?«

Bernbeck zog ein missmutiges Gesicht.

»Mein Lehrjunge ist wie vom Erdboden verschluckt. Dieser elende Bengel bringt mir nur Ärger ein.«

»Lass uns ein paar Schritte gehen, mir schmerzt der Rücken nach dem langen Sitzen auf den Ratsstühlen«, schlug der Zunftmeister vor. »Hast du eine Ahnung, warum er sich aus dem Staub gemacht hat?«

»Ich habe ihn bestraft, weil er Wulf vor meinen Gästen unmöglich gemacht hat. Einen Lügner und Taugenichts hat Simon ihn genannt. Es steht ihm nicht zu, über meinen Sohn so zu reden. Und dies auch noch vor anderen.«

Schlichting hob die Augenbrauen. »Und wegen einer Ohrfeige ist er abgehauen?«

»Zwei. Zwei Ohrfeigen«, Bernbeck grinste schief. »Ich wollte dir als Zunftmeister sein nicht hinnehmbares Verhalten anzeigen. Wenn er wiederauftaucht, wünsche ich, dass er aus der Zunft ausgeschlossen wird.«

Schlichting seufzte. »Ich nehme deine Anzeige zur Kenntnis, du weißt, die gesamte Zunft hat darüber zu entscheiden, nicht nur ich. Aber erzähl mir, was genau sich zugetragen hat.«

Zwischen all den Trockengestellen, Korbgefäßen, Krügen und Schränkchen mit Schubladen war Simon, den Kopf an einen Balken gelehnt, eingenickt. Plötzlich schrak er hoch, als er Schritte auf der knarrenden Holztreppe hörte, die zum Dachboden führte. Es gab keinen Schlupfwinkel, wo er sich hätte verstecken können, und so atmete er ganz flach und rührte sich nicht.

Teresa Sterzing kam auf den Dachboden, leise vor sich hinmurmelnd.

»Lavendel, Borago, was noch? Süßholz.«

Simon hörte, wie eine Schublade aufgezogen und wieder zugeschoben wurde, gefolgt vom leisen Rascheln getrockneter Kräuterbündel. Staub kitzelte seine Nase. Er hielt den Atem an. Der Schmerz in seiner rechten Seite nahm zu, dafür verschwand der Niesreiz. Simon schickte ein stummes Dankesgebet zum Himmel.

»Ah, bist du endlich in die Falle gegangen«, sagte Teresa, Befriedigung lag in ihrer Stimme. »Du warst eine schlaue Maus, aber nicht schlau genug. Dem vergifteten Speck konntest du dann doch nicht widerstehen.«

Julias Mutter öffnete das kleine Fenster im Giebel und warf das tote Nagetier hinaus. Mit Schwung schloss sie das Fenster, und der Luftzug wirbelte feinsten Kräuterstaub auf. Simon entfuhr ein kräftiges Niesen, sodass die Apothekerfrau mit einem spitzen Aufschrei herumfuhr.

»Heiliger Jesus!«, stieß sie hervor, als sie Simon erblickte. »Wie kommst du denn hierher?«

 

Simon kroch aus seiner Nische, krümmte sich erneut vor Schmerz und hielt sich die Seite.

»Julia hat mich hierhergebracht«, presste er hervor, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Teresa Sterzing krauste die Stirn, wartete stumm auf seine Erklärung.

»Ich war beim Zunftmeister, aber er war nicht da, und dann hatte ich gehofft, Euer verehrter Gatte, als mein Bürge, würde mir vielleicht helfen …«

»Helfen? Wobei?«

»Bitte, ich kann nicht mehr zurück. Bernbeck schlägt mich tot«, flehte Simon.

Teresa ließ sich seufzend auf eine Holzkiste sinken. »Er hat dich sicher so zugerichtet, weil du seinen Sohn vor aller Augen gedemütigt hast.« Sie erwartete keine Antwort. »Das hast du dir selbst eingebrockt.«

»Ich weiß, aber ich habe nur die Wahrheit gesagt. Wulf ist faul, und gewalttätig ist er auch. Wie sein Vater«, erwiderte Simon zerknirscht und lehnte sich vorsichtig an die Wand.

»Und was, denkst du, soll ich jetzt tun?«

»Ich werde verschwinden. Alles, um was ich Euch bitte, ist, vergesst, dass Ihr mich gesehen habt.«

»Unsinn. Wo willst du denn hin, und was glaubst du, wie weit du ohne Geld kommst? Nichts da, du bleibst hier, und ich versuche, eine Lösung zu finden.«

»Wirklich? Ihr wollt mir helfen?«

Teresa lächelte und deutete ein Kopfnicken an.

»Warum wollt Ihr das tun? Euer Gatte wird nicht begeistert sein.«

»Du bist ein guter Junge, Simon, und meine Tochter mag dich sehr. Und ich dich auch. Dein Bruder behagt mir nicht …«

»Stiefbruder. Wulf ist mein Stiefbruder.«

»Ja, dein Stiefbruder. Mir gefällt nicht, wie er Julia beäugt. Und wie er Konrad dazu gebracht hat, ihn als Apothekerlehrling anzunehmen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Zieh dein Hemd aus. Dass du Schmerzen hast, ist nicht zu übersehen.«

Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen zog Simon sich das Hemd über den Kopf und drehte ihr seine rechte Körperhälfte zu. Die Apothekerfrau stand auf und beäugte den dunklen rotblauen Fleck auf Simons Haut.

»Darf ich?«, fragte sie und streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. »Keine Angst, ich werde dir nicht wehtun. Jedenfalls nicht mehr, als du schon erdulden musst.«

Sanft tastete sie eine Rippe nach der anderen ab. Hörbar sog Simon die Luft zwischen den Zähnen ein, hielt aber still.

»Nur die Letzte ist wahrscheinlich gebrochen. Du kannst dich wieder anziehen. Arnikasalbe wird die Pein lindern. Ich werde später nach dir sehen und sie dir bringen«, sagte sie und wandte sich zur Tür.

»Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll«, stammelte Simon.

»Wer an seinem Nächsten vorübergeht, geht auch an Gott vorüber. Das hat einst Martin Luther gesagt.« Damit ließ sie ihn allein und verschloss die Tür.

Simon blieb grübelnd zurück. Bedeuteten die letzten Worte, dass die Sterzings Protestanten waren? Und wenn schon. Teresa war ein netter und hilfsbereiter Mensch. Was kümmerte es ihn, ob sie protestantisch war oder der alten Lehre anhing. Bernbeck dagegen ging zwar zur Beichte, aber einen angenehmen Zeitgenossen machte dies wahrhaftig nicht aus ihm.

*

Die Zunft trat nur alle vier Wochen zusammen. Heute war es wieder so weit. Die Zunftmitglieder würden neben anderen Dingen auch über die Zukunft Simon Rebers entscheiden.

Teresa Sterzing hatte sich bei ihrem Ehegatten noch am selben Abend für den Jungen starkgemacht. Mit ihrer Beichte, was oder vielmehr wer sich unter ihrem Hausdach befand, hatte sie gewartet, bis sie in ihre Schlafkammer gegangen waren.

»Wie stellst du dir das vor? Simon muss zurück zu seinem Stiefvater. Auf keinen Fall wird er hierbleiben. Außerdem bin ich als sein Bürge verpflichtet, ihn zurückzubringen.«

»Und wenn Bernbeck ihn noch übler zurichtet als dieses Mal? Was dann? Ich würde mich schuldig fühlen, wenn Simon etwas Ernsthaftes geschieht. Zumal Wulf ihn auch nicht leiden kann. Zwei gegen einen, Konrad.«

»Er war in der Apotheke, ich habe das blaue Auge gesehen, Teresa, aber er hatte nur eine kräftige Ohrfeige bekommen«, winkte der Apotheker ab. »Und wenn du mich fragst, hatte er sie auch verdient.«

»Bernbeck hat ihm die Nase und eine Rippe gebrochen. Simon kann von Glück sagen, dass es nur die eine war. Seine Nase hat er selbst wieder gerade gerückt. So wie sein unterer Rücken aussieht, bin ich sicher, Bernbeck hat ihm in die Nieren getreten. Auf die Frage, ob sein abgeschlagenes Wasser jetzt rötlich gefärbt ist, wurde er verlegen, bejahte aber. Ich möchte mir nicht ausmalen, was sein Stiefvater mit ihm anstellt, wenn er zurückkehrt.«

Sterzing verzog das Gesicht und blies hörbar die Luft durch die Nase. »Ich gebe zu, Bernbeck hat es mit seiner Bestrafung übertrieben.«

Teresa Sterzing setzte sich auf das gemeinsame Bett, hob die Hände hinter den Kopf und löste ihre Flechten. Sie wusste, Konrad konnte sich nie daran sattsehen, wenn ihre Haarpracht wie eine schwarze Flut über ihre Schultern floss, fast bis hinab zu ihren Lenden. Auch dieses Mal verfehlte ihr Tun seine Wirkung nicht. Konrad schlang seine Arme um ihre schmalen Hüften und zog sie an sich.

»Du bist immer noch so schön wie damals. Keinen Tag älter scheinst du geworden zu sein«, raunte er heiser und schob ihr das Unterkleid über den Kopf.

Teresa überließ sich seinen Händen, bis er sie schließlich um die Körpermitte packte und sie auf den Rücken drehte. Heftig atmend sah er mit glänzenden Augen auf sie hinab. Teresa wusste, nun konnte sie alles von ihm haben, und hob ihm ihr Becken entgegen. Konrad stöhnte.

»Warte, Liebster, noch nicht«, flüsterte sie, legte ihm die Hand auf die Brust und schob ihn von sich.

»Teresa, du kleine Hexe, bitte«, bettelte Konrad und zog sie an sich.

»Lass ihn hier. Simon, meine ich.« Sie leckte sich langsam über die Lippen, tastete mit ihren Händen nach Konrads Gemächt.

»Ja, ja, alles, was du willst«, keuchte er.

Als er in sie glitt, stieß sie ein glucksendes Lachen aus. Teresa wusste, wie sie ihren Willen bekam.

Wer der Zusammenkunft der Zunft fernblieb, musste zwei Pfennige in die Zunftkasse zahlen, und zudem bekam er für acht Tage ein Backverbot auferlegt. Einzig wer ernsthaft krank war, wurde nicht mit einer Strafe belegt.

Simon stand vor dem langen Tisch, an dem die beiden Zunftmeister saßen, Sebastian Schlichting, der die Weißbäcker vertrat, und Robert Wachter für die Roggenbäcker. Rechts und links von ihnen weitere Zunftgenossen, andere hatten sich an zwei in der Nähe stehenden Tischen verteilt. Heute hatte Simon keinen Blick für die fein gedrechselten Stühle mit ihren kostbaren Schnitzereien in den Lehnen, die das Backhandwerk darstellten. Zahlreiche Kerzen erhellten den Zunftsaal und tauchten ihn in ein warmes Licht. Auch Simons Bürgen hatten sich eingefunden, der Apotheker Konrad Sterzing und der Schreinermeister Johann Stamitz. Nach und nach füllte sich der Raum mit den letzten Zunftgenossen.

Robert Wachter ergriff das Wort, als alle Platz genommen hatten, und das Scharren der Stuhlbeine auf dem Holzboden verstummte.

»Heute werden wir darüber abstimmen, ob Simon Reber Lehrjunge bei Bäckermeister Melchior Bernbeck bleiben soll oder nicht. Melchior, ich erteile dir das Wort, lass uns hören, was sich zugetragen hat.«

Bernbeck stand von seinem Platz auf. »Mein Lehrjunge Simon Reber, der auch mein Stiefsohn ist, hat sich in unziemlicher Weise benommen, während ich in meinem Haus Gäste bewirtete. Er hat meinen Sohn Wulf aufs Höchste beleidigt. Nachdem ich ihn dafür gerügt habe, ist er heimlich davongelaufen. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen, dass jeder Lehrling auf das Zunftbuch schwört, nicht zu stören und nicht zu entlaufen. Simon hat sich beidem schuldig gemacht, und daher fordere ich seinen Ausschluss aus der Zunft.«

Ein Raunen ging durch den Saal, als Melchior sich wieder hinsetzte.

»Gibt es noch jemanden unter den Genossen, der dazu etwas sagen möchte?«

Sebastian Schlichting hob die Hand und schob seinen Stuhl zurück. »Nur so viel: Unser geschätzter Meister Bernbeck hat mich aufgesucht, nachdem sein Lehrjunge entlaufen war. Er hat mir den Vorfall genauso geschildert und ihn mir als Zunftmeister angezeigt. Ich habe keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.«

Simon stand der Schweiß auf der Stirn. Wenn er ausgeschlossen wurde, was dann? Natürlich wollte er nicht zurück zu Bernbeck, andererseits, welcher Bäckermeister würde ihn annehmen, damit er seine Lehre beenden konnte?

Unerwartete Hilfe kam von Lois, Schlichtings Geselle.

»Der Junge kam in die Backstube meines Meisters. Von einer Rüge, wie Melchior Bernbeck behauptet, kann nicht die Rede sein. Simon ist schwer verprügelt worden. Das ist ein Vergehen seitens des Meisters, das nicht geduldet werden kann.«

Alle Köpfe wandten sich Bernbeck zu, dessen Gesicht sich vor Zorn rötete.

»Ein paar Ohrfeigen habe ich ihm verpasst, von verprügeln kann nicht die Rede sein. Wer weiß, mit wem er sich auf dem Weg zu Meister Schlichtings Haus angelegt hat? Mein Sohn Wulf kann ein Lied davon singen. Kaum ein Tag, an dem Simon nicht auf ihn losgegangen ist.«

Lautes Stimmengewirr setzte ein, und Simons Beine begannen zu zittern. Melchior verdrehte die Tatsachen, und er, Simon, konnte nichts dagegen tun, außer die Wahrheit zu erzählen.

»Junge, was hast du dazu zu sagen?«, wandte sich Wachter an ihn.

»Ja, ich habe meinen Stiefbruder beleidigt, und ja, ich bin abgehauen, aber nur, weil ich Angst hatte, mein Meister schlägt mich tot. Und nein, ich bin keiner, der Händel sucht. Wulf hat immer den Streit angefangen.«

»Aber du bist auch nachlässig, was keinen guten Lehrjungen aus dir macht. Warst du nicht bei mir und hast um Anstellgut gebeten, weil du es hast ausgehen lassen?«

Simon ließ seine Augen durch die Menge gleiten, hoffte, den Gesellen Jörg zu entdecken, damit dieser ihm zu Hilfe kam. Jörg hatte gleich gewusst, wessen Schuld es gewesen war. Doch der Geselle war nirgends zu entdecken.

»Aber Ihr wisst, dass das nicht wahr ist. Wulf hat den Sauerteigansatz …«, erwiderte Simon verzweifelt.

»Es scheint, du schiebst deine Fehler immer auf andere«, schnitt Wachter ihm das Wort ab.


Fürstbischof Julius Echter erfreute sich an der Bestätigung seines Amtes durch den Papst. Eine weitere Gesandtschaft war, vier Wochen nach dem Aufbruch der ersten nach Rom, zu Kaiser Maximilian nach Prag gereist. Es würde wohl noch dauern, bis er auch seitens des Kaisers seine Anerkennung erhielt.

Julius Echter schlief wenig und arbeitete viel. Das ganze Bistum litt seit Jahren unter unfähigen oder faulen Männern und hatte einen immensen Schuldenberg angehäuft. Das riesige Gebiet reichte bis an die Landgrafschaft Hessen im Norden, erstreckte sich nach Osten bis zum Hochstift Bamberg und nach Westen bis zum Neckar. Im Süden grenzte es an die Fürstpropstei Ellwangen. Unterteilt war das Bistum in zehn Archidiakonate und diese wiederum in Landkapitel mit ihren Pfarreien.

Es wurde Zeit, Ordnung zu schaffen. Nahezu täglich erließ Echter neue Gesetze und Verordnungen, und oftmals erschien er ohne Ankündigung in den Amtsstuben, um sich zu vergewissern, ob die Amtsleute sich an die Neuerungen hielten und sie umsetzten. Dank ihm wurden wieder peinlich genau Akten geführt, nachdem diese Arbeit jahrelang vernachlässigt worden war. Der junge Fürstbischof bestimmte die Arbeitszeiten und verfügte, die Amtmänner dürften keinerlei Geschenke oder Gefälligkeiten annehmen. Aus gutem Grund. Viel zu lange hatten seine Vorgänger es durchgehen lassen, dass manche Domherren reiche Pfarreien an ihre Verwandten vergaben oder gar verkauften. Es wurde Zeit für Julius, sich zum Priester weihen zu lassen, um nicht nur in den Amtsstuben für Ordnung zu sorgen, sondern auch in den Archidiakonaten. Doch er würde damit warten, bis er die Bestätigung des Kaisers für sein fürstliches Amt erhielt.

»Exzellenz, neue Schriften sind angekommen«, berichtete Johann Voit von Rieneck, »und der Zimmermeister wünscht Euch zu sprechen.«

Julius Echter unterbrach seine Aufzeichnungen und legte die Feder beiseite. »Nur herein mit ihm. Die Schriften lasst zur Hofbuchbinderei bringen.«

Kurz nach seinem Amtsantritt hatte der Fürstbischof begonnen, die Hofbibliothek zu erneuern, da sie ein Jahr zuvor ein Raub der Flammen geworden war. Seither arbeiteten Steinmetze und Zimmermänner daran, den zerstörten Südflügel der Burg wiederaufzurichten. Echter kaufte keine Bücher, stattdessen ließ er sich gedruckte Seiten von den Messen liefern, welche seine Buchbinder in Bänden zusammenfügten, denn Julius war ein Schöngeist und wollte einheitlich aussehende Bände. Gebunden zwischen hölzernen Deckeln, überzogen mit hellem, fast weißem Schweinsleder, die Buchrücken mit goldenen Lettern und Jahreszahlen versehen und die Buchdeckel geprägt mit dem Wappen der Echterfamilie, sahen die Bücher wahrhaftig fürstlich aus. Einer der Buchbinder hatte sich mächtig ins Zeug gelegt, um eine der begehrten Stellen im fürstbischöflichen Haushalt zu bekommen.

 

Gregor Schenks ungewöhnliches Buch hatte den Fürstbischof verzückt. Zwischen zwei kreisrunden, mit Kalbsleder bezogenen und mit Ornamenten verschönerten Holzdeckeln befanden sich Drucke in lateinischer Sprache, unter anderem De Sacramentis Ecclesiae. Die Deckel waren geviertelt und konnten unabhängig voneinander aufgeklappt werden, und der umlaufende Goldschnitt der Seiten war mit Blumenranken und den Wappen der Stadt und der Familie Echter verziert. Zwischen den Ranken konnte man die Gestalt des Bischofs erkennen, samt Stab und Schwert. Ein unglaubliches Kunstwerk.

Julius hatte sich vorgenommen, die Festung Marienberg zu einer prachtvollen Residenz auszubauen und sie bis weit über die Grenzen des Hochstifts bekannt werden zu lassen. Jedermann sollte ihn, den Fürstbischof von Würzburg, für seine Bauwerke rühmen. Bauwerke von solcher Kunstfertigkeit und Pracht, wie er sie in Italien zu seiner Studienzeit gesehen hatte. Er brauchte nur noch einen geeigneten Baumeister für seine Vorhaben.

»Was führt Euch zu mir, Meister Heber?«, fragte Julius, als der Zimmermann, den schwarzen krempigen Hut in Händen haltend, hereintrat.

»Eure Exzellenz, soeben haben die Dachdecker die letzte Schindel aufgelegt. Wir können mit dem Innenausbau beginnen.«

»Das sind gute Nachrichten, Heber«, ein seltenes Strahlen legte sich auf Echters Gesicht. »Ich werde den Hofkämmerer und den Hofmeister benachrichtigen, sie sollen sich um alles kümmern. Doch nun lasst mich Euer Werk betrachten.«

Die Zimmerleute, Dachdecker und Steinmetze hatten gute Arbeit geleistet. Der Südflügel war größtenteils wiederhergestellt, in welchem Echters Hofbibliothek Einzug halten sollte. Der Fürstbischof nahm Meister Heber beiseite.

»Ich habe vor, die Burg weiter auszubauen. Ein fürstliches Schloss soll daraus entstehen, dessen Pracht über ganz Würzburg und darüber hinaus erstrahlen soll. Ihr kommt viel herum, wart Ihr jemals in Italien und habt die Paläste und Kirchen dort gesehen? Für mein Vorhaben brauche ich Meister, die ihr Handwerk nicht nur verstehen, sondern es lieben wie ihr eigenes Kind.«

»Ich bedaure, Exzellenz. Allerdings habe ich auf der Baustelle in der Grafschaft Schwarzburg gearbeitet, und ich kann mir vorstellen, was Ihr mit ›Pracht‹ meint. Graf Albrecht lässt in Rudolstadt die Burg zu einer Residenz ausbauen, ein Schloss mit drei Flügeln, mehrgeschossig mit unzähligen Fenstern, klaren Linien und hohen Bögen. Federführend ist der Baumeister Joris Robijn. Ein außerordentlicher Baumeister aus Flandern.«

Julius Echter rieb sich den rötlich-braunen Bart. »Es scheint, ich habe genau den richtigen Mann gefragt. Nun, Meister Heber, es gibt hier genügend Arbeit für Euch, sofern Ihr nicht bereits einen anderen Auftrag in Aussicht habt.«

»Das Angebot nehme ich gerne an, Eure Exzellenz.«

»Dann ist es beschlossene Sache. Wir werden einen neuen Vertrag aufsetzen, sobald alle Arbeiten hier an Südflügel und Sonnenturm abgeschlossen sind.«

Als Echter zurück in seiner Kanzlei war, gestattete er sich einen Moment der Ruhe und richtete seinen Blick auf das fein geschnitzte Kreuz an der Wand. Stumm hielt er Zwiesprache mit seinem Schöpfer, wie er es oft tat, um sich bei Gott zu vergewissern, das Richtige zu tun. War er nur prunksüchtig, und sein Stolz war die treibende Kraft hinter dem Vorhaben, die Festung zu erweitern? Nein. Die zukünftige Residenz sollte eben genauso über die Grenzen des Frankenlandes bekannt sein wie das Spital, das er zu gründen gedachte. Eine Einrichtung für Kranke, gleich, ob arm oder reich, ausgestattet mit den besten Ärzten. Ein Ort des Gesundens für alle, die von Krankheiten niedergestreckt wurden, und ein Ort, der auch nach seinem Tod sich auf ewig erhalten sollte. Ein großer Akt der Nächstenliebe, der ihm einen Platz im Himmel sicherte. Nur einen passenden Ort hatte er noch nicht dafür gefunden. In der Stadt war es zu eng für ein Vorhaben dieser Art. Doch das bereitete ihm keine Kopfschmerzen, er hatte in seinen jungen Jahren schon so vieles erreicht und zustande gebracht.

Echters Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Vor seinem geistigen Auge erschien seine Heimat, Schloss Mespelbrunn. Ein fast verwunschener Ort in den Wäldern des Spessarts, gelegen in einem Tal und umgeben von einem durch den Krebsbach gespeisten Gewässer. Als er sechs Jahre alt gewesen war, hatten es sich seine Eltern in den Kopf gesetzt, die seit mehr als hundertfünfzig Jahren in Familienbesitz befindliche Burg wohnlicher zu machen. Aus dem eher finsteren, kalten Gemäuer war nach achtzehn Jahren Bauzeit ein verträumtes Wasserschloss aus gelbem Sandstein geworden. Er war der Zweitgeborene von insgesamt neun Geschwistern, und seine Mutter hatte manchmal darüber gescherzt, dass sie nur Knaben zustande brächte, nachdem der dritte Sohn geboren worden war. Doch sie sollte nicht recht behalten, Julius bekam noch vier Schwestern und einen Bruder.

Echter liebte seine Familie über alles, und es war zunächst nicht einfach gewesen, als sein Vater ihn mit neun Jahren ins Kollegiatstift nach Aschaffenburg sandte. Die Trennung von seinen Geschwistern hatte ihm das Herz schwer werden lassen, doch die brüderliche Aufnahme in St. Peter und Alexander und die gemeinsamen Gebete halfen Julius über das Heimweh hinweg. Drei Jahre war er dortgeblieben, dann zog er nach Würzburg und zwei Jahre später nach Mainz, wo er dem Domstift angehörte. Im selben Jahr folgte er seinem älteren Bruder Adolf nach Köln, um die Jesuitenschule zu besuchen.

Julius sog Wissen in sich auf wie ein Dürstender Wasser in der Wüste. Gemeinsam mit seinem Bruder Sebastian, der nur ein knappes Jahr jünger war, führte ihn sein Weg von Köln nach Flandern. Beide verschrieben sich dem Studium der Rechte. Unzertrennlich waren sie in den nachfolgenden Jahren gewesen, reisten von Flandern nach Frankreich und weiter nach Italien, um dort ihre Studien abzuschließen. Als sie schließlich zurückkehrten, wurde Julius Mitglied des Domkapitels zu Würzburg, um nur vier Jahre später zum Fürstbischof gewählt zu werden.

Ein lautes Geräusch, das durch die Fenster hereindrang, brachte Julius in die Gegenwart zurück. Nun, da er gerade an seinen geliebten Bruder Sebastian gedacht hatte, tauchte er die Feder in das Tintenfässchen, um diesem sogleich einen Brief zu schreiben.

*

»Simon Reber, dein Lehrvertrag bei Meister Bernbeck wird widerrufen«, erklärte Schlichting, nachdem sich die Zunftgenossen beraten hatten. »Du kannst deine Lehre bei einem anderen Meister fortsetzen. Das Bürgschaftsgeld von Meister Stamitz und Apotheker Sterzing soll Melchior Bernbeck zur Entschädigung erhalten.«

Dem Lehrjungen fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens hatten sie ihn nicht aus der Zunft ausgeschlossen. Fragte sich nur, wer ihn überhaupt noch als Bäckerlehrling annahm. Hier in Würzburg sehr wahrscheinlich keiner. Das bedeutete, er musste die Stadt verlassen und sein Glück anderswo versuchen.

»Ist jemand von den anwesenden Bäckermeistern bereit, Simon anzunehmen?«, fragte Wachter in die Runde.

Betretenes Schweigen setzte ein, Blicke wurden zu Boden gesenkt. Das war zu erwarten gewesen.

»Wenn er nicht unbedingt Bäcker werden will, dann nehme ich ihn«, ließ sich plötzlich Sterzing vernehmen.

Alle Köpfe fuhren herum, und Simon starrte den Apotheker verblüfft an. Niemand rührte sich.

»Nun, Simon, was sagst du dazu?«