Einführung Ernährungspsychologie

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2 Psyche, Soma und die Nahrungsaufnahme

Psychosomatik vs. Medizin

Die Frage: „Wie beeinflusst die Psyche die Nahrungsaufnahme“ wird nicht erst heute gestellt. Diese Frage rührt aus der Tradition der Psychosomatik, die Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Die als Gegenbewegung zur ausschließlich naturwissenschaftlichen Medizin konzipierte Psychosomatik bremste einerseits also eine Entwicklung, die Krankheit auf körperliche Prozesse reduzieren wollte. Sie lief und läuft andererseits Gefahr, in einen Pan-Psychologismus zu verfallen. Das meint, dass der Versuch unternommen wird, alle körperlichen Prozesse, so auch Krankheiten, auf die Psyche zurückzuführen.

bio-psycho-sozial

Der einfachen Frage nach dem Einfluss der Psyche auf den Körper wurde im 20. Jahrhundert die Frage hinzugefügt: Wie wirkt der Körper auf die Seele? Bezogen auf die Nahrungsaufnahme, bedeutet dies: Wie wirkt sich die Nahrungsaufnahme auf die Psyche aus? Die psychosomatische und die somatopsychische Fragestellung wurden anschließend in das umfassende bio-psycho-soziale Gesundheits- und Krankheitsmodell integriert. Umfassend bedeutet hier, dass die sozialen Dimensionen von Gesundheit und Krankheit mit einbezogen werden. In den letzten Jahrzehnten hat sich neben der Psychosomatik die Verhaltensmedizin etabliert. Diese basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell, bearbeitet ähnliche Fragestellungen wie die Psychosomatik. Sie grenzt sich aber von der Psychosomatik ab, da sie nicht psychoanalytisch, sondern verhaltenstherapeutisch orientiert ist.

2.1 Die klassische Psychosomatik

Als sich im 19. Jahrhundert allmählich die naturwissenschaftliche Medizin durchsetzte, etablierte sich parallel dazu die Psychosomatik – als Gegenbewegung zur naturwissenschaftlichen Medizin. Gelang es der naturwissenschaftlichen Medizin immer besser, zahlreiche Erkrankungen als rein biologische Prozesse zu erforschen, so setzte sich die Psychosomatik davon ab, indem sie postulierte, dass körperliche Erkrankungen nicht nur durch körperliche Faktoren verursacht seien. Vielmehr könnten psychische Konflikte zu körperlichen Erkrankungen führen.


Der Terminus „Psychosomatik“ setzt sich aus zwei griechischen Begriffen zusammen: „Psyche“ ist die Seele und „Soma“ ist der Körper. Die klassische Psychosomatik geht von einem unilinearen Prozess aus: Aus seelischen Konflikten entstehen körperliche Symptome. Sie untersuchte nicht den umgekehrten Zusammenhang, dass nämlich auch aus körperlichen Erkrankungen psychische Probleme entstehen können. Oder allgemeiner noch, dass Psyche und Körper in komplexer Wechselwirkung zueinander stehen.

Freud und die Hysterie

Die Geschichte der Psychosomatik ist untrennbar mit dem Begründer der Psychoanalyse verbunden, mit Sigmund Freud. Er entwickelte die erste bedeutsame psychosomatische Theorie. Nachdem er viele Jahre lang naturwissenschaftlich gearbeitet hatte, konfrontierte er sich mit einer „Modeerkrankung“ des 19. Jahrhunderts: der Hysterie. Diese erschien ihm nicht naturwissenschaftlich erforschbar zu sein. Im Rahmen eines psychotherapeutischen Gesprächs versuchte er, die seelischen Ursachen der Hysterie zu erkunden. Psychologische Laborexperimente dienen dazu, Ursache-Wirkungs-Gefüge, also allgemeine natur wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten, die alle Menschen betreffen, zu ergründen. Das psychotherapeutische Gespräch diente Freud dagegen dazu, die individuell spezifischen unbewussten Ursachen der Hysterie bewusst zu machen und zur Sprache zu bringen.


Der noch relativ junge Freud macht einen Ausflug in die Hohen Tauern, „um für eine Weile die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen.“ (Freud 1999a, 184) Dies sollte ihm nicht gelingen. Eine junge Frau, Katharina, bittet um seine Hilfe, da sie „nervenkrank“ sei. Nervenkrank bedeutet für sie Atemnot, Druck auf den Augen, ein schwerer und sausender Kopf, Schwindel, zusammengepresste Brust und zusammengepresster Hals, verbunden mit Todesangst. Katharina hat keine Ahnung, warum sie ihrer Meinung nach nervenkrank ist. In einem relativ kurzen Gespräch gelingt es den beiden, die unbewussten Motive der Nervenkrankheit bewusst zu machen. Eines davon ist der massive Ekel angesichts der versuchten sexuellen Übergriffe ihres Vaters. Aber warum hat Katharina diesen Ekel verdrängt? Eine Antwort könnte sein, dass ihr der Gedanke, dass ihr Vater ihr gegenüber sexuell übergriffig werden wollte, unerträglich war. Sie musste diesen Gedanken und die damit verbundenen Gefühle abwehren. Anstelle dieser Gefühle und Gedanken entstanden körperliche Beschwerden. Katharina war es sozusagen lieber, körperlich zu leiden, als mit unerträglichen Gefühlen und Gedanken konfrontiert zu sein.

Freud ging davon aus, dass der hysterischen Symptomatik entweder wie bei Katharina sexuelle Traumata oder unakzeptable Liebesregungen zugrunde liegen. In der Zeit Freuds war es z. B. für ein Hausmädchen moralisch unakzeptabel, sich in den Hausherrn zu verlieben. Da wir heute andere Moralvorstellungen haben, würde dieses Hausmädchen heutzutage vermutlich keine körperliche Symptomatik entwickeln.

sinnvolle Symptome

Die körperlichen Leiden bei der Hysterie sind für Freud alles andere als zufällig. Sie sind stets sinnvoll und damit auch dechiffrierbar. Man muss nur den verborgenen Sinn erkennen. Psychotherapeutische Arbeit erscheint in dieser Hinsicht dann als ein Indizienprozess. Anders als seine Nachfolger beschränkte Freud den Umschlag von seelischen in körperliche Symptome auf den sensomotorischen Bereich. So waren für Freud nur Störungen im Bereich der Sinne wie Taubheit, Blindheit oder der Motorik, wie z. B. Lähmungen, hysterische Symptome. Er ging außerdem davon aus, dass es zur Herausbildung hysterischer Symptome eines organischen Entgegenkommens bedarf, also einer bestimmten Organschwäche. Trotz dieser bleibt für Freud ein unilinearer Zusammenhang bestehen: Aus seelischen Konflikten erwachsen körperliche Symptome. Freud nannte dies Konversion.

Gespräch vs. Labor

Um es nochmals herauszustellen: Dieser Umschlag vom Psychischen ins Körperliche lässt sich im psychotherapeutischen Gespräch nur rekonstruieren. Er lässt sich alleine aus ethischen Gründen in einem Laborexperiment nicht erfassen. Angenommen, man wolle ungeachtet schwerwiegender ethischer Bedenken im Rahmen eines Laborexperiments Wirkungen sexueller Übergriffigkeit überprüfen, so könnten z. B. nur unmittelbare Wirkungen dokumentiert werden, aber nicht Reaktionen wie die von Katharina, die sich erst ein paar Tage später einstellen.

Einzigartigkeit

Freud hat zwar ein allgemeines Modell der Hysterie entwickelt. Zugleich hat er betont, dass jede Hysterie einzigartig ist – verbunden mit einer spezifischen Biografie und spezifischen Ursachen. Das bedeutet, dass jeder Hysteriekranke anders ist. Von hysterischen Symptomen lässt sich im Sinne Freuds allgemein auf sexuelle Ursachen oder Traumata schließen. Aber diese sind von Fall zu Fall völlig unterschiedlich.

Hätte Freud in unserer Zeit gelebt, dann hätte er sich vermutlich den „Modeerkrankungen“ unserer Zeit zugewandt, nämlich den Essstörungen. Zu Zeiten Freuds wurde die Sexualität eher problematisiert und tabuiert. Dies lässt sich etwa daran erkennen, dass Freud bestimmte sexuelle Praktiken ins Lateinische übersetzt. Diese Problematisierung und die im Vergleich zu heute wesentlich strengeren Moralvorstellungen begünstigten die starke Verbreitung der Hysterie. Heutzutage ist zumindest dem Anschein nach die Sexualität aus ihrem moralischen Korsett befreit. Nahezu alle Formen der Sexualität sind heute akzeptiert und gesellschaftsfähig. Dementsprechend ist die klassische Hysterie nahezu ausgestorben. Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa hingegen haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Dies liegt u. a. daran, dass heutzutage die Nahrungsaufnahme massiv problematisiert wird (Klotter 1990). Die Nahrungsaufnahme ist heute sozusagen verboten. Aufgrund des in den letzten hundert Jahren stetig sinkenden Normgewichts erscheint nun im Prinzip jede Form und jedes Quantum an Nahrungsaufnahme als eine Gefährdung des Einhaltens oder Erreichens des Normgewichts.

Kasten 2.1: Tabus: Sex oder Essen?


Die klassische psychosomatische Fragestellung, inwieweit Seelisches auf den Körper einwirkt, wird auch heute noch gestellt und erforscht. Macht et al. (2002) untersuchten in einem Experiment beispielsweise, ob unterschiedliche Emotionen den Konsum von Schokolade beeinflussen. Sie fanden heraus, dass Freude den Schokoladenkonsum ansteigen lässt, Ärger hingegen zu einem verminderten Verzehr führt. Festzuhalten ist, dass Emotionen das Essverhalten beeinflussen (Mensorio et al. 2016; Koski/ Naukkarinen 2017).

2.2 Von der klassischen Psychosomatik zum bio-psycho-sozialen Modell

Krankheit entziffern

Freuds Psychosomatik: Freud entwickelte die erste psychosomatische Theorie, der zahlreiche weitere folgen sollten. Wie auch immer seine psychosomatische Theorie heute beurteilt wird, sie gab den Anstoß zu der offenbar faszinierenden Frage, ob körperliche Erkrankungen seelische Ursachen haben können. Mit Freud ist die Idee aufgekommen, den Körper zu dechiffrieren: Sage mir, welche körperliche Erkrankung Du hast, dann sage ich Dir, welche psychische Störung Du besitzt. So faszinierend diese Frage auch ist, so problematisch kann sie sein. Genauso wie eine rein naturwissenschaftliche Medizin Gefahr läuft, psychosoziale Faktoren hinsichtlich der Krankheitsentstehung und des Krankheitsverlaufs zu vernachlässigen, so kann ein psychosomatischer Ansatz davon bedroht sein, den Körper quasi zu vergessen. Die Eigengesetzlichkeit körperlicher Prozesse oder genetischer Einflüsse wird so außer Acht gelassen.

 

Wenn man z. B. Adipositas stets als psychisch verursacht ansieht, dann ignoriert man, dass in bestimmten Kulturen oder Ländern Adipositas das Schönheitsideal darstellt. Man ignoriert, dass Menschen, da sie das Essen genießen, übergewichtig werden. Man ignoriert, dass empirische Studien nicht hinreichend belegen können, dass adipöse Menschen generell psychisch stärker gestört sind als nicht adipöse (Sabbioni 2003). Und selbst wenn Adipositas psychisch verursacht sein sollte, dann gibt es nicht die eine psychische Ursache, die zu Adipositas führt, sondern die unterschiedlichsten in den unterschiedlichsten Kombinationen und Ausprägungen.

Weiterentwicklungen der Psychosomatik nach Freud: Groddeck erweiterte das Feld der Psychosomatik. Er ging davon aus, dass die Psyche nicht nur Auswirkungen auf den sensomotorischen Bereich haben könnte, sondern auf den gesamten Körper.

spezifischer Konflikt – spezifische Krankheit

Mitte des letzten Jahrhunderts stand die Psychosomatik im Zenit. Die damalige Psychosomatik verfolgte den Traum, eine bestimmte körperliche Erkrankung mit einer bestimmten Persönlichkeit oder mit einem bestimmten psychischen Konflikt in Zusammenhang zu bringen, anstatt die eben beschriebene Vielschichtigkeit der Ursachen anzuerkennen. Dieses In-Beziehung-Setzen von Persönlichkeit und Krankheit wurde damals durchaus auch mit empirischen Studien verfolgt. Es stützte sich also nicht nur auf psychotherapeutische Gespräche. Zwar gab es durchaus auch ermutigende Ergebnisse (Adler 2003), dennoch ist man heute, wie bereits erwähnt, davon abgekommen, einer bestimmten Erkrankung eine bestimmte Persönlichkeit zuzuweisen. Trotzdem sind die Wissensbestände aus der damaligen Zeit für das Heute keineswegs sinnlos. Sie können Interpretationsfolien für die klinische Arbeit bilden. Oder sie können Grundlage empirischer Forschung werden. Franz Alexanders Überlegungen zu Bluthochdruck, wonach bestehende aber nicht gezeigte Aggression zu einem erhöhten Blutdruck führt, hat die psychophysiologische Forschung zu Bluthochdruck stark inspiriert.


Diese Interpretationsfolien der Psychosomatik können aber auch verwirren. Um dies zu veranschaulichen, soll exemplarisch auf die psychosomatischen Ansätze zur Adipositas im deutschsprachigen Raum für den Zeitraum der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts eingegangen werden (Klotter 1990). Adipositas wird in Zusammenhang gebracht mit emotionaler Leere, Habgier, allgemeinem Versagen, Zurückhaltung, Ängstlichkeit, Empfindlichkeit, Misstrauen, Infantilität, Beschlussunfähigkeit, Anlehnungsbedürftigkeit, Beeinflussbarkeit, Haltlosigkeit, einem gestörten Verhältnis zum Körper, Gehemmtheit, Schüchternheit, Frigidität, Impotenz. Die Mütter der Adipösen seien selbst psychisch gestört und verwöhnten das Kind zu sehr. Die Ehefrau könne in die Adipositas fliehen, um sich den Anforderungen der Ehe zu entziehen. Kurzerhand: Nahezu alles wird mit Adipositas in Verbindung gebracht. Derartige Psychosomatik ist dann für die klinische Arbeit nicht mehr hilfreich.

körperlicher Einfluss auf die Psyche

Somatopsychische Forschungsrichtung: Eine entscheidende Wende in der Geschichte der Psychosomatik bestand darin, nicht mehr nur von den Auswirkungen der Psyche auf den Körper auszugehen, sondern auch die andere, entgegengesetzte Wirkungsrichtung zu berücksichtigen: die somatopsychische. Die von Mirsky ausgehende Forschungsrichtung (Adler 2003) legt darauf Wert, dass somatische Faktoren bei der Entstehung psychosomatischer Erkrankungen beteiligt sind. Ein Ulcus-Leiden setzt demnach voraus, dass die Magensaftausschüttungen genetisch erhöht sind:

„Prinzipiell ist zu bedenken, daß der hypersekretorische Typ von Geburt an mehr Hungerempfindungen haben wird; er wird als Säugling mehr schreien, gebieterischer, häufiger nach Nahrung verlangen.“ (Mitscherlich 1975, 34)

Körperliche Einflüsse führen demnach zu einem anderen psychischen Erleben. Und nicht nur das: Die Mutter wird auf das hypersekretorische Kind voraussichtlich anders reagieren. Vielleicht wird sie überfordert sein, vielleicht wird sie ärgerlich und ungehalten angesichts des maßlosen Hungers des Kindes. Somatische Einflüsse kreieren so auch menschliche Interaktion.


Wenn die Gene mit entscheiden, ob man adipös wird, dann hat dies möglicherweise Auswirkungen auf die Psyche: Die dadurch erheblich erschwerten Abnahmeversuche führen zu Resignation und eventuell Depression. In dieser Sicht würden die Adipösen nicht zu viel essen, weil sie depressiv sind, sondern sie würden depressiv, weil die Gewichtsreduktion so immens schwierig ist. Wenn in einer epidemiologischen Studie ermittelt worden ist, dass Adipöse depressiver sind als Normalgewichtige, sind prinzipiell beide Interpretationen möglich: die psychosomatische und die somatopsychische.

soziale Dimensionen

Das bio-psycho-soziale Modell: Die nächste entscheidende Wende in der Psychosomatik bestand darin, soziale Dimensionen von Gesundheit und Krankheit mit zu berücksichtigen. Dementsprechend nennt sich dieses das bio-psycho-soziale Modell (Engel 1996; Pauli 1996). Es beschäftigt sich mit den komplexen Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. Und es erkennt damit an, dass soziale Faktoren zentral an der Entstehung oder Aufrechterhaltung von Gesundheit und Krankheit beteiligt sind.


Eine genetische Veranlagung zur Adipositas trifft auf eine Umwelt, die Adipositas überwiegend akzeptiert. Dann wird sich voraussichtlich wegen der Adipositas keine depressive Grundstimmung einstellen. Wenn aber wie noch vor 50 Jahren Wohlbeleibtheit bei Männern in Deutschland positiv bewertet wurde (Pflanz 1978), dann hatte damals ein schlanker Mann ohne genetische Veranlagung zur Adipositas Schwierigkeiten, den echten Mann darzustellen. Möglicherweise reagierte er darauf mit einem verminderten Selbstwertgefühl.


Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit ist das derzeit vorherrschende. Es ist sicherlich das angemessenste Modell und zugleich das, das am schwierigsten zu erforschen ist. Nicht nur sind eine Vielzahl von Variablen zu ermitteln, diese Variablen interagieren untereinander auf die unterschiedlichsten Weisen im zeitlichen Verlauf. Von Individuum zu Individuum sind zudem die Interaktionen unterschiedlich. Einfache Ursache-Wirkungs-Gefüge, einfache Wenn-dann-Beziehungen greifen dementsprechend in keiner Weise mehr. Das bio-psycho-soziale Modell eröffnet eine Komplexität, die kaum noch zu erforschen ist.

2.3 Ein somatopsychischer Zusammenhang: Wie wirkt sich Ernährung auf die Psyche aus?

Die eben genannte Komplexität lässt sich also nicht einfach untersuchen. Eine Lösung für das Problem besteht darin, wohlgemerkt wissend um die Komplexität, auf simple Ursache-Wirkungs-Gefüge zurückzugreifen. Ein derart einfacher, damit auch darstellbarer, unilinearer Zusammenhang ist der somatopsychische. Mit ihm wird gefragt, wie der Körper die Psyche beeinflusst. Für den Gegenstand Ernährungspsychologie ist dann die Leitfrage, wie die Nahrungsaufnahme die Psyche beeinflusst.


Am offenkundigsten lassen sich die Auswirkungen von Genussmitteln auf die Psyche beobachten. Alkohol kann die Stimmung heben, kann enthemmen und aggressiv machen. Kaffee und Tee wirken stimulierend (s. Hengartner/Merki 1999). Das in der Schokolade enthaltene Phenylethylamin soll zusammen mit dem Alkaloid Salsonilol Glücksgefühle auslösen. Der Genuss von Schokolade regt zudem die Produktion des Neurotransmitters Serotonin an, wodurch das Wohlbefinden gesteigert wird. Außerdem führt das Essen von Schokolade dazu, dass der Körper Endorphine produziert, was eine euphorisierende Wirkung hat (Pfiffner 1999).

Überfluss – Mangel

Ebenso offenkundig ist, dass auch die Menge der zu sich genommenen Lebensmittel Auswirkungen auf die Psyche hat. Ein altes lateinisches Sprichwort veranschaulicht dies in der gewünschten Deutlichkeit: plenus venter non studet libenter (ein voller Bauch studiert nicht gerne). Nahrungsmangel hat ebenfalls spezifische Effekte. Montanari (1993) gibt Berichte aus Hungerzeiten wieder: So hätte der Blick der Hungernden wilde Raserei verraten. Oder ihre Gesichter seien von Erregung gezeichnet gewesen. Die katholischen Fastenregeln, also eine verminderte Nahrungsaufnahme – besonders von Fleisch –, zielen auch auf die Beeinflussung des Seelenlebens: Die sexuellen Triebimpulse sollen damit gemäßigt werden. Diese scheinen als große Gefahr wahrgenommen worden zu sein. So erklärt sich, dass es im Mittelalter dreimal im Jahr 40 Tage jeweils am Stück Fastenzeit gab. Zusätzlich kamen weitere, vereinzelte 40 Fastentage hinzu. Geschlechtsverkehr war an diesen Tagen streng verboten (Moulin 1989).

Ein bestimmter somatopsychischer Zusammenhang wird auch heute noch diskutiert: Der Einfluss von Lebensmitteln auf das sexuelle Verlangen. So gelten einige Lebensmittel als Aphrodisiaka: z. B. Austern und Trüffel (Bombosch 1998). Ebenfalls wird heute noch diskutiert, dass etwa der Genuss bestimmter Lebensmittel einen besseren Schlaf ermöglichen soll (Rodenbeck 2005).

2.4 Verhaltensmedizin

Die Verhaltensmedizin macht seit einigen Jahrzehnten der Psychosomatik Konkurrenz. Sie ist eine im Vergleich zur Psychosomatik relativ junge Disziplin und fußt auf dem eben erwähnten bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit und Krankheit. Sie untersucht die biologischen, psychischen und sozialen Faktoren, die zur Entstehung und/oder Aufrechterhaltung von Krankheiten beitragen. Im Gegensatz zur Psychosomatik, die eher psychoanalytisch fundiert ist, basiert die Verhaltensmedizin auf der Verhaltenstherapie. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Verhaltensmedizin auf der Ebene der Interventionen Prävention und Gesundheitsförderung mit einbezieht (Ehlert 2002). In den Anfängen der Verhaltensmedizin wurde bei der Abgrenzung zur Psychosomatik auch betont, dass die Verhaltensmedizin das menschliche Verhalten sehr viel stärker einbeziehen würde als die Psychosomatik (Miltner et al. 1986). Essstörungen stehen nicht im Zentrum verhaltensmedizinischer Forschung. Deshalb wird der Ansatz hier nicht weiter ausgeführt.

2.5 Zusammenfassung des zweiten Kapitels

Heutige Fragen zu Essstörungen basieren vielfach auf Problemstellungen der Psychosomatik und deren Weiterentwicklung – so etwa die Frage, ob der Bulimia nervosa eine typische Persönlichkeit zugrunde liegt. Die klassische Psychosomatik als Gegnerin der naturwissenschaftlichen Medizin versuchte zu belegen, dass bestimmte körperliche Beschwerden psychische Ursachen haben. Freud führte so körperliches Leiden wie Lähmungen oder Sehstörungen auf psychische Traumata oder psychische Konflikte zurück. In der Geschichte der Psychosomatik kristallisierte sich bald heraus, dass nicht nur die Psyche den Körper beeinflusst, sondern dass auch umgekehrte Wirkrichtungen bestehen. So gibt es Lebensmittel, deren Genuss stimmungsaufhellend sein kann (z. B. Schokolade). Oder es sind Drogen wie Kaffee oder Tee konsumierbar, die eine belebende Wirkung besitzen.

 

Diese beiden Wirkrichtungen, 1. Psyche – Soma, 2. Soma – Psyche, wurden bald ergänzt um eine dritte Dimension: die soziale. Damit wird angenommen, dass soziale Faktoren sowohl den Körper als auch die Psyche beeinflussen, wie umgekehrt psychische und somatische Prozesse Auswirkungen auf Soziales haben. Das bio-psycho-soziale Gesundheits- und Krankheitsmodell versucht diese ungemein komplexe Wechselwirkung zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren zu umreißen. Wie bedeutsam soziale Faktoren für Körper und Seele sind, wurde im ersten Kapitel veranschaulicht: Unterschiedliche soziale Lebenslagen spielen eine bedeutsame Rolle hinsichtlich dessen, wie gesund jemand ist und wie lange diese Person lebt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Konkurrenz zur Psychosomatik herausgebildet, die sich Verhaltensmedizin nennt und die verhaltenstherapeutisch fundiert ist.

2.6 Fragen zum zweiten Kapitel


Überprüfen Sie Ihr Wissen!

6. Was ist nach Freud eine Hysterie?

7. Wie beeinflusst die Nahrungsaufnahme die Psyche?

8. Wie lässt sich das bio-psycho-soziale Gesundheits- und Krankheitsmodell umreißen?

9. Welches Anliegen hat die Verhaltensmedizin?

10. Was bedeutet Erklären vs. Verstehen im Zusammenhang mit der Psychosomatik?