Satzinterpretationsstrategien mehr- und einsprachiger Kinder im Deutschen

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From the series: Language Development #37
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Abbildung 2: Semantische und formale Prototypikalität von Agens und Patiens

In Hinblick auf das Deutsche findet sich eine Reihe von korpusanalytischen Studien, die entweder einzelne Eigenschaften aus der Übersicht oder das Zusammenspiel einzelner Merkmale untersuchen. So zeigen beispielsweise Bader/Häussler (2010) sowie Müller/Weber (2004), dass in SO-Sätzen das Subjekt (und dadurch in der Regel das Agens) definit, das Objekt (und damit das Nicht-Agens) hingegen indefinit ist.7 Die Belebtheitsdichotomie (Agens [+BELEBT] vs. Patiens [-BELEBT]) scheint ebenfalls ein typisches Merkmal von SO- und OS-Sätzen zu sein. Bader/Häussler (2010) kommen zum Beispiel zu dem Fazit, dass diese Dichotomie zu 60 % für SO- und 80 % für OS-Sätze gilt, sofern diese ein akkusativmarkiertes Objekt enthalten.

Mit Blick auf die Zuverlässigkeit, die die in Abbildung 2 gelisteten formalen Merkmale jeweils innehaben, muss die morphologische Markierung als diejenige herausgestellt werden, die am deutlichsten machen kann, ob eine NP eine agentivische oder nicht-agentivische Rolle kodiert. In Hinblick auf die Kennzeichnung nicht-agentivischer Rollentypen muss hierbei zwischen den Funktionen des Akkusativs und Dativs differenziert werden. Anders als der Akkusativ wird der Dativ prototypisch für die Markierung indirekter Objekte gebraucht, die wiederum in der Regel mit der semantischen Rolle des Rezipiens8 korrespondieren. Wie das direkte Objekt, tritt auch das indirekte Objekt immer in einer transitiven sowie auch ditransitiven Konstruktion auf und ist damit Bestandteil einer kausalen Handlung, die von einem prototypischen Agens ausgeführt wird. Langacker (1991: 327) unterscheidet deshalb zwischen dem Subjekt als source domain auf der einen und der target domain in Form eines direkten oder indirekten Objekts auf der anderen Seite. Im Kontext der Prototypikalisierung semantischer Relationen differenziert Langacker weiterhin zwischen direkten und indirekten Objekten als Repräsentanten passiver und aktiver Handlungsbeteiligter: „[A]n active participant is one that functions as an original source of energy and thereby initiates [Herv. i.O.] an interaction“ und kann letztlich als ein active experiencer definiert werden (Langacker 1991: 327). Typischerweise gehen dativmarkierte Objekte als Kodierungsformen eines Rezipiens mit Transferverben wie helfen und geben einher, die eine teilweise Aktivität des nicht-agentivischen Gegenübers implizieren.9 Anders als das Patiens kann das Rezipiens folglich agentivische Eigenschaften mitbringen, wie zum Beispiel das Merkmal [+BELEBT], sowie eine teilweise Selbstständigkeit und Involviertheit im Rahmen einer Handlung. Eine semantische Abgrenzung zwischen den eigentlich dichotomen Rollen Agens und Rezipiens kann somit nicht mittels klarer Grenzen im Sinne eines eindeutigen Belebtheitskontrastes erfolgen, sondern muss vielmehr im Kontext einer von Primus (2006) vorgeschlagenen involvement- beziehungsweise dependency-Hierarchie erfasst werden. Je höher der Grad des involvement, desto wahrscheinlicher ist die Realisierung eines Arguments als Agens. Je höher der Grad der dependency, desto eher handelt es sich um ein Patiens. Ein Rezipiens steht zwischen diesen beiden Extrempolen: Es ist weniger involviert als das Agens, jedoch auch weniger abhängig als das Patiens. Dadurch nimmt es semantisch gesehen Eigenschaften beider Rollen an. Entsprechend wäre das Rezipiens in Abbildung 2 zwischen den beiden Polen einzuordnen.

Anders als die klaren semantischen Oppositionen zwischen Agens und Patiens werden die Grenzen zwischen Agens und Rezipiens also merklich unschärfer, da beide prototypisch die Eigenschaft [+BELEBT] mitbringen. Dass das indirekte Objekt dem Subjekt jedoch trotzdem hierarchisch untergeordnet ist, wird wiederum durch eine entsprechende Satzposition sowie eine oblique Kasusmarkierung deutlich. Wie auch das Patiens, wird das Rezipiens in einer transitiven Konstruktion nämlich nach dem Subjekt realisiert, wodurch die kausale Relation zwischen den beiden Aktanten abgebildet wird. Zusätzlich wird das Rezipiens oblique markiert. Die overte oblique Kasusmarkierung im Dativ ist offenbar genau deshalb nowendig, weil die semantischen Grenzen besonders im Bereich der Belebtheit verschwimmen (s. dazu Kapitel 2.4).

Zusammengenommen existieren aus Sicht der Prototypentheorie abstrakte transitive Handlungsschemata, die in Form eines Satzschemas kodiert werden, in dem die Konstituentenabfolge N>N die kausale Relation zwischen Agens und Nicht-Agens repräsentiert ([+AGENS]>[-AGENS]). Diese natürliche Korrelation ist auch der Grund dafür, warum die Abfolge N>N sowohl im Deutschen als auch im Niederländischen und Russischen prototypisch die Konstituentenabfolge S>O beziehungsweise AGENS > NICHT-AGENS kodiert. In allen drei Sprachen implizieren die beiden nominalen Konstituenten zugleich eine prototypische Dichotomie zwischen einem belebten und einem unbelebten Aktanten. Die Korrelation zwischen semantischer Rolle und Konstituentenabfolge wird in Sprachen, die über ein Kasussystem verfügen, um prototypische Kasusmarker beziehungsweise Kasuskategorien ergänzt. Das Agens ist dabei in aktivischen Bedingungen nominativ-, die nicht-agentivischen Rollen akkusativ- oder dativmarkiert. Die konkrete Kasuskategorie (AKK vs. DAT) ergibt sich auf der Basis des Grads der Involviertheit des nicht-agentivischen Aktanten. Auch dies ist eine sprachübergreifende Tendenz, da die dahinterliegende Funktion semantischer Natur ist und somit losgelöst von einzelsprachlichen formalen Prinzipien greift. Semantisches Konzept, Satzstruktur und Kasusmarker sind letztlich in allen hier untersuchten Sprachen interdependent; die Abbildung semantischer Rollendichotomien erfolgt mithilfe dichotomer syntaktischer Positionen und morphologischer Formen. Die im Kontext von transitiven Handlungsstrukturen enthaltene Involviertheitshierarchie der beteiligten Aktanten ist eng verknüpft mit ihrer Belebtheitseigenschaft, wodurch auch spezifische Kasuskategorien mit spezifischen Belebtheitsmerkmalen korrelieren. Der Umstand, dass Sprachen wie das Deutsche oder das Russische sich sowohl syntaktischer als auch morphologischer Mittel zur Kodierung semantischer Rollenrelationen (= many-to-one mapping) bedienen (s. Kapitel 2.2), führt schließlich zu einer formalen Konkurrenzsituation, die sich auf die bereits skizzierte Variabilität der S>O-Struktur und damit auch auf die Validität des Satzschemas bei der Satzverarbeitung auswirkt. Bevor die Zuverlässigkeit der beiden Strukturen in Hinblick auf ihr Potential, semantische Relationen zu kodieren, aus einer Erwerbs- und Verarbeitungsperspektive näher beleuchtet wird, soll zunächst der Zusammenhang zwischen Kasusformen, Synkretismen sowie Belebtheitsmerkmalen im Kasussystem betrachtet werden. Dies ist notwendig, wenn erfasst werden soll, welche Funktionen L1- und L2-Sprecher mit spezifischen Kasusformen des Deutschen verknüpfen.

2.4 Synkretismen im Kasusparadigma – Zur besonderen Rolle der Belebtheit

Der Vergleich zwischen dem Deutschen, dem Russischen und dem Niederlän­dischen (Kapitel 2.2) hat gezeigt, dass alle drei Sprachen in unterschiedlichem Umfang über Synkretismen verfügen. Während der Formenabbau im Niederländischen am weitesten vorangeschrittenen ist, sodass im Prinzip im Bereich der Kasusflexion absolute Synkretie vorherrscht, findet sich im Deutschen und Russischen je nach Genus eine unterschiedliche Anzahl synkretischer Formen. Gemeinsam ist den beiden Sprachen der Formenzusammenfall von Nominativ und Akkusativ im Neutrum.1 Während dies im Deutschen auch für das Femininum gilt, sind im Russischen nur ein Teil der Feminina betroffen. Eine Sonderstellung nimmt in beiden Sprachen das Maskulinum ein. Im Deutschen sind alle vier Kasusformen formal distinkt, im Russischen entspricht der Akkusativ bei unbelebten Maskulina dem Nominativ. Eine morphologische Differenzierung des Akkusativs findet sich entsprechend nur bei belebten Maskulina.

Prinzipiell sind Kasussynkretismen ein typisches Charakteristikum indoeuropäischer Sprachen (vgl. Baerman/Brown 2013). Dabei kann angenommen werden, dass ein Formenzusammenfall jeglicher Art aus funktionaler Sicht eine semantische Korrespondenz der von der jeweiligen Form abgebildeten Inhalte impliziert. So geht Jakobson (1984) davon aus, dass synkretische Kasusformen im Russischen suggerieren, dass die von den formidentischen Markern gekennzeichneten Rollen eine semantische Ähnlichkeit aufweisen (s. auch Givón 1995). Müller (2004: 197) fasst diese These in Form des Prinzips „identity of form implies identity of function“ zusammen. Dabei stellt sich die Frage, warum sprachübergreifend NOM- und AKK-Formen häufig formidentisch sind, obwohl ihre Aufgabe darin besteht, die zwei semantisch maximal distinkten Rollen Agens und Patiens zu markieren. Eine mögliche Erklärung findet sich beim Blick auf die Genusklassifikation und die von ihr abhängigen Deklinationsklassen und Kasusformen.

Corbett (1991) zufolge leiten sprachübergreifend zwei Prinzipien die Genuszuweisung: semantische Faktoren und/oder die phonotaktische Wortstruktur. Zu den semantischen Faktoren zählt allen voran die Belebtheit, insbesondere die Differenzierung zwischen [+BELEBT] und [-BELEBT].2 Dahl (2000) nimmt an, dass grammatische Relationen dieser semantischen Dichotomie ‚gehorchen‘, sodass die These aufgestellt werden kann, dass nicht nur die Genusklassifikation, sondern auch das vom Genus abhängige Kasusparadigma und darin enthaltene synkretische Formen mit dem Konzept der Belebtheitshierarchie erklärt werden können.

 

Der Formenzusammenfall zwischen NOM und AKK im Neutrum ist ein typisches Charakteristikum indoeuropäischer Sprachen (vgl. Baerman/Brown/Corbett 2005, Krifka 2009, Wunderlich 2004; vgl. für einen Überblick über Typen von Synkretismen zum Beispiel Luraghi 1987 und Blake 22001). Bezogen auf den Einfluss der Belebtheit, ist dies darauf zurückzuführen, dass Neutra in der Regel unbelebt sind, was im Russischen für fast 100 % und im Deutschen für ca. 90 % der Neutra gilt (vgl. für das Deutsche Krifka 2009). Deutlich wird dies auch im Niederländischen, wo es eine Genusdifferenzierung zwischen Maskulina/Feminina (de) und Neutra (het) gibt. Corbett (1991: 102) sieht in diesem Nebeneinander zweier Genusklassen einen mit dem Englischen vergleichbaren Wandel zu einem semantisch basierten Genussystem, das zwischen belebten und unbelebten Aktanten differenziert. Het als Marker für Neutra wäre also mit dem Merkmal [-BELEBT] und de mit [+BELEBT] verknüpft. Durch das Merkmal [-BELEBT] stellen Neutra also in allen drei Sprachen einen idealen Kandidaten (oder ein Patiens-default, vgl. Bank 2007:5) für die Patiensrolle dar. Da die prototypische semantische Belebtheitsdistinktion zwischen Agens und Patiens innerhalb eines transitiven Satzes durch den Gebrauch eines Neutrums bereits abgebildet wäre, wird eine zusätzliche oblique Markierung des Patiens überflüssig. Der Verzicht auf eine oblique Kasusmarkierung bei Neutra ist im Zuge dieser Argumentation deshalb Resultat einer prototypischen Belebtheitsopposition in transitiven Bedingungen.

Bestätigt wird diese These durch Krifkas (2009) Hinweis darauf, dass zahlreiche Sprachen unabhängig vom Genus dazu tendieren, vor allem unbelebte Objekte morphologisch nicht zu markieren (vgl. auch Comrie 1989). Diesem Prinzip folgt auch das Russische bei der Markierung belebter und unbelebter Maskulina und Feminina. Im Maskulinum wird ein unbelebtes Patiens (und damit der Akkusativ) nicht markiert (zum Beispiel brat vidit stol-ø [(Der) Bruder sieht (den) Tisch]), ein belebtes hingegen schon (zum Beispiel bratNOM vidit mužčin-uAKK [Der Bruder sieht den Mann]). Gleiches gilt für Feminina der Klasse II (s. Tabelle 3, Kapitel 2.2).

Im Deutschen wird nicht zwischen belebten und unbelebten Maskulina differenziert; stattdessen wird das Maskulinum unabhängig von diesem semantischen Merkmal stets mit dem Marker den versehen, wenn es als Patiens realisiert wird. Die obligatorische oblique Kasusmarkierung ist ein Hinweis darauf, dass Maskulina im Deutschen dazu tendieren, belebt zu sein. Umgekehrt findet sich im femininen Paradigma genau wie im Neutrum keine oblique Form im Akkusativ. Analog zum neutralen Paradigma ist dies wiederum ein Hinweis darauf, dass Feminina ebenfalls größtenteils unbelebt sein sollten.

Dass diese Korrelation zwischen Belebtheit und Genus tatsächlich zu existieren scheint, zeigt Krifka (2009). Anhand einer Korpusanalyse kann er belegen, dass von den ausgezählten Types (bei einem Vorkommen von >2 Tokens) 30 % der Maskulina belebt sind, bei den Neutra und Feminina belebte Types hingegen einen Anteil von nur 9 % beziehungsweise 6 % ausmachen. Belebte Lexeme sind im Deutschen damit mit einer hohen Wahrscheinlichkeit maskulin klassifiziert. Hinzu kommt, dass Maskulina im Deutschen insgesamt deutlich häufiger vorkommen (45 %) als Feminina (30 %) und Neutra (20 %).3 Zu ähnlichen Folgerungen – jedoch nicht auf einer korpuslinguistisch angelegten Basis – kommen auch Eisenberg/Sayatz (2004). Bezogen auf die Korrelation zwischen Belebt­heitsmerkmal und semantischer Rolle sind Neutra und Feminina somit gleichermaßen dafür geeignet, als Patiens aufzutreten. In beiden Fällen ist damit eine oblique Markierung im AKK nicht notwendig. Die Belebtheitsdichotomie verteilt sich im Deutschen (ähnlich wie im Niederländischen) deshalb auf einzelne Genera (MASK = tendenziell [+BELEBT] vs. NEUT/FEM = tendenziell [-BELEBT]) und wirkt sich dadurch auch auf die formalen Merkmale des Akkusativs aus. Da Maskulina wiederum auch als Patiens auftreten können, müssen sie aufgrund ihrer Eigenschaft, prototypisch belebt zu sein (was wiederum in Hinblick auf die Patiensrolle als markiert zu werten ist), morphologisch durch einen obliquen Kasusmarker gekennzeichnet werden. Bank (2007: 5) resümiert dazu: „Markierte Bedeutungen werden mit markierten Formen verknüpft, unmarkierte Formen denotieren unmarkierte Bedeutungen.“ Bank verknüpft so eine semantische Markiertheit mit einer formalen, das heißt obliquen Markierung. Ist dies der Fall (also beim Marker den im Singular), so verweist die Form darauf, dass es sich um ein untypisches, da vermutlich belebtes Patiens handelt (zum Beispiel den Mann). Ist dies nicht der Fall (also bei dasakk und dieakk), so liegt ein typisches, da unbelebtes Patiens vor (zum Beispiel dasakk Fahrrad oder dieakk Tür).

Neutra und Feminina sind somit ideale Kandidaten für eine Patiensrolle,4 Maskulina sind eher untypische Vertreter für diese Kategorie. Aufgrund ihrer Eigenschaft, tendenziell belebt zu sein, fungieren Maskulina deshalb eher als Kandidaten für die Agensrolle. Diese wird wiederum besonders häufig in Form eines nominativmarkierten Subjekts und dadurch mit der Form der kodiert (vgl. dazu Gamper 2016.). Der kann somit als prototypischer Agensmarker verstanden werden. Für diese Annahme sprechen zwei Studien: Im Erstspracherwerb verwenden monolingual deutsche Kinder die Form der besonders häufig als Agensmarker (vgl. Bittner 2006), im Zweitspracherwerb werden die maskulinen Formen der und er auch dann überdurchschnittlich häufig zur Wiederaufnahme belebter Aktanten verwendet, wenn die Bezugs-NP nicht maskulin klassifiziert ist (vgl. Binanzer 2015). Dies ist wiederum ein Hinweis darauf ist, dass die Form der mit Belebtheit und damit potentiell auch mit Agentivität in Verbindung gebracht wird. Umgekehrt werden unbelebte Aktanten besonders häufig mit den neutralen Formen das und es wieder aufgenommen. Binanzers Ergebnisse bilden also ab, dass die Formen der und das in Hinblick auf ihre Funktionen maximal dichotom sind. Ersterer wird die prototypische Eigenschaft [+BELEBT], letzterer das Merkmal [-BELEBT] zugewiesen.

Die prototypische Korrelation zwischen einzelnen Kasusformen des Deutschen und ihren jeweiligen semantischen Funktionen ist in Abbildung 3 zusammengefasst.


Abbildung 3: Semantische und formale Prototypikalität von Agens und Patiens im Deutschen

Die Belebtheitshierarchie wirkt sich nicht nur unmittelbar auf die Genusklassifikation, sondern vor allem auch auf die Verknüpfung von einzelnen Formen und rollenspezifischen Funktionen sowie in der Folge auch auf die den einzelnen Genera zugrundeliegenden Kasusparadigmen aus. Belebtheit ist dabei ein typisches Merkmal von Maskulina und zugleich der Grund dafür, dass Nominativ und Akkusativ im maskulinen Paradigma formal different sind. Unbelebtheit korrespondiert mit den Genera Femininum und Neutrum und führt zu einem morphologischen Formenzusammenfall zwischen NOM und AKK. Insgesamt lässt sich also folgern, dass die Belebtheitsdichotomie von BELEBT > UNBELEBT die grammatischen Relationen auf semantischer (AGENS > PATIENS), syntaktischer (SUBJEKT > OBJEKT) und morphologischer Ebene (MASKULINUM > NEUTRUM/FEMININUM sowie NOM-AKK-OPPOSITION > NOM-AKK-ZUSAMMENFALL) determiniert (s. Abbildung. 3).

In Hinblick auf die Prinzipien von Form-Funktions-Paaren kann aus den bisherigen Ausführungen abgeleitet werden, dass Formen wie das, die und den in N>N-Sätzen in der Regel nicht nur satzfinal (beziehungsweise als N2) realisiert werden, sondern zugleich mit der Patiens-Rolle verknüpft sind. Alle drei Formen sind somit Indikatoren für Nicht-Agentivität. Umgekehrt verweist eine NP mit einer der-Form auf ein Agens. Dadurch ergibt sich zugleich, dass einzelne Formen in Hinblick auf die Kennzeichnung semantischer Relationen Prototypikalitätscharakter haben.

Die ‚Forderung‘ der Prototypentheorie nach einer vom Nominativ morphologisch distinkten Kasusform zur Markierung eines Nicht-Agens wird im Deutschen schließlich in allen drei Genera nur im Dativ realisiert. Gleiches gilt auch für das Russische. Für beide Sprachen lässt sich erneut die Belebtheitshierarchie als Erklärung anführen. Wie in Kapitel 2.2 ausgeführt, markiert der Dativ in der Regel ein Rezipiens. Die semantische Rolle des Rezipiens geht per definitionem mit dem Merkmal [+BELEBT] einher (vgl. auch Hopper/Thompson 1980). Da folglich innerhalb einer transitiven Satzstruktur die Belebtheits­opposition zwischen Agens und Nicht-Agens durch den Gebrauch eines belebten Rezipiens nicht mehr als Hinweis für die Unterscheidung der beiden dichotomen semantischen Rollen verfügbar ist, muss die morphologische Kasusmarkierung hier zum Einsatz kommen, damit ein Unterschied zwischen den beiden Rollen sichtbar wird.5 Das semantische Merkmal der Belebtheitsdichotomie ist somit die erste Differenzierungsstufe zur Unterscheidung zweier oppositioneller semantischer Rollen. Nur wenn diese nicht verfügbar ist (zum Beispiel bei Der Mann[+belebt] hilft dem Bruder[+belebt]), greift die Kasusmarkierung als Distinktheitsmarker.6 Anders als Bank (2007) behauptet, könnte im Dativ im Gegensatz zum Akkusativ damit nicht die semantische Markiertheit der Grund für eine formale Abweichung vom Nominativ sein (eine solche semantische Markiertheit liegt zum Beispiel bei einem belebten Patiens vor). Der Dativ verweist bereits prototypisch auf ein belebtes Rezipiens und wird trotz dieses prototypischen Gebrauchs formal in allen Genera vom Nominativ abgegrenzt. Dies geschieht wiederum deshalb, weil Agens und Rezipiens auf der Grundlage des Belebtheitsmerkmals innerhalb des transitiven Satzes nicht unterscheidbar sind. Die semantische Gleichschaltung erfordert eine morphologische Kennzeichnung, damit eine Rollenunterscheidung möglich ist. An der Stelle, an der Agens und Nicht-Agens nicht mehr durch die Unterscheidung [+BELEBT] und [-BELEBT] differenzierbar sind, sondern auf der Belebtheitsskala beide das Merkmal [+BELEBT] zugewiesen bekommen, ist das Kasusparadigma in jedem Genus maximal differenziert und die Formen dadurch transparent. Transparenz heißt wiederum, dass die Dativmarkierung in keinem Fall (und das gilt sowohl für das Deutsche als auch das Russische) dem unmarkierten Nominativ im jeweiligen Genusparadigma entspricht.7

Die Kognitive Grammatik versucht, Belebtheitseffekte als Erklärung für die Existenz von Synkretismen heranzuziehen sowie die Entstehung von Rollenhierarchien aus dem Blickwinkel einer satzbezogenen Perspektive zu greifen (vgl. auch Baerman/Brown/Corbett 2005). Rollenzuweisung entsteht im Kontext eines Handlungsrahmens, der die Aktanten in Hinblick auf ihren Involviertheitsgrad ordnet. Die Belebtheitsmerkmale sind dabei meist Resultat der an der Handlung beteiligten Aktanten. Da ihre Relationen jedoch prototypikalisierbar sind, gibt es automatisch auch eine Korrelation zwischen Aktanten und ihren Belebtheitseigenschaften. Die so aus der transtiven Perspektive hervogegegangen Relationen und Dichotomien bestimmen im Bereich der Kasusformen die Differenzierung zwischen morphologisch unmarkierten und markierten Formen, wobei letztere stest den formalen Kontrast zum Nominativ meinen. Basierend auf der Grundannahme, dass die Belebtheitsrelation innerhalb transitiver Strukturen (in Abhängigkeit vom jeweiligen Genus) die Kasusform mitbestimmt, wird so versucht, Formenzusammenfälle sowie formale Distinktheit innerhalb von Flexionsparadigmen zu erklären. Dabei muss angemerkt werden, dass kognitive Erklärungsansätze in diesem Bereich besonders für das Deutsche noch relativ am Anfang stehen. Die Annahme, dass sich die Belebtheit auf Flexionsparadigmen auswirkt, ist zwar alles andere als neu und zum Beispiel unter dem Begriff der differentialen Objektmarkierung für diverse Sprache (insbesondere für das Spanische) ausführlich dokumentiert (vgl. für einen thematischen Überblick zum Beispiel Aissen 2003), jedoch besonders für das Deutsche nur für eine Handvoll von Strukturen angewendet worden (dazu zählen zum Beispiel die schwachen Maskulina bei Köpcke (1995) sowie Banks (2007) Studie zu Pronomina im Deutschen).

Insgesamt hat aus funktionaler Sicht die Interdependenz zwischen Belebtheit, Genusklassifikation und Kasusmarkern eindeutig Einfluss auf Form-Funktions-Relationen sowie perspektivisch die Nutzung spezifischer Indikatoren für die Interpretation semantischer Relationen. Der Sprecher kann bei der Satzinterpretation nicht nur auf die lineare Reihenfolge der Konstituenten (das heißt die Wortstellung) zurückgreifen, um semantische Rollen zu identifizieren. Er kann daneben auch die Belebtheitsinformation und spezifische Artikelformen als Indikatoren nutzen. So wäre das Merkmal [-BELEBT] in Kombination mit dem Marker das ein guter Hinweis auf ein Patiens. Auch anhand des Merkmals [+MORPHOLOGISCH MARKIERT] lässt sich darauf schließen, dass die jeweilige NP mit großer Wahrscheinlichkeit eine nicht-agentivische Rolle markiert. Problematisch wird es, wenn der Sprecher einordnen soll, was [+MORPHOLOGISCH MARKIERT] denn tatsächlich heißt, da dieses Kriterium fest mit dem Genus verankert ist, von dem der Marker abhängt. So ist die Form der im femininen Paradigma ganz klar als morphologisch markiert und damit transparent einstufbar. Um diese Einstufung vornehmen zu können, muss der Sprecher jedoch wissen, dass das inhärente Genus des Lexems, mit dem die Form der auftritt, auch ein Femininum ist. Vor allem im Spracherwerb und insbesondere im L2-Erwerb, in dem die Aneignung der Genuszuweisungsprinzipien zu den größten Stolpersteinen gehört, ist das keine Selbstverständlichkeit.

 
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