Jesus und die himmlische Welt

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B) Aspekte der Forschungsgeschichte: Von der ‚konsequenten Eschatologie‘ zur ‚kultgeschichtlichen Betrachtung‘
1. Eschatologische Zukunft und religiöse Hochstimmung: die konsequente Eschatologie

Der Umbruch in der modernen Jesusforschung wird gewöhnlich mit dem Buch von Johannes Weiss ‚Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes‘, 1. Aufl. 1892, (2. Aufl. 1900) verbunden.1 Weiss übernimmt die systematisch-theologische Vorentscheidung der liberalen Tradition, wonach Jesus und das Christentum letztlich nur von der Reich-Gottes-Verkündigung her zu verstehen seien.2 Gegen seine liberalen Väter betont Weiss jedoch, dass das Reich Gottes kein sittliches Gut und keine die geschichtliche Entwicklung der Menschheit betreffende Größe sei, sondern als streng endgeschichtliches, nur zu erhoffendes, aus der Zukunft her kommendes, transzendentes, geschenktes Gut zu verstehen sei.

Dieser antiliberale Ansatz, den Weiss vor allem in der 1. Auflage programmatisch betonte, bleibt nun aber an zwei Punkten der älteren aufklärerisch-liberalen Tradition verhaftet:

Er übernimmt in der Grundlage doch das Programm einer Verortung der christlichen Religion in der menschlichen Geschichte. Transzendierend ergänzt er, dass das Reich Gottes in Jesu Verkündigung zwar der unverfügbaren Zukunft, jedoch grundsätzlich als eine dem menschlichen Geschichtsempfinden qua Antizipation zuwachsende Größe angehört.3

Mit dem grundsätzlichen Verbleib auf der Ebene eines linearen Geschichtsbildes gemäß aufklärerisch-liberaler Tradition hängt zusammen, dass Weiss Jesus weiterhin in den Bahnen der heroischen Vorbildchristologie sieht. Jesus lebe aus religiösen Stimmungen; er sei – gemäß der liberalen Propheten-Anschluss-Theorie – der größte Prophet;4 Weiss stößt im letzten bei Jesus auf religionspsychologisch zu deutende Phänomene, die in ihrem subjektiven Erlebnischarakter auch die von ihnen abhängigen Momente einer Gewissheit der Nähe des Reiches tragen. Auch Jesu Berufung und seine Gewissheit, dass er den Teufel zeichenhaft überwinden kann, ist religiöse Stimmung. Nur negativ gelte: Wie das Reich Gottes eine rein zukünftige Größe sei, so sei es Jesus verwehrt, seine messianische Würde außerhalb individueller religiöser Stimmungen5 zwischen Hoffnung und Glauben festzumachen. Auch die Aussage einer Vollmacht vom Himmel her, mit der Weiss für die hinter dem Tauf- und Verklärungsbericht stehende Wirklichkeit rechnet,6 bleibe eingefangen in die Spannung zwischen einer bloß subjektiven Gewissheit und dem ontologisch allein dominierenden Element endgeschichtlicher Erfüllung, in der die Transzendenz sich dem Maßstab irdischer Geschichtsevidenz anpassen wird.7

Weiss nennt exegetische Beobachtungen, die über die Vorentscheidung hinausweisen, letztlich die irdische Geschichtslinie zum Kriterium theologischer Evidenz zu machen. Das Reich Gottes sei ursprünglich Begriff himmlisch-transzendenter, kultischer Theokratie.8 Keine Religion könne auf Dauer ohne Qualifizierung der Gegenwart auskommen.9 Jesus und die neutestamentliche Zeit seien im Grund nicht an einem linearen Geschichtsbild orientiert, sondern an einem Himmlisches und Irdisches umfassenden Orientierungsrahmen.10 Diese ergänzenden Bemerkungen, die das Programm der ‚konsequenten Eschatologie‘ eigentlich in Frage stellen, kann Weiss verständlicherweise nicht positiv aufnehmen.

Forschungsgeschichtlich aufgenommen und weitergeführt wurde der eschatologische Ansatz bei W. Bousset. Bousset übernimmt in seinem 1904 erschienenen Buch zur Jesusfrage die Grunderkenntnis, dass Jesus auf zukünftiges Gericht und zukünftiges Heil verweise und dadurch die Gegenwart seines Auftretens zur Zeit der Scheidung mache. Dabei bleibt dieser, auch bei ihm streng eschatologisch-zukünftig gedachte, Ansatz verbunden mit einem liberalen, religiös-psychologischen und bei der Aufnahme der entscheidenden Begriffe höchst zeitgebundenen Jesusbild.11 Die Ankündigung der eschatologischen Wende realisiert sich bei Jesus folgendermaßen: „und in allem die starke, königliche Natur, das Bewusstsein, die Dinge zu Ende zu führen und das letzte, entscheidende Wort zu reden, diese Zuversicht der allernächsten Nähe seines himmlischen Vaters, die starke königliche Kraft, mit der er die Seelen der Seinen zwang und das Höchste von ihnen forderte …“12. Es ist auffällig, dass antiliberaler Impetus in der Darstellung des Reiches Gottes und ein betont religionsgeschichtlich-kritischer Ansatz sich mit einem für heutige Betrachtung äußerst unkritischen, zeitgebundenen Jesusbild verbinden können. In ihm scheint Jesus dem Ideal eines monarchischen Souveräns angeglichen. Sollte dies daran liegen, dass die rein zukünftige Fassung des Reiches Gottes keinen echten religionsgeschichtlichen und im tiefsten religiösen Bezugspunkt für die Beschreibung Jesu zulässt und deshalb die angeblich bei Jesus nicht vorhandene Kategorie der religiös gefüllten Gegenwart außerhalb exegetischer und theologischer Kontrolle eingetragen wird?

In seinem forschungsgeschichtlich bedeutenden Buch ‚Kyrios Christos‘ zieht Bousset weitere Konsequenzen. Während Jesus und die palästinische Urgemeinde für die jeweils kurze Zeitspanne ihrer Geschichte bei der brennenden und rein zukünftigen Naherwartung bleiben konnten, ‚füllt‘ die heidnisch-hellenistische Gemeinde vor Paulus die himmlische Welt mit dem Kyrios Jesus als ihrem Kultgott. Die palästinische Gemeinde lebte aus der reinen Zukunft des kommenden Menschensohnes, wobei der Himmel nur den bloß vorstellungsmäßig notwendigen Aufbewahrungsraum Jesu, jedoch keine irgendwie die Gegenwart qualifizierende Größe abgab.13

Boussets Arbeit ist damit über Weiss hinaus in mehreren Punkten interessant:

Die gegenwärtige Beziehung zur himmlischen Welt als religiös-soteriologischer Erfahrung, welche Weiss nur gegen seine Grundthese als irgendwie bei Jesus in gehobener Stimmung vorhanden bezeichnete, wird bei Bousset ganz dem (heidnisch-)kultischen Denken zugeordnet. Damit verschafft er sich die Möglichkeit, Jesus und die Urgemeinde streng eschatologisch zu deuten und sie zu befreien von solchen, die reine Zukünftigkeit der Erwartung auflösenden Motiven, wie Christologie, Wunder Jesu, Weissagungskraft Jesu und soteriologischer Deutung seines Geschickes.14 Das streng eschatologische und zugleich unchristologische Jesusbild muss offenbar in der historischen Analyse gestützt werden durch präsentische, himmlische, kultische Elemente der urchristlichen Religion.

Bousset verweist auf die Verbindung von Kultus, himmlischer Welt und präsentischer Erlösungserfahrung: auf den Gegensatz von Kultus und Eschatologie einerseits und den Gegensatz zwischen einem Bezug zum Himmlischen und eschatologischer Erwartung andererseits. Diese Gegenüberstellung hat sich in der Forschung zunehmend als einseitig erwiesen.15 Vor allem ist an Bousset die Frage zu stellen, ob ‚Kultus‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Himmel‘ vornehmlich heidnische Kategorien sind. Hat nicht auch der Jerusalemer Kult seine eigene Symbolik entwickelt, die ein Himmel und Erde umfassendes Weltbild und eine gegenwärtige Erlösungserfahrung ausdrückt? Stehen die palästinische Gemeinde und Jesus dem kultischen Denken des Tempels nicht historisch näher als den Mysterienkulten?

Wir halten fest:

Die konsequent-eschatologische Deutung der Jesus-Tradition kann die neu erkannte Bedeutung des transzendenten Charakters der Basileia nur negativ abgrenzen. Eine Pneumatologie, die geeignet wäre, auch für die Gegenwart (Jesu und der Gemeinde) eine positive Beziehung zum Reich auszusagen, ohne es in die Immanenz hinabzuziehen, fehlt im klassischen Ansatz von Weiss. Die konstatierten Phänomene religiöser Hochstimmung müssen theologisch irrelevant und unkontrolliert bleiben.

Die konsequente Eschatologie hat schon bei Weiss die Tendenz, sich auf eine endgeschichtliche Offenbarung zu beziehen, die sich schließlich doch dem Evidenzdruck immanenter geschichtlicher Erfahrung wird beugen müssen. Boussets Weiterentwicklung führt zur Konstruktion eines doppelten Ansatzes: Dadurch wird die konsequent-eschatologische Jesus-Deutung geschützt. Die religionsgeschichtlich unabweisbare Frage nach dem positiven, lebendigen Zentrum der urchristlichen Religion, welches allein sie hat zur geschichtlichen Größe werden lassen, wird beantwortet durch Hinweis auf den Kyrios-Kult der hellenistischen Gemeinde. Dadurch wird aber andererseits die palästinische Jesus-Tradition stark isoliert.

2. Die Lösung der Eschatologie von Raum und Zeit

Die konsequente Eschatologie versuchte, die Transzendenz des Reiches durch eine radikale Futurisierung zu sichern. Die dialektische Theologie, zumal in ihrer auf die Deutung der menschlichen Existenz bezogenen Ausformung, ist von dem theologischen Impetus getragen, die Transzendenz des Reiches nochmals gegen die in der alleinigen Futurisierung liegenden Gefahren zu schützen. Da hierzu die vor-moderne Kategorie des Himmels nicht mehr zur Verfügung stand, wurde eine neue Grenzlinie für den Einbruch der Transzendenz in die Immanenz gefunden: das Individuum in seiner Betroffenheit. Der streng eschatologische Ansatz bei Weiss, Bousset und Schweitzer1 steht an den Anfängen der dialektischen Theologie und der existentialen Jesus-Interpretation bei Bultmann.2 Um diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und damit die Forschungssituation – sofern sie von dieser Seite her bestimmt wird – zu erhellen, gehen wir ein auf das Jesusbuch von G. Bornkamm.3 Diese häufig abgedruckte Darstellung repräsentierte für eine lange Zeit, wohl wie keine andere, die Perspektiven und Ausdrucksmöglichkeiten der eschatologisch-dialektisch-existentialen Betrachtung Jesu. Auch Bornkamm setzt ein mit dem klassischen Topos einer Ankündigung der zukünftigen Weltenwende durch Johannes den Täufer und Jesus. Diese Ankündigung geschieht nun aber nicht als Einstimmung in eine brennende Naherwartung, sondern gemäß existentialer Interpretation als Ruf, der kommenden Weltenwende schon jetzt im Dasein Raum zu geben.4 Wie der Täufer durch die Taufe gleichsam die zukünftige Wende in die Gegenwart hineinhalte, so tut Jesus dies durch sein Wort und die helfende Tat.5 Die Interpretation Bornkamms hat also – anders als die ältere eschatologische Deutung – den Impetus, die Kategorie der Gegenwart hervorzuheben.6 Der Vorwurf Bornkamms an das Judentum, man habe sich zwischen Vergangenheit und Zukunft verloren,7 trifft auch die Jesus-Deutung der älteren, konsequent-eschatologischen Richtung.8

 

Wir bemerken, dass die Gewinnung einer theologisch relevanten Kategorie ‚Gegenwart‘ für die Forschung offensichtlich ein Problem ist: Für Weiss war die Bestimmung der Gegenwart in einem theologisch qualifizierten Sinn ein vom Ansatz her unlösbares Problem, da Jesu Verkündigung und Tun ausschließlich durch Bezug auf die zukünftige Wende als sinnvoll erscheint. Die Antizipation des Umbruchs ist gebunden an nicht eigentlich vermittelbare, religiöse Hochstimmungen Jesu. Bousset verwies auf den Kultus der heidenchristlichen Gemeinde als allererste Ermöglichung für die Erfahrung einer theologisch qualifizierten Gegenwart. Nach Bornkamms Darstellung hat sich nur der Täufer eines kultähnlichen religiösen Mittels zur Vergegenwärtigung der Ansage von Gericht und Heil bedient, während Jesus diese Vergegenwärtigung ohne bestimmbare, äußere, traditionelle, ja religiöse Kennzeichen bewirke: Weil er jede Legitimation für sich und seine Botschaft ablehne9, wird im Ganzen die Kategorie einer sich nicht weiter ausweisenden oder auch religionsgeschichtlich explizierbaren Unmittelbarkeit für Bornkamm zum Verstehensschlüssel für diese Vergegenwärtigung bei Jesus. „Immer ist die Wirklichkeit Gottes und Autorität seines Willens unmittelbar da und wird so zum Ereignis.“10 „Aus dieser Unmittelbarkeit des Ereignisses Gottes ergibt sich die erstaunliche Souveränität Jesu, mit der er … die Situation meistert.“11 Schimmert im Souveränitätsbegriff alte liberale Tradition noch durch, so macht Bornkamm diesen und den des Ereignisses fest an einem betont überweltlichen, übergeschichtlichen und deshalb unreligiösen Gottesbergriff.12 Der überweltliche Gott könne sich innerweltlich nur als Souverän erkennbar machen, der übergeschichtliche nur so, dass er nicht Teilhaber des menschlichen Geschichtsverlaufs werde, sondern in seiner übergeschichtlichen Macht je und je Augenblicke zum eschatologischen Ereignis werden lasse. Jesus partizipiere an der Souveränität Gottes; zu fragen, wie, das hieße etwas fragen, was die Souveränität der Offenbarung, ihre Überweltlichkeit und Übergeschichtlichkeit, aufheben würde. Deshalb betont Bornkamm: Anders als die Propheten lehne Jesus jede Legitimation für sich und seine Botschaft ab; es gäbe keine Berufungsgeschichte, keinen Prophetenspruch, keinen Rückgriff auf Entrückungen und Gesichte, keine Offenbarung der jenseitigen Welt, keine Einblicke in Gottes wunderbare Ratschläge.13

Bornkamms Interpretation – und damit die dialektisch-existentiale Jesus-Deutung in ihren Grundzügen – kann man forschungsgeschichtlich also charakterisieren als nochmalige Zuspitzung der eschatologischen Deutung seit Weiss. Gemeinsam ist die antiliberale Frontstellung, wobei Bornkamm den Vorgriff auf die reine Zukunft umdeutet in die Überweltlichkeit und Übergeschichtlichkeit Gottes und seiner Offenbarung. Während Weiss und die frühe Phase der Überwindung des Liberalismus also auf der Ebene der Geschichte als Bezugsbasis für Jesu Reich-Gottes-Predigt blieben und damit grundsätzlich auch in geschichtlichen, religionsgeschichtlichen und religiösen Kategorien, lässt Bornkamm, unter einem übergeschichtlichen Begriff des Reiches Gottes als der Nähe Gottes, die immer wieder an die Immanenz gebundenen Kategorien von Raum und Zeit hinter sich: Der nahe Gott ist im eschatologischen Ereignis der existentiellen Entscheidung jenseits von Zeit und Raum nahe.

Somit ergibt sich:

Die Bedeutung der Gegenwart wird – im Rahmen einer historischen Jesus-Darstellung! – durch die theologische Aussage der Nähe Gottes bestimmt und philosophisch als Ermöglichung von Entscheidung gefasst; sie bleibt aber religionsgeschichtlich ungedeutet. Hermeneutisch fehlt der Versuch, Jesus positiv aus seiner Zeit heraus zu verstehen.

Hatte der Liberalismus die Kategorie des Raumes aus seinem theologisch relevanten Weltbild entlassen und hatte die konsequent-eschatologische Exegese versucht, den immanenten Geschichtsprozess mit der Transzendenz des Reiches an einem rein zukünftigen Punkt kollidieren zu sehen, so löst sich die dialektisch-existentiale Interpretation ganz von einem religiösen, u.d.h. in der Anschauung von Raum und Zeit festgemachten, Bezugsfeld. Es entsteht die Gefahr, Jesus nicht wirklich geschichtlich zu verstehen; sie zeigt sich im wohl höchst zeitgebundenen und theologisch einseitigen14 Bild vom Souverän.

3. Das Ergebnis der religionsgeschichtlichen Betrachtung: Himmlischer Raum und eschatologische Zeit als Dimension des Kultes

Wer in Hinblick auf ein historisches Verständnis von Handlung und Botschaft Jesu nach einer religionsgeschichtlich verantworteten Aufnahme der räumlichen Kategorie ‚Himmel‘ und der durch sie bestimmten der Gegenwart – ‚das Reich Gottes ist nahe‘ – sucht, muss die Fragestellung der konsequenten Eschatologie und ihrer Nachfolger verlassen. Als forschungsgeschichtliche Alternative verbleibt der Ansatz der älteren religionsgeschichtlichen Forschung, die eine kultgeschichtliche Betrachtung des NT forderte.1

Schon in unserem ersten Hinweis auf Bousset wurde deutlich, dass kultische Frömmigkeit, mit der Bousset für die hellenistische Gemeinde rechnet, an einem grundsätzlich mehr vertikalen Weltbild ausgerichtet ist. Die Kategorien des ‚Himmlischen‘ und der aus dem Bezug zum Himmlischen qualifizierten ‚Gegenwart‘ gehören zu einer kultischen Weltdeutung.

Bousset dachte als religionsgeschichtliche Basis für den Christus-Kult des (hellenistischen) Urchristentums an die am Sterben und Auferstehen chthonischer Gottheiten orientierten Mysterien.

Andererseits partizipiert auch der Kult in Jerusalem an der Grundlage der Kult-Symbolik des Alten Orients. Im Bau des Tempels liegt eine kosmische Symbolik, so dass vom Tempel als dem Mittelpunkt des Kosmos Himmel und Erde als die beiden Sphären kultischen Weltverständnisses ineinandergreifen. Im Tempel ist gleichsam der Himmel auf Erden,2 hier ist der Zugang zu Gottes Heiligkeit.3 Entsprechend schrieb Lietzmann über den urkirchlichen Gottesdienst: „Das Herz des christlichen Lebens ist der Gottesdienst der Gemeinde. Da ist die Stätte, wo die Kräfte der jenseitigen Welt in die Christenheit einströmen und sie zu dem neuen Volk der Gotteskinder machen, das nicht mehr von dieser Welt ist, sondern schon hier in wundersamer Gemeinschaft mit den himmlischen Bürgern des Gottesreiches lebt.“4

Es ergeben sich aus dieser nur angedeuteten forschungsgeschichtlichen Konstellation für unsere Fragestellung folgende Grundprobleme:

Sind eschatologisch-geschichtliches und kultisch-räumliches Denken unvereinbar?

Steht das Kultverständnis der neutestamentlichen Gemeinde religionsgeschichtlich nur in Nähe zu den Mysterien oder kann man mit traditionsgeschichtlichem Nachwirken des Tempelkultes in Jerusalem und seiner Theologie rechnen?

Ist forschungsgeschichtlich der Versuch vorgezeichnet, die Jesusfrage von der kultgeschichtlichen Betrachtung her anzugehen?

Die kultgeschichtliche Betrachtung ging aus von einer Parallelisierung des urchristlichen Sakramentsgottesdienstes mit den hellenistischen Mysterien-Feiern. Die Mysterienkulte bildeten sich um die Verehrung chthonischer Götter. An deren den Wechsel der Jahreszeiten ausprägendem Vergehen und Wiedererstehen will der Myste Anteil bekommen. Es geht um die Befreiung von kosmischen Kräften und um die Versicherung eines Gott-gemeinschaftlichen Lebens im Jenseits. Ist schon das griechische Denken überhaupt an einem zyklischen Geschichtsbild orientiert, so verdichtet sich dieses in den Mysterien zu einer ausgesprochen individuell-soteriologischen Grenzüberschreitung. Sie ist unabhängig vom äußeren Weltlauf jederzeit möglich, sofern der Kultus mit seinem je eigenen Kairos dazu die Möglichkeit gibt.5 Das Denken der Mysterienkulte ist uneschatologisch.

Der Verweis auf die Mysterienkulte und ihre Bedeutung für die urchristliche Religion untersteht von Haus aus dem von F. Chr. Baur eingeführten Schema des doppelten Ansatzes, in dem sich die individuelle Vater-Frömmigkeit Jesu6 bzw. die eschatologische Frömmigkeit Jesu7 und der – auch in Bezug auf die Lehrbildung – geordnete Kult der hellenistischen Gemeinde gegenüberstehen. Die Spannung zwischen Juden- und Heidenchristen ermöglichte die Klarheit einer echten These-Antithese-Bildung. Diese Grundposition des klassischen ‚doppelten Ansatzes‘ wirkt bekanntlich nach bis hin zu Bultmanns Aufriss der Theologie des NT, ja seiner Eliminierung der zukünftig-eschatologischen Passagen im Johannesevangelium.

Kommt nach dieser These mit dem an den Mysterien orientierten Christus-Kult etwas Fremdes in das Christentum hinein, das ihm himmlische, uneschatologische, mystische und christologisch-dogmatische Perspektiven erschließt, so ist die kultgeschichtliche Betrachtung in einem anderen Zweig der Forschung gerade auf eine Harmonisierung von Jesus-Evangelium und Kultfrömmigkeit ausgerichtet gewesen. „Unsere heilige Urgeschichte hat in Wirklichkeit darin ihren inneren Fortschritt, dass die durch das Evangelium Jesu entstandene messianische Bewegung mit ihrer völligen praktischen Eingestelltheit auf das nahe Weltende und die nahe Zukunft des Gottesreiches sich zuletzt als Kult historisch konsolidiert, als Kult Jesu des Herrn; anders ausgedrückt: dass das Evangelium sich umsetzt in Christentum.“8 Das Christentum bildet sich nach Deissmann als Kult ‚reagierenden Typs‘, insofern der galiläische Fischer Simon durch Offenbarung am Messiasbewusstsein Jesu teilbekomme. Jesus selbst habe keinen neuen Kultus gestiftet, sondern die neue Zeit verkündet; aber durch sein gewaltiges Ich-Bewusstsein habe er gemeinschaftsbildend gewirkt und damit die Entstehung des Felsens ermöglicht, auf dem dann die Gemeinde entstand. Jesu eschatologisches Ich-Bewusstsein habe als gemeinschaftsbildendes kultinitiatorische Kraft gehabt, so dass von Anfang an, schon in der apostolischen Urkirche Palästinas, der Bezug auf Jesus den Messias kultisch ausgeprägt sei, wie es sich deutlich im palästinischen Gebetsruf „Maranatha“ zeige. Mit dieser von Deissmann als organische Entwicklung postulierten Bewegung kontrastiert nun jedoch, dass der Kultus selbst in seinen Denkformen ganz aus hellenistischer Tradition stammen soll: „Das Evangelium Jesu verbindet die Anfänge unserer Religion aufs engste mit seiner Mutterreligion, dem Judentum. Der apostolische Jesuskult wirft dann, eben mit dem Kultischen, wie es ihm eigentümlich war, ein jedenfalls dem amtlichen Judentum wesensfremdes Element in den Schmelztiegel … Durch das Kultische tritt die andere der providentiellen Kräftegruppen der praeparatio evangelica in schöpferische Tätigkeit: die antike Welt der ‚Völker‘.“9

Deissmann behält also die grundlegende religionsgeschichtliche Herleitung des Christus-Kultes aus den Mysterien bei und bleibt damit auch bei dem theoretischen Gegensatz von Kultus und Eschatologie stehen. Was nach dem klassischen ‚doppelten Ansatz‘ des Evangeliums sauber auf zwei Gemeinde-Typen und Epochen verteilt wurde, erscheint hier als bereits im palästinischen Christentum verschmolzen. Deissmann baut dabei auf zwei Voraussetzungen: Jesu messianisches Ich-Bewusstsein wirke gemeinschaftsbildend und dadurch kultinitiatorisch; ferner sei Palästina zur Zeitenwende bereits so stark hellenisiert, dass man auch hier die jenseits des Judentums stehenden, hellenistischen Kultformen gekannt habe. Kultus und Eschatologie bleiben also religionsphänomenologisch in einem Gegensatz, der im NT ausnahmsweise überwunden werde.

Auch A. Schweitzer ist um eine Versöhnung der angeblichen Gegensätze Eschatologie und kultische Mystik bemüht.10 Die Mystik des Apostels Paulus, die er zentral in der Aussage des ‚Seins in Christo‘ findet, gründe in der Eschatologie Jesu und in der der vorpaulinischen Gemeinde. „Die Eschatologie unternimmt ja die Aufhebung der Transzendenz. Sie lässt die natürliche Welt durch die übernatürliche abgelöst werden und dieses Ereignis in dem Sterben und Auferstehen Jesu seinen Anfang nehmen. Ist es da nicht denkbar, dass einer spekulativen, in eschatologischer Erwartung glühenden Betrachtungsweise die beiden Welten für den Augenblick, in dem sich die unmittelbar einsetzende Ablösung vorbereitet, ineinandergeschoben erscheinen?“11 Durch die brennende Naherwartung erscheinen also diese und die zukünftige Welt gleichsam als obere und untere auf einander zugeschoben, so dass die eschatologische Naherwartung der zukünftigen Welt sich realisiere als mystisches Eindringen in die zukünftige als obere Welt. Die Sakramentsmystik des Paulus sei also eine Zuspitzung der alten Eschatologie Jesu. Dieser Prozess, dass Mystik aus eschatologischer Erwartung entsteht, ist auch für Schweitzer etwas religionsgeschichtlich Einmaliges.12 Zwar kommt die Sakramentsmystik des Paulus in auffällige Analogie zur Mystik der hellenistischen Mysterienreligionen, doch hängt für Schweitzer an dieser religionsgeschichtlichen Analogie nicht viel, da Paulus den Symbolismus der Mysterien nicht aufnehme und eben im Gegensatz zu den Mysterien eschatologisch denke.13 Eine gewisse religionsgeschichtliche Vorläuferschaft für die paulinische Verschmelzung von Eschatologie und Mystik sieht Schweitzer in den Apokalypsen Baruch und Esra, die die prophetische Messias- und die apokalyptische Menschensohnerwartung zur Abfolge zweier Epochen ordneten.14 Paulus übernehme diese doppelte Eschatologie, die er aber im Sinne einer einmaligen Lehre der doppelten Auferstehung umforme: Auch die Teilhaber am vorübergehenden messianischen Reich seien bereits, sakramental, in der Seinsweise der Auferstehung.15 Zum Teilhaber an dem messianischen Reich Christi werde man im sakramentsmystischen Zustand des Seins in Jesus, der Lebende und Verstorbene von der übrigen Welt seinsmäßig trenne.16 „Erlöst sind für ihn die Gläubigen dadurch, dass sie in der Gemeinschaft mit Christo durch ein geheimnisvolles Sterben und Auferstehen mit ihm schon in der natürlichen Weltzeit in den übernatürlichen Zustand eingehen, in dem sie im Reich Gottes sein werden.“17

 

Über Deissmann und Schweitzer hinaus hat K.L. Schmidt den Versuch unternommen, Mystik und Eschatologie einheitlich zu verstehen und diese Verbindung auf Jesus zurückzuführen. Beides gehöre von Anfang an zusammen: Vom Täufer bis zur Joh. Apok. sei die neutestamentliche Gemeinde eschatologisch ausgerichtet.18 Ja, von Jesus bis zur Joh. Apok. sei zugleich eine visionäre und mystische Bezugnahme auf das Himmlische gegeben.19 Schmidt bleibt in der religionsgeschichtlichen Analyse dennoch dabei stehen, dass grundsätzlich die mystischen Elemente zum hellenistischen Charakter des Urchristentums gehörten.20 Dass beide Elemente ineinandergriffen, ja dass sogar schon Jesus jenseits von Eschatologie, Ethik und Mystik stünde, ist religionsgeschichtlich für Schmidt nicht weiter zu erhellen.

G. Bertram ist innerhalb der kultgeschichtlichen Betrachtung des NT unter geschichtsphilosophisch-methodischen Aspekten zu einer Kritik des Historismus gekommen: Eschatologische Erwartung und gegenwärtiger Heilsbesitz lägen für die urchristliche Kultgemeinde ineinander.21 Bertram konfrontiert dieses zugleich eschatologische und mystische Geschichtsempfinden mit unserem landläufigen, rationalistischen Geschichtsverständnis, das in begrifflichen Gegensätzen und in einem diachron-teleologischen Entwicklungsdenken sich bewege.22 Mit der kultgeschichtlichen Betrachtung ist aber nach Bertram durch den ihr vorgegebenen Gegenstand eine ‚Übernatürliches‘ einschließende Geschichtskonzeption gefordert, da rational-immanenter Historismus den ständigen Bezug zum Himmlischen nicht aufnehmen könne.23 Bertram scheint diese Verbindung von Eschatologie und Mystik und damit das Zusammenfallen von Aspekten, die normaler historischer Betrachtung auseinanderfallen, letztlich hermeneutisch im lebensphilosophischen Sinne zu verstehen: Es sei in dieser Verbindung enthalten ein Hinweis der Urgemeinde, ja Jesu selbst, auf die Unergründlichkeit und das Geheimnis des eigentlichen Lebensprozesses.24 Da wir auf Bertrams kultgeschichtliche Jesusdeutung unten nochmals eingehen werden, halten wir als Eigenart der Bertram’schen Betrachtung fest seinen Hinweis auf die phänomenologisch konstatierbare Eigenart, dass kultische Reflexion der Gemeinde in ihrem transzendenten, mystischen Zug die Immanenz, die diachrone Teleologie und die rationale Verkettung der Ereignisse aufbreche.25 Diesen Zusammenhang von Eschatologie und Mystik im Kultus bestimmt Bertram nicht eigentlich religionsgeschichtlich. Er will die Gegenüberstellungen in der ‚normalen‘ Forschung (Bousset, Heitmüller, Bultmann) durch einen der inneren Gesetzmäßigkeit kultischen Denkens abgelauschten Begriff höherer Einheitlichkeit überwinden. Dabei begreift er den urchristlichen Kult nicht als religionsgeschichtlich abgrenzbares Phänomen, sondern als Grund und Ausdruck der psychologischen Einstellung der Gläubigen.

Einen Ansatz zur Überwindung des Gegensatzes von eschatologischer und kultischer Frömmigkeit hat nicht zuletzt J. Weiss aufgewiesen. Schon in der 2. Aufl. von „Jesu Predigt vom Reiche Gottes“ nennt er neben der Eschatologie stehende religiöse Grundmotive, die für die Gegenwart Erfüllung vom Himmel her bedeuten.26 In seiner 1913 veröffentlichten Untersuchung zum Problem der Entstehung des Christentums deutet Weiss auf die Religion der Synagoge hin, welche in Gebeten und Schriftlesungen den Glauben an Gottes gnädige Nähe zum Ausdruck bringe und eine, in gewisser Weise, sogar mit Heil gefüllte Gegenwart für den Frommen erschließe. „Aber, wie gesagt, schon lange vor der Entstehung des Christentums hat dieser eschatologischen Stimmung eine Gegenwartsfrömmigkeit entgegengewirkt, die streng genommen zu ihr in Widerspruch steht. Denn wer schon im gegenwärtigen Leben die Hilfe und Gnade Gottes erfährt und auf sie vertrauen gelernt hat, der hat damit den metaphysischen Dualismus und die Spannung auf die Zukunft im Grunde überwunden.“27 Weiss leitet diese Beobachtung, die ihm dann auch für das Verständnis der Urgemeinde und Jesu wichtig wird, aus der Synagogenfrömmigkeit ab. Er weist damit auf einen wesentlich anderen kultgeschichtlichen Hintergrund für die Verbindung von Eschatologie und Mystik hin: Hinter der Synagoge wird die Frömmigkeit der Tempelgemeinde sichtbar.

Die kultgeschichtliche Betrachtung als ein Fundament der Formgeschichte hat offenbar in ihrer ersten Blütezeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die innere Dynamik entwickelt, den Gegensatz von Eschatologie und Mystik zu entschärfen und für die Urgemeinde und Jesus sogar als in nuce aufgehoben zu postulieren. Der eschatologische ‚Ausbruch‘ bei den ‚Konsequenten‘, den J. Weiss und A. Schweitzer selbst mit der urchristlichen Kultmystik in Einklang zu bringen suchten, hat im Wesentlichen über Bultmann die folgenden Jahrzehnte neutestamentlicher Forschung in Deutschland bestimmt. Dieser von Bousset und Bultmann gegen den Hauptteil der kultgeschichtlichen und formgeschichtlichen Betrachtung des NT durchgehaltene Gegensatz von Eschatologie und Kultmystik hatte auf seiner Seite die angeblich rein hellenistische Basis des urchristlichen Kult- und Sakramentsverständnisses und die Logik des älteren Baur-Harnack’schen Geschichtsverständnisses der dialektischen Entwicklung. Es bleibt aber festzuhalten, dass die genannte kult- und formgeschichtliche Forschung zu einem theologisch, christologisch und historisch wesentlich einheitlicheren Bild des NT tendierte, welches im Urchristentum von Anfang an ‚Mystik‘ als Umgang mit dem Himmlischen neben die eschatologische Erwartung stellte und beide in einem sich gegenseitig verstärkenden und durchdringenden Verhältnis sah.