Fate of Whisky

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From the series: Lost Tales #2
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Stille.

Dann vernahm er das sanfte Rauschen von Blättern, Feuchtigkeit auf seinem Kopf, ein weicher, erdiger Boden unter seinen Händen.

Ich lebe.Vorsichtig sog Niko die Luft ein. Frische Waldluft, kühl und feucht. Kein Brennen in der Lunge, kein Geschmack von Blut, ich schätze, das ist gut. Er konzentrierte sich auf seine Beine und konnte beide spüren, ebenso seine Arme. Die Finger waren steif vor Kälte, das Kribbeln war unangenehm aber weniger schlimm als der restliche schmerzende Körper. Langsam rollte sich Niko auf den Rücken und blinzelte. Über ihm sah er den wolkenverhangenen Himmel und viele Baumwipfel. Er hatte kein Zeitgefühl, lag nur auf dem kühlen Boden, sah seinen Rucksack neben sich liegen und versuchte, ruhig zu atmen. Das plötzlich über ihm auftauchende Gesicht von Alison ließ ihn zusammenschrecken. »Wie geht es dir?« Niko wollte antworten, doch sein Hals war staubtrocken, mehr als ein Krächzen kam nicht heraus. Deshalb nickte er Alison nur zu. »Bleib einfach liegen. Ich werde mich umsehen, vielleicht haben wir Glück und finden etwas Wasser in der Nähe.« Niko fiel es leicht, zu gehorchen. Er wollte sich keinen Zentimeter bewegen. Kurz bevor er einschlief, erschien Alison wieder. »Wir sind sehr nahe an einem Bach. Hier trink.« Obwohl er wusste, dass frei fließendes Wasser zuerst gereinigt werden sollte, vertraute er auf die Sauberkeit des Flusses und nahm einen Schluck des eiskalten Wassers. »Wie geht es dir?«, fragte Alison erneut. »Ich bin gerade aus ein paar tausend Metern Höhe aus einem Flugzeug gesprungen, ohne Fallschirm. Dafür geht es mir recht gut.« Er benötigte noch einige Minuten, bevor er es schaffte, sich aufzusetzen. Alison saß vor ihm und sortierte einige Gegenstände, die Niko aus seinen Survivalpaketen kannte. »Du scheinst auf solche Abenteuer vorbereitet zu sein«, meinte Niko und versuchte sich zu strecken. Seine Arme schmerzten, aber er konnte bis auf kleine Schnitte und vielen Kratzern keine ernsthaften Verletzungen entdecken. Dafür spürte er einen Druck an seinem Oberschenkel. »Nein, Niko. Das habe ich aus dem Flugzeug mitgenommen.« Niko erinnerte sich an das gelbe Paket, welches sie ihm vor dem Ausstieg in die Hand gedrückt hatte. »Hast du Erfahrung mit Survivaltechniken?« »Nicht wirklich«, gestand Alison und händigte ihm das Paket aus. Niko sah verschiedene Beutel, die mit allerlei Nützlichen gefüllt waren. Er hatte davon gehört, dass es in Flugzeugen ein Survialpaket gibt, aber noch nie eines gesehen. Wahrscheinlich ist das nicht unbedingt eine Information, die man den Gästen direkt auf die Nase binden möchte, dachte er. Er sah an sich hinab und bemerkte, dass seine Hose heruntergezogen war. »Du hast eine tiefe Wunde am Oberschenkel. Sie hat stark geblutet, hat aber keine Arterie erwischt«, erklärte Alison. »Sicher?« »Ja, sonst wärst du schon verblutet. Ich habe sie desinfiziert und einen Druckverband angelegt. Mehr kann ich hier nicht machen.« Niko dankte ihr und öffnete seinen Rucksack. »Uhrzeit?«, fragte er. »Ich schätze mal früher Nachmittag.« Niko blickte in den Himmel, doch durch die dicke Wolkendecke war es schwer, den Stand der Sonne genau auszumachen. »Hast du dein Handy?«, fragte er weiter, den Blick in seinen Rucksack vertieft. »Das fliegt noch im Flugzeug mit. Und deines?« Niko zog sein Smartphone hervor, dessen Display vollkommen zerstört war. An einer Ecke fehlte die Verkleidung, ebenso Teile der hinteren Abdeckung. »Unbrauchbar.« Er nahm seine SIM-Karte und die Speicherkarte aus dem völlig zerstörten Telefon und verstaute sie in einer kleinen Tasche im Rucksack. Alison deutete auf das gelbe Paket bei Niko. »Ich habe bei den Notfallsachen eine Signalrakete gesehen. Wenn wir die zünden ...« »Treffen wir mit großer Wahrscheinlichkeit die Baumkronen und haben über uns ein nettes Feuer. Weißt Du, wo wir gelandet sind?« »Nicht genau. Soweit ich aus der Luft erkennen konnte, sind wir über Edinburgh hinweg geflogen. Das heißt, es war nie geplant, dort zu landen. Wir sind über einige Ortschaften gesegelt, allzu weit entfernt wird der nächste Ort nicht sein.« »Die Umgebung hier?« »Ich bin bis jetzt nicht viel herumgekommen, ich wollte dich nicht alleine liegen lassen.« Niko versuchte, aufzustehen. Der Schmerz schoss von seinen Beinen durch den ganzen Körper. Langsam und mit schmerzverzerrtem Gesicht zog er sich hoch. »Wann geht die Sonne unter?« »Du hast Fragen. Es ist September, wir sind nicht zu weit im Norden ... Ich würde sagen, früher als in Wien.« »Danke, das hilft uns weiter«, meinte er spöttisch, »Wir brauchen Wasser, Feuer und einen Unterstand, der auch nachttauglich ist.« Niko benötigte einige Minuten, bis er in der Lage war, klar zu denken und sich zu bewegen. Ihre Umgebung bot wenig Anhaltspunkte, es war kein Weg auszumachen, dem sie folgen konnten. Geräusche von Fahrzeugen oder Industrie waren nicht zu hören, dafür fanden sie in der Nähe einen kleinen Fluss. Da es immer wieder leicht regnete, entschloss sich Niko, zuerst einen Unterstand zu bauen. Er kramte ein schwarzes Taschenmesser aus seinem Rucksack hervor und reichte es geöffnet an Alison weiter. »Das ist aber ein großes Teil«, meinte sie anerkennend, als sie das Messer in der Hand hielt. Der Griff war nicht für zarte Hände konzipiert worden. »Du wirst schon damit umgehen können. Es hat einige nützliche Funktionen, wie einen Kompass im Griff, eine Säge, die auch den Namen verdient, eine kleine Lampe und eine Filetierklinge.« »Filetierklinge?« »Eine schlankere Klinge für Feinarbeiten.« »Jedenfalls sieht es scharf aus«, stellte Alison fest, die mit dem Finger vorsichtig über die Klinge strich. »Scharf und durch die Titanium Bonded Veredelung besonders hart und ...« »Okay, du kennst dich mit Messern aus, ich habe es verstanden. Was darf ich mit diesem edlen Teil machen?« »Trenn die Seile vom Schirm. Wir haben genug Material, um uns einen halbwegs trockenen Platz für die Nacht zu bauen«, erklärte Niko. »Hier? Mitten im Nirgendwo?« »Ja.« »Aber ...« »Die Alternative wäre, zur nächsten Ortschaft zu wandern. Du musst nur wissen, in welche Richtung und wie weit. Hast du beim Heruntersegeln etwas gesehen?« »Naja, es gibt ein Dorf in der Nähe. Aber ich kann nicht sagen in welche Richtung und wie weit entfernt wir gelandet sind. Ich hatte da noch jemanden in den Armen, den ich heil runterbringen wollte.« »Gutes Argument«, pflichtete ihr Niko bei. Humpelnd suchte er die nähere Umgebung ab, bis er einige Meter neben dem Bachbett eine geeignete Stelle fand. Eine ebene moosbewachsene Fläche mit einem umgeknickten Baum, über den er den Fallschirm spannen konnte. Mit Hilfe einiger Äste fixierte er den Schirm und verknotete die Enden mit den Seilen. Dabei musste Niko daran denken, dass er für solche Fälle sein Paracordarmband hatte. Da trage ich ein Armband, speziell für solche Situationen und dann lande ich in einer Survivalsituation mit genügend Paracordschnur.Er benötigte eine halbe Stunde, bis das Gerüst fertig war. Währenddessen befüllte Alison beim Bach die Wasserbeutel aus dem Überlebensset. Sie kehrte zurück und staunte über die Notunterkunft. »Sieht gut aus. Machst du sowas öfter?« »Mitten in einem Wald landen, ohne eine Ahnung, wo ich bin ... nein eher nicht.« Nikos Antwort klang bissig. Mit ruhigerem Tonfall sprach er weiter. »Ich weiß, was du meinst. Ja, ich interessiere mich für Survivaltechniken und habe einige Kurse besucht. Echte Notsituationen habe ich bislang aber nicht erlebt.« Er ordnete ihr an, nach kleinem, möglichst trockenem Holz zu suchen. Unterdessen kramte er in seinem Rucksack und dem Survivalpaket aus dem Flugzeug nach hilfreichen Utensilien. Als Alison mit einem Stapel dünner Ästen zurückkehrte, schlichtete Niko diese zu einem Haufen. »Und wie willst du Feuer machen?«, fragte sie skeptisch. Der dichte Wald schützte sie zwar vor dem Regen, aber dennoch war alles um sie herum feucht. »Damit.« Er zog aus dem schwarzen Taschenmesser einen kleinen länglichen schwarzen Stab heraus. Als er ihn über den Messerrücken strich, spritzen Funken von ihm ab. »Du bist ja bestens ausgerüstet«, staunte Alison. »Nicht, dass ich geglaubt hätte, es benutzen zu müssen.« Die Äste waren zu einer Pyramide zusammengeschlichtet. Aus dem umgefallenen Baum schnitt Niko einige Holzstücke heraus. »Die trockenen Teile der Rinde habe ich schon geholt. Diese Kienspäne aus dem abgestorbenen Baum sind ideale Anzündhilfen«, erklärte Niko. Tatsächlich schaffte er es binnen einiger Minuten, ein Lagerfeuer zu entfachen. Obwohl sie bislang nichts gesagt hatte, ließ sich Alison gleich neben dem Feuer nieder und wärmte ihre Hände. Die dichten Baumkronen über ihnen ließen nur einige Regentropfen hindurch. Niko nahm sich einen Wasserbeutel und drückte eine Tablette hinein. Auf Alisons fragendes Gesicht hin, erklärte er ihr: »Wasserentkeimung. Wir haben keine feuerfesten Behälter zur Hand. Für heute wird es reichen.« Er reichte Alison einen in Silberpapier verpackten Riegel. »Wir müssen etwas warten, kann können wir das Wasser trinken. Der Riegel ist dein Abendessen, genieß ihn.« Alison entschied sich, die Notfallration mit Niko zu teilen. Im Notfallpaket des Flugzeugs befand sich auch eine Kälteschutzdecke. Niko breitete sie aus und bot Alison an, sich damit vor der kalten Nacht zu schützen. Eine weitere Aludecke aus Nikos Rucksack verwendete er als Unterlage ihrer Unterkunft, »Wenn wir uns zusammenkuscheln, können wir beide sie nutzen. Komm her«, meinte sie und hockte sich nahe ans Feuer. Die Decke bot ihnen etwas Schutz vor dem Wind und auch das Feuer half, trotzdem zitterten Alison und Niko in der feuchten Kälte. »Du wirkst durchtrainiert und erfahren in diesen Dingen. Ist das der Grund, warum mein Vater dich als Aufpasser ausgesucht hat?«, fragte Alison. »Ich kenne deinen Vater nicht. Ich bin im Auftrag seines Anwalts in Wien hier. Es hätte auch nur ein Flug und eine Autofahrt zu deinem Schloss werden sollen, ohne ...« Die Erinnerung an den Sturzflug kam hoch und ließ Niko schaudern. Erst nachdem er mehrmals tief eingeatmet hatte, beruhigte er sich wieder. »Erzähl mir von dieser Legende, wegen der wir hier gelandet sind«, bat Niko nach einer Weile. Inzwischen war die Sonne beinahe untergegangen. Das Feuer sorgte für Licht und unter den Decken war die Kälte halbwegs erträglich. »Mein Vater ist Clan Chief, das Oberhaupt des MacHart Clans. Wie du weißt, einer der Geschäftszweige des Clans sind Edelsteine. Dieses Gewerbe gibt es bei uns seit einigen hundert Jahren. Aus dieser Zeit stammt auch die Legende. Es soll eine Höhle geben, in der alle hundert Jahre ein hohes Mitglied des Clans einen Stein aus Gold bekommt. Eine Höhle, die durch ihre Schönheit blendet. Für mich genauso interessant wie ein Straßenstein in Glasgow, aber was soll´s. Mit achtzehn Jahren bin ich in das Familiengeschäft eingestiegen, während mein Vater sich auf ein neues Gebiet begeben hatte. Er investiert in ein Gezeitenkraftwerk im Norden Schottlands. Das war auch der Grund für seine Geschäfte in Österreich.« Niko ließ Alison näher heranrücken, damit sie die Decke teilen konnten und von ihrer Körperwärme profitierten. Außerdem musste er zugeben, dass er im Moment die Nähe benötigte, um ruhig zu bleiben. »Erzähl mir mehr über diese Clanfehde. Es klang zwar, dass unser Abflug nicht beabsichtigt war, aber alleine die Androhung ...?« »Nun, fangen wir zuerst weit in der Vergangenheit an. Eine der bekanntesten Clan-Geschichten ist das Glencoe-Massaker von 1692. Kurz zusammengefasst, Robert Campbell of Glenlyon erhielt den Befehl, den Clan MacDonalds of Glencoe nahezu auszurotten. Er sollte sie überfallen und alle Personen unter siebzig Jahren hinrichten. Das Abscheuliche daran war die Tatsache, dass er die Tage zuvor mit den MacDonalds zusammensaß, Karten spielte und die Gastfreundschaft genoss. Bis heute ist ungewiss, wann genau er seine Befehle bekam. Jedenfalls führte er den Befehl aus. Es gab und gibt sogar einen eigenen Namen dafür, Mord unter Missbrauch des Vertrauens. Es kam nie zu einer Anklage und bis heute sind die MacDonalds nicht gut auf den Clan der Campbells zu sprechen. Soviel zur Geschichte. Diese Anekdote hat insofern mit meinem Clan zu tun, dass es den Wunsch gab, der Clan MacHart sollte die Campbells unterstützen. Der Clan Chief verweigerte die Hilfe, wie auch der Clan Remington. Soweit, so friedlich. Der tatsächliche Grund für die Nichteinmischung war aber, dass die beiden Clans, die geografisch nicht weit voneinander entfernt lebten, dieselben Interessen teilten. Auch die Remingtons waren Goldgräber und handelten mit Edelsteinen. Das sorgte nicht selten für Konflikte, auch kleinere Scharmützel sind dokumentiert. Über die Jahre wurde der Clan der MacHarts einflussreicher auf ihrem Gebiet und die Remingtons suchten sich neue Interessen. Bis es zu der Entdeckung der Höhle des goldenen Flusses kam. Zwei Freunde, ein MacHart und ein Remington, sollen sie zufällig gefunden haben. Beide Clans erhoben den Anspruch auf diese Höhle und, soweit ich es aus Erzählungen gehört habe, hat der Clan MacHart die Höhle eingenommen. Als Zeichen, dass sie den MacHarts gehört, wurde ein Schwert in der Höhle platziert. Es soll unser Clanzeichen tragen.« »Ich nehme an, niemand weiß, wo die Höhle ist, niemand hat das Schwert gefunden und die Remingtons wollen diesen Anspruch nicht anerkennen.« »Ganz genau. Viele Jahre war es ruhig. Aber in den letzten Jahren, unter der Führung eines neuen Clan Chief wurde diese Legende wieder ausgegraben. Es geht erneut um den Anspruch auf die Höhle, mitsamt dem möglichen Inhalt. Das Problem ist, dass mein Vater nie erfahren hat, wo sich die Höhle befindet. Wir haben im Castle ein paar Goldnuggets, aber keines ist jünger als hundert Jahre.« »Was genau soll sich neben dem Schwert in der Höhle finden?« »Ein Raum, der voller Edelsteine sein soll. Ich nehme an, dass eine offene Ader an dieser Stelle liegt.« »Eine offene Ader?« »Ja. Du kennst sicher diese Schmucksteine, meistens Amethysten oder andere besonders farbenkräftige Steine, die man hinstellen kann. Wenn man eine Ader freilegt oder das Glück hat, eine zu finden, sieht man dort die unbehandelten Steine, wie sie scheinbar aus dem Erdboden gewachsen sind. Genaugenommen entstehen Kristalle durch das aus dem Erdinneren aufsteigende Magma, wenn es unter großem Druck aufsteigt und abkühlt. Je nachdem um welche Kristalle es sich handelt, kann auch ein Druck- und Temperaturunterschied in bestehenden Gesteinsschichten dafür verantwortlich sein. Gold hingegen entstand vor Jahrmillionen durch astronomische Ereignisse, die ich dir jetzt nicht genauer erklären werde. Nur so viel, damals war die Erde noch ein leerer Planet und es kommt kein Gold nach, es wird nicht wie Kristalle neu gebildet.« Niko bemerkte, wie ambitioniert Alison bei dem Thema war. Er nickte nur und ließ sie weiterreden. »Also, eine Edelsteinader wäre nichts Ungewöhnliches. Selten ja, aber nicht unmöglich. Aber es gibt noch eine weitere Legende, die recht übertrieben bis unmöglich ist. Ein Fluss soll in der Höhle verlaufen. Bei einem Becken soll alle hundert Jahre ein Goldnugget im Wasser zu finden sein. Woher das Gold kommt, kann aber niemand erklären. Wie gesagt, Gold wächst nicht einfach so.« »Das ist der Grund für das Interesse der Remingtons, ein Fluss aus dem Gold entspringt?« »Genau. Ich kann dir die bisherigen Funde zeigen, es sind nicht gerade kleine Stücke. Es gibt also Beweise für Goldfunde, aber es wird nicht so sein, dass irgendwo hier in Schottland ein magischer Fluss Gold produziert.« Niko schüttelte den Kopf. »Wenn etwas an dieser Geschichte dran ist, dann hofft der Clan auf immensen Reichtum.« »Reichtum aus einer Höhle, die seit hunderten von Jahren den MacHarts gehört.« »Wenn man wüsste, wo sie ist«, gab Niko zu bedenken, »Okay, genug von Legenden, ruhen wir uns aus. Wir werden morgen dem Fluss folgen. Hoffentlich landen wir so in einer Ortschaft, von der aus wir Hilfe bekommen werden.« »Mir genügt ein Telefon. Mein Vater erwartet mich schon heute, also weiß er längst, dass etwas nicht in Ordnung ist.« »Das kannst du ihm dann morgen ausführlich erklären.« Niko nahm seinen Rucksack als Polster und lehnte sich damit gegen einen Baum. Der Regen setzte ein und ließ das Feuer ausgehen. »Hast du Angst im Dunkeln?«, fragte Niko. »Hier gibt es keine Geister, vor denen ich mich fürchten muss.« Alison nahm die Taschenlampe an sich. »Schlaf ruhig, Niko. Ich werde schon aufpassen.« Wieso passiert das gerade mir? Wieso schon wieder so ein junges Ding?Niko schloss die Augen, das Nieseln auf ihrem provisorischen Dach wurde leiser und er versank in einen tiefen Schlaf.

 

Jänner 1993

Eine Woche war vergangen, seit Julia und Niko ein Paar waren.

Zu ihrer Überraschung waren ihre Freunde nicht besonders neugierig gewesen. Außer einem kurzen Verhör durch die besten Freunde, war niemand an Details interessiert.

Das Wochenende stand bevor und Lorenzo, dessen Eltern immer wieder die Wochenenden in ihrer Heimatstadt in Italien verbrachten, lud zu einer Party in seinem Haus ein. Diese Samstagabende waren bekannt für laute Musik im großen Keller des Hauses, viel Alkohol und ausgelassene Stimmung bis spät in die Nacht.

»Mein Vater hat mir erklärt, bis 23 Uhr und keine Minute länger, sonst gibt es die nächsten drei Wochen keinen Ausgang für mich«, fluchte Julia, als Niko sie von der Straßenbahnstation abholte.

»Dann haben wir etwas über vier Stunden Zeit. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du pünktlich wieder zu Hause bist. Hausarrest geht überhaupt nicht, ich will dich ja nicht nur in der Schule sehen.«

Kaum öffneten sie die Tür zu dem zweistöckigen Haus von Lorenzo, schallte ihnen die Musik lautstark entgegen.

»Entweder sind die Nachbarn alle taub, oder das Haus hat richtig dicke Wände«, stellte Niko fest. Dabei musste er laut reden, um MC Hammers ›Can't touch this‹ zu übertönen. Schon im Vorraum warf man ihnen neugierige Blicke zu. Auch wenn ihre Freunde nicht nachfragten, in der Schule waren sie dennoch eines der derzeit interessantesten Gesprächsthemen. Nikos Bruder Stefanos kam ihm entgegen und begrüßte Julia.

»Hallo, ihr zwei. Viel Spaß in der Menge, ihr werdet begafft werden wie ein Promipärchen.«

Ausgerüstet mit je einer Flasche Bier gesellten sie sich zu den schon anwesenden Freundinnen von Julia. Niko entging nicht, wie sie ihn von der Seite musterten. Am liebsten hätte er Julia gepackt und vor aller Augen geküsst, damit dieses Versteckspiel beendet war.

Der große Kellerraum war mit Leuchtkugeln und großen Lautsprechern zu einer Disko umfunktioniert worden. In einer Nische war die Musikanlage aufgebaut, die nur Lorenzo benutzen durfte. Er hatte schon Erfahrung mit dieser Art von Partys. Jedem Gast war seine oberste Regel bekannt: Ausgelassen feiern, kein Problem. Aber es durfte nichts ruiniert werden, ansonsten war derjenige von allen weiteren Feiern ausgeschlossen, ein ganzes Schulleben lang. Da er häufig zu einer Wochenendfeier lud, wollte niemand es darauf ankommen lassen.

Niko gesellte sich zu seinen Jungs, die zum Teil schon über den Durst getrunken hatten und dementsprechend wackelig auf den Beinen waren. Es reichte aber noch, um zu den aktuellen Dancefloor-Hits auf die Tanzfläche zu gehen.

Eine Stunde später, in der sich der Keller gefüllt hatte und nur noch wenig Platz zum Tanzen blieb, stoppte die Musik.

»Genug gerockt und herum gehüpft. Lasst uns etwas kuscheln!«

An den Gesichtern der Gäste zeigten sich die unterschiedlichsten Reaktionen. Die Pärchen nahmen einander an der Hand und schlugen die Arme umeinander, die schüchternen Jungs verzogen sich schnell in die dunklen Ecken und widmeten sich lieber ihren Getränken. Ein paar Mutige suchten nach einer neuen Erfahrung und auch einige Mädchen hofften auf ein Angebot.

»Na, wo ist dein Rotschopf?«, wurde Niko gefragt. Er hatte Julia schon vor einiger Zeit aus den Augen verloren.

»Beginnen wir doch mit einem speziellen Song, ich widme ihn all den neuen Pärchen, für die das Jahr sicherlich noch einiges zu bieten hat!«, rief Lorenzo von der Musikanlage aus und startete einen Song, den Niko augenblicklich erkannte, auch wenn er ihn erst vor einer Woche zum ersten Mal gehört hatte.

If I should stay

I would only be in your way

Whitney Houstons ›I will always Love You‹ war gerade der Nummer-eins-Hit in Österreich, natürlich auch dank des Kinofilms.

Zwischen den Pärchen konnte er Julia entdecken, die etwas hilflos neben zwei Freundinnen stand und zu ihm blickte.

»Trau Dich, kleiner Bruder. Jeder weiß es, dann kann es auch jeder sehen, oder?«, ermutigte ihn sein Bruder mit einem leichten Stoß in den Rücken.

Niko musste ihm recht geben und ging zu Julia hinüber. Ihre Freundin drehte sich zu ihm und sah ihn mit einem wissenden Grinsen an.

»So, so. Habt ihr zwei es endlich geschafft«, meinte sie, doch Niko hatte nur Augen für seine Freundin.

»Willst du tanzen, Julia?«

»Auf jeden Fall! Vor allem zu dem Song«, antwortete sie und ließ sich an der Hand auf die Tanzfläche ziehen.

»Wir werden beobachtet«, stellte sie kurz darauf fest.

»Lass sie doch. Von mir aus kann jeder wissen, dass wir zusammen sind.«

Julia sah ihn kurz an, lächelte und küsste ihn dann lang und innig. Ab diesem Zeitpunkt war ihre Liebesgeschichte für alle anderen weit weniger interessant. Da es nun offiziell war, kümmerten sich alle wieder um andere wichtige Dinge.

Es folgte noch ein weiterer Lovesong, Bon Jovi mit ›Bed of Roses‹, den das Paar ebenfalls eng umschlungen auf der Tanzfläche verbrachte. Danach verschwanden Julia und Niko in einem der schier unzähligen Gästezimmer, bei denen Lorenzo vorsorglich die Zimmerschlüssel innen steckengelassen hatte. Denn auch dafür waren seine Partys bekannt.

---***---

Für Niko endete der Traum an dieser Stelle. Bislang war der Abend damals genauso verlaufen. Jetzt aber änderte sich sein Traum, denn kaum hatte er die Tür geschlossen, verschwand der Boden unter seinen Füßen und er stürzte ins Bodenlose. Das Schwarz um ihn herum verschwand und Niko befand sich wieder in der Luft, auf dem Sturz nach unten, ohne Fallschirm. Panisch sah er sich um, konnte aber weder Julia noch Alison entdecken. Rasend schnell kam der Boden näher, er wusste, dass ihn dieses Mal niemand retten würde. Die Bäume kamen ihm entgegen, bogen sich zur Seite und ließen ihn auf den harten Boden blicken, wo spitz aufgerichtete Steine ihm entgegenleuchteten. Ohne abzubremsen und laut schreiend krachte er in den Boden. Er sah seinen Körper, der wie eine überreife Melone explodierte.

»Niko! Niko!«

Heftiges Rütteln weckte ihn aus seinem Alptraum. Niko wollte aufspringen, spürte seine schmerzenden Beine und dann, dass Alison ihn festhielt.

 

»Ganz ruhig, es ist alles okay«, redete sie sanft auf ihn ein.

Erst jetzt bemerkte er, dass er am ganzen Körper zitterte, er war heiser vom Schreien und konnte sich nicht beruhigen.

Alison nahm ihn fester in den Arm und streichelte seinen Kopf.

»Ganz ruhig, großer Mann. Es ist alles vorbei. Es war nur ein Traum, du bist hier sicher.«

Das Bild verschwand nicht vor seinen Augen. Wie er in der Luft auf den Boden blickte, mit der Gewissheit, wie ein Stein aufzuschlagen.

Niko wollte sich losreißen, doch ihm fehlte die Kraft. So blieb er zitternd in Alisons Armen, nicht fähig zu reden, oder sich von selbst wieder zu beruhigen. Er spürte Alisons Nähe und die zeigte mit der Zeit Wirkung. Irgendwann wurde das Zittern weniger und Niko sank erneut in den Schlaf, dieses Mal ohne Träume.

Alison erwachte und stellte fest, dass sie alleine im Unterschlupf lag. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne war schon seit längerem aufgegangen und ein leichter, kühler Wind fuhr durch den Wald.

Die Feuerstelle neben dem Zelt war neu aufgebaut worden. Statt der Pyramide vom Vorabend war nun aus dickeren Ästen ein quadratischer Rahmen angelegt. In dessen Mitte lagen kleine Äste, Nadeln und Kienspäne. Ein flacher Stein lehnte an der Feuerstelle.

Sie stand auf und streckte sich durch. Sie vermutete Niko am Bach und machte sich auf den Weg durch das Moos und kleinere Büsche. Am Ufer des Baches sitzend fand sie Niko, geistesabwesend den Blick auf das Wasser gerichtet. Er bemerkte sie erst, als sie sich neben ihn setzte.

»Guten Morgen.«

»Morgen«, antwortete er leise.

»Wie geht es dir?«

»Viel besser. Dank dir.«

»Wirklich?«

Niko wandte den Kopf zu ihr.

»Es war keine angenehme Nacht, wie du sicherlich bemerkt hast«, gestand er.

»Es ist verständlich, nachdem was du gestern erlebt hast.«

»Keine Sorge, dafür wird jemand bezahlen.« Niko klang entschlossen.

»Wer ist Julia?«, wollte Alison nach einer kurzen Schweigepause wissen. Niko zog die Augenbrauen überrascht hoch.

»Du hast ihren Namen geschrien, mehrmals.«

»Eine Jugendliebe. Ich muss in letzter Zeit viel an sie denken«, erklärte er ihr.

»Wieso gerade jetzt?«

»Weil sie aus Schottland kam.«

»Erzählst du mir mehr?«, fragte Alison.

»Beim Frühstück«, antwortete Niko und deutete auf drei Fische, die er frisch aus dem Wasser geangelt hatte.

Alison war von Nikos Kochkünsten überrascht. Fachmännisch zerlegte er den Fisch auf dem flachen Stein und reichte ihr einen Trinkbecher mit eiskaltem Wasser. Schnell war das Feuer entfacht und Niko platzierte den Stein samt Fischfilets über die Flammen. Vorsichtig kostete sie ein Stück.

»No Bad«, meinte sie und fuhr im unverständlichen Dialekt fort, bis Niko die Hand hob.

»Du kannst mit mir englisch reden, aber bitte kein schottisch.«

»Ich habe nur gemeint, etwas Salz und Gewürze wären gut.«

»Die habe ich leider nicht im Gepäck.«

Auf Alisons Nachfragen erzählte Niko von den Anfängen der Beziehung mit Julia, wie er es bislang in den Träumen wieder erlebt hatte.

»... Ab diesem Zeitpunkt galten wir als das Traumpaar der Schule. Romeo und Julia haben sie uns genannt.«

»Das ist aber süß.«

»Wir waren jung, fünfzehn, sechszehn Jahre alt, und es war für uns beide die erste große Liebe. Da war noch vieles einfacher.«

Nach dem Frühstück wurde die Unterkunft abgebaut. Alles, was sie tragen konnten, wurde mitgenommen, um keinen Müll zu hinterlassen. Dabei fiel Alison auf, dass der Fallschirm weiter zerlegt worden war. Niko reichte ihr ein zusammengerolltes Bündel.

»Ich habe aus dem Schirm einen Regenschutz geschnitten. Wir werden es brauchen.«

»Aus dem Fallschirm?«

»Das Material für Fallschirme ist nicht nur äußerst leicht, sondern auch dichtgewebt. Es soll ja möglichst luftundurchlässig sein. Deswegen ist es auch feuchtigkeitsabweisend.«

Alison warf sich den Umhang über den Kopf. Die Kapuze war ihr viel zu groß, doch sie schützte sie vor dem wieder einsetzenden Regen.

»Und du bist dir sicher, dass wir nur dem Bach folgen müssen?«

»Es ist der einzige Anhaltspunkt«, Niko deutete auf den Kompass, der auf seinem Messer montiert war, »Wir werden nicht im Kreis gehen und müssen hoffen, dass der Fluss zu einer Straße oder einem Dorf führt.«

Da Alison keinen besseren Vorschlag anzubieten hatte, stimmte sie zu und folgte ihm. Ihre improvisierten Regenüberzüge schützten sie zwar vor dem Regen, der durch den dichten Wald hinabtropfte, dem eisigen Wind hatten sie nichts entgegenzusetzen. Um sich von den immer steifer werdenden Fingern und den wieder aufkommenden Schmerzen abzulenken, fragte Niko nach Alisons bisherigem Lebenslauf.

»Ich bin einen Großteil meiner Kindheit und Jugend bei meinem Onkel aufgewachsen. Mein Vater war so sehr mit seinen Geschäften beschäftigt, vor allem, nachdem meine Mutter überraschend starb. Im Schloss wurde ich meistens von einem Kindermädchen betreut. Die hieß übrigens auch Julia, wenn ich mich richtig erinnere. Bei meinem Onkel in Edinburgh sind die Schulen einfach besser gewesen, als auf dem Land und ein Privatlehrer kam nicht in Frage. Ich wollte ja auch unter Gleichaltrigen sein. Da mich Edelsteine schon immer faszinierten, war bald klar, dass ich ins Familienunternehmen einsteige.

Inzwischen bin ich für die Akquirierung neuer Händler zuständig. Dazu kann ich viel reisen, verdiene nicht schlecht und sehe viel von Europa. Außerdem kann mein Vater sich so auf seine neuen Aufgaben konzentrieren.«

»Was ist mit diesem anderen Clan?«, wollte Niko wissen.

»Die Remingtons? Heutzutage sollten diese Clandifferenzen kein Thema mehr sein, aber wie du selbst mitbekommen hast ...«

»Differenzen? Alles nur wegen einer Geschichte um eine Höhle.«

»Eine Höhle in der Gold und Edelsteine wachsen, angeblich.«

»Natürlich. Eine schöne Fantasie«, meinte Niko herablassend.

»Für mich schon. Aber sag das nicht meinem Vater. Er nimmt das Clanwesen sehr ernst. Er ist ja auch das Oberhaupt. Keiner widerspricht ihm, was er sagt, wird befolgt.«

»Das kommt mir bekannt vor«, fiel Niko ein.

Um die Zeit im Wald zu überbrücken und sich vom Nieselregen abzulenken, fragte Alison erneut nach Nikos Jugendliebe.

»Was willst du wissen?«

»Egal, erzähl mir etwas, was mich von der Kälte ablenkt.«

Nach kurzem Überlegen begann Niko zu erzählen.